Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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14.

Der Tiergarten brauste, in seiner Tiefe grollte es wie die Brandung des Meeres. Die Wipfel mahlten in der Finsternis, und zuweilen peitschte ein Zweig ohne 87 jeden Grund rasend den Himmel. Ohne Aufhören floß der Regen herab.

Finsternis, kein Licht weit und breit. Doch halt, im Hause des Generals wurde nun ein Fenster hell. Es war das Fenster gleich rechts vom Hauseingang, Ottos Zimmer.

Der Morgen war nahe.

Am Rande des Tiergartens stand ein Schutzmann in seinem Regenmantel. Er horchte. Ein Schuß –? Er schabte mit den schweren Stiefeln auf dem Pflaster und ging ein paar Schritte über die Straße. Er blickte hinüber zu den Gärten, hinter denen die Regierungsgebäude liegen. Vielleicht hat sich jemand in den Regierungsgebäuden erschossen? Ein Minister? Wie? Wie? Und doch ein Schuß, sagte der Schutzmann und zog sich tiefer in das Dunkel des Tiergartens zurück. Jede Nacht erschoß sich hier jemand – ein Soldat, ein Bankrotteur, ein Verschmähter. Der Schutzmann bohrte seine Augen in den finstern Park und versuchte mit seinem Polizistenblick das Dunkel zu schrecken.

Immer noch war Ottos Zimmer, gleich rechts vom Hauseingang, hell erleuchtet. Immer noch sang melancholisch der Regen.

Nun aber dämmerte Licht auch in den Gemächern links vom Hauseingang. Die Türe zum Schlafzimmer des Generals wurde geöffnet, und ein Schleier von Licht drang durch die Gardinen.

Da erschien die breite Gestalt des Generals in der lichten Türe. Der General war im Schlafrock und taumelte schlaftrunken. Er verlor immerzu die zinnoberroten Pantoffeln, während er in sich das Vorderzimmer tastete. Ein Schatten kroch vor ihm her.

»Wie sagst du –?« Er räusperte sich, seine Mundhöhle war ausgetrocknet, denn der General schlief mit offenem Munde und schnarchte. »Verletzt, sagst du –?« Er bemühte sich, die Schnur des Schlafrocks zuzuziehen, um sich 88 nicht zu erkälten. Schon wieder hatte er einen Pantoffel verloren und tastete mit dem nackten Fuße danach.

»An der Hand – der Herr Oberleutnant –.«

»Man sollte doch meinen, daß er mit Schußwaffen umzugehen versteht!« schrie der General den Burschen an. Eigentlich hätte er dies Otto sagen sollen, aber in derartigen Augenblicken wandte er sich mit Vorliebe an Untergebene.

»Mache Licht!«

Zornrot ragte der Kopf aus dem fleischfarbenen Schlafrock. Auch dieser Schlafrock zeigte karmesinrote Aufschläge, nicht so groß wie der Mantel, aber von der gleichen Farbe.

»Beim Packen also –? Was soll das Gestotter!«

»Der Herr Oberleutnant wollte den Revolver in die Kiste schieben, da ging er los – ganz von selbst. Er ist schon einmal losgegangen.«

Mit wütenden Schritten ging der General durch die Zimmer. Der fleischfarbene Schlafrock wehte. Plötzlich aber hielt er den Schritt an und tastete mit der Hand gegen einen Türrahmen. »Ein Glas Wasser, Jakob«, sagte er. »Und dann – hörst du – wecke meine Tochter, sofort – aber nicht du sollst sie wecken – sondern wecke Therese, und Therese soll meine Tochter wecken. Wangel soll sofort das Auto holen.«

Das Blut war aus seinem Kopf gewichen, er war totenbleich geworden. Er taumelte ein paar kleine Schrittchen rückwärts, bis seine Hand eine Stütze an einem Sessel fand. Der Atem pfiff in kurzen Stößen aus seiner Brust.

»Und nun also ein Glas Wasser!«

Der General hatte nur einen flüchtigen Blick durch Ottos halboffene Tür geworfen. Otto stand gestiefelt und gespornt, rasiert und frisiert, fix und fertig zur Abreise. Auf dem Boden lag die gepackte kleine graue Offizierskiste. Er sah völlig nüchtern aus, gesammelt, ohne jede Spur von Betrunkenheit.

Und dann ein Handtuch – zusammengerollt, wie ein 89 blutiger Klumpen . . . Es war eine Schwäche des Generals, daß er kein Blut sehen konnte. Es war ihm immer peinlich gewesen – im Felde, wo es sich doch nicht vermeiden ließ – aber es war eine Schwäche, die er schon in der Kadettenzeit gehabt hatte. Es war ganz hoffnungslos, dagegen anzukämpfen.

Man hörte Therese an Ruths Türe pochen. Man hörte sie halblaut rufen. Dann ging die Türe. Therese verschwand in Ruths Zimmer und kam nicht wieder.

Nun?

Endlich – nach langer Zeit kam Therese wieder zum Vorschein. Ihre Miene war verstört. Hilflos blieb sie an der offenen Türe stehen. Therese – sie hieß gar nicht Therese, aber sie wurde, seit sie im Hause des Generals lebte, so genannt, sie hieß Ernestine – Therese war, wie häufig, von ihrer Angst vor dem General gelähmt. Sie fürchtete ihn für gewöhnlich, sie ließ sich nicht gerne in ein Gespräch mit ihm ein, lebte für sich in den hinteren Räumen und kam nur selten nach vorn. Aber bei besonderen Ereignissen steigerte sich ihre Furcht zum Entsetzen. Und in diesem Augenblick erschien ihr der General wahrhaft erschreckend – in seinem fleischfarbenen Schlafrock und den roten Pantoffeln. Ihre Augen zerrannen vor Ratlosigkeit, ganz wie seinerzeit, als sie vor dem Gericht aussagen sollte. Damals, als der General den Prozeß führte und man sie kreuz und quer über alles Mögliche ausforschte. Damals, als es keine Ruhe mehr im Hause des Generals gab, nur Tränen. Therese fühlte, daß wiederum etwas nicht in Ordnung war.

Der General aber starrte sie an, er begriff nicht. Sein Schnurrbart zitterte, und Therese, die dieses Anzeichen sehr gut kannte, machte eine verzweifelte Anstrengung zu sprechen. Ihr altes Gesicht legte sich in tausend Runzeln und kleine Falten, als ob sie weinen wollte. Die Finger zupften an den rasch übergeworfenen Kleidern. 90

»Ruth ist nicht hier.«

Der General hatte nicht recht gehört.

»Sie ist nicht in ihrem Zimmer.«

»Nicht hier –?«

Aber gerade in diesem Augenblick wurde seine Aufmerksamkeit auf ein Geräusch an der Türe gelenkt. In der Türe der Diele drehte sich ein Schlüssel, und er wartete voller Spannung, was nun geschehen würde. Zuerst erschien also eine kleine Hand, in grauen Handschuhen. Dann der braune Pelzbesatz eines Ärmels, und schließlich stand Ruth in voller Person mitten in der Türe. Auf ihrer kleinen, braunen Pelzmütze lagen Regentropfen. Ruth erschrak nicht. Ihre braunen Augen, die weichen, leuchtenden Augen der Sommerstorf, waren voller Erstaunen auf den General gerichtet.

Dann aber begannen ihre Blicke sich langsam mit Unruhe zu füllen. Das Leuchten erlosch, sie wurden dunkel. 91

 


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