Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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9.

Seht, ein Mensch! Er steht gegen ein Haus gelehnt und weint!

Plötzlich aber weicht das Haus zurück – sollte man es für möglich halten – ein vierstöckiges Haus weicht dem Druck eines schmalen Rückens? Er weicht zurück, und der Mensch stürzt der Länge nach zu Boden. Sein Zylinder rollt, rollt in unendliche Fernen.

Schon kommen die Kinder. Ein Zylinder! Sie spielen Fußball damit. Welches Gelächter! Aber die Kinder, selbst sie, haben Mitleid, nicht mit dem kleinen alten Mann, sondern mit dem Zylinder.

Ein Junge bringt ihn zurück. Der kleine alte Mann kramt in der Tasche, sucht einen Groschen – aber plötzlich läuft er in einer unverständlichen Kurve über den Fahrdamm und rennt gegen das Pferd einer Droschke, das selbst Mühe hat, sich auf den Beinen zu halten. Die Peitsche flitzt durch die Luft. Und die Kinder kreischen vor Vergnügen.

Herr Herbst lag in seinem Bett und röchelte im Halbschlaf. Nacht, Finsternis, er hatte keine Lust zu erwachen. Wie lange war er unterwegs gewesen, wo hatte er getrunken, wie lange hatte er geschlafen? Er wußte es nicht, wollte es auch gar nicht wissen. Nur schlafen. Schmach, Schmach, nichts als Schmach, sobald er erwachte. 202

Stimmen raunten hinter der Wand, zischelten, flüsterten. Wie in jeder Nacht wanderte Hähnleins Schritt ruhelos hin und her. Wie lange werden sie es noch ertragen? dachte Herr Herbst in seinem Bett. Nicht mehr lange! Er lauschte auf die raunenden und zischelnden Stimmen, labte sich an dem fremden Elend, um nicht an seine eigene Verzweiflung denken zu müssen.

Hähnlein rief Gott zum Zeugen an, daß dieses Leben selbst ein Hund nicht länger ertragen würde. Er hatte Dienst, Dienst, immer Dienst, seit drei Jahren, zweimal verwundet, und seine Frau nähte sich die Augen blind. Und seine Frau hustete nachts die ganze Wand voll Blut. Und während er Dienst machte, verhungerte seine Familie zu Hause. Seine Frau hatte auf Zeitungen entbunden, verlassen, hilflos, wie ein Tier in einem Winkel. Nicht einen Tropfen Milch, nicht einen Teller Suppe, nichts. War das Gerechtigkeit? War das möglich überhaupt? Ja, eine Milchkarte hatte sie gehabt, aber keine Milch, so war es! Und die Kinder, drei und vier Jahre alt, sie konnten noch nicht einmal gehen, die Knochen waren krumm gebogen, die Schädel ganz weich. Was für eine Welt war das? Aber die kleine Zinnkanne, die hatten sie abliefern müssen, sonst hätte man sie eingesperrt. Und die Kinder schliefen auf Papier und Lumpen. Wo war man? War man noch auf der Erde oder schon in der Hölle?

Nein, nicht mehr lange!

Hähnleins heisere Stimme glitt in die Ferne, tiefer röchelte Herr Herbst, gleichmäßiger, der Schlaf wollte wieder zurückkehren.

Da sah er – in verschwommenen Umrissen – die entsetzlichen Wogenberge aus erstarrtem Schmutz wieder, mit den zersplitterten Baumstrunken und dem schmalen Laufgraben, der sich zwischen den Wogenbergen verlor.

Er ächzte und drehte sich auf die andere Seite.

Aber auch hier waren sie, diese entsetzlichen Wogenberge. 203 Nur – siehe da! – sie waren nicht mehr starr, sie regten sich, bewegten sich. Erdschollen schoben sich in die Höhe – Rücken, Arme, Hände, Beine wurden sichtbar – in verschwommenen Umrissen – was war das? Sieh nur schärfer hin, und du wirst es erkennen. Ja, es waren Menschen! Deutlich zu sehen, lehmbeschmierte Menschen, Soldaten, die von den Lehmbergen verschüttet waren und sich stumm und verzweifelt abmühten, sich aus der Erde zu wühlen.

Er ächzte und setzte sich im Bett aufrecht. Da sah er Robert vor sich, und Robert trug einen solchen zerfetzten Lehmberg auf dem Rücken, und der Lehmberg preßte ihn zu Boden.

»Ich ertrage es nicht mehr!« schrie in diesem Augenblick Hähnlein. »Um Christi willen!« wimmerte die Frau und hustete.

Robert war verschwunden. Dunkelheit, Nacht, dort das Fenster, das Zimmer war leer.

Herr Herbst wischte sich den Schweiß von der Stirne.

»Schmach, nichts als Schmach . . .«

Er kroch unter die Decke, und nun kam der tiefe Schlaf über ihn. – –

Spät an diesem Abend, es war nahe an Mitternacht, kehrte der General von Dora zurück. Er brummte gutgelaunt vor sich hin. Wie gewöhnlich hatte Doras Frohsinn ihn aufgeheitert. Auch der Spaziergang durch die Nacht hatte ihm gutgetan.

Wie ein Bad wirkte die Heiterkeit dieser Frau auf ihn. Wie ein erfrischendes Bad! Wunderbar – ihr Lachen – nichts nimmt sie tragisch, eine Künstlernatur, eine Philosophin! Wir Männer dagegen . . .

Ja, Dora, sie allein verstand es, das Leben zu nehmen, man konnte lernen von ihr – obschon sie nur eine Frau war, ja –

Kaum aber flammte das Licht in seinem Arbeitszimmer 204 auf, so erinnerte er sich wieder an die peinliche Szene von heute nachmittag, und augenblicklich war seine gute Laune wieder verschwunden.

Das höhnische Lächeln, der höhnische Blick des kleinen geistesgestörten Mannes schwebten noch irgendwo in der Luft des Zimmers. Ich weiß, sagte das höhnische Lächeln auf den dünnen Lippen, weiß, aber ich spreche nicht. Wie heute nachmittag legte sich das fahle kleine Gesicht zur Seite, das eine Auge wurde größer als das andere, das Lid zog sich in die Höhe, und dieses größere Auge blinkte von Spott und Hohn.

Unruhe erfüllte den General.

Nein, kein Zweifel, dieser kleine Geistesgestörte war im Besitze eines Geheimnisses, das Ruth betraf. Der Ausdruck seiner Augen war nicht mißzuverstehen. Vielleicht eines Geheimnisses, das Ruth, das die Familie kompromittierte? Unverständlich war ihm in diesem Augenblick seine Tochter, rätselhaft, fremder als der fremdeste Mensch, den er nie in seinem Leben gesehen.

Morgen würde er mit Ruth ein ernstes Wort sprechen! Ihre Eigenwilligkeit verriet einen bedauerlichen Mangel an Pflichtgefühl ihrer Familie, dem Geschlechte der Hecht-Babenberg, gegenüber. Es gab schwerlich eine Verbindung, die das Ansehen der Familie mehr gehoben hätte, gesellschaftlich und materiell, als die Heirat mit Baron Dietz, der eine blendende Laufbahn vor sich hatte. War es nicht auffallend, der Krieg schien die Grundpfeiler des Gesellschaftsgebäudes zu erschüttern? – Allenthalben ähnliche Symptome – Mißheiraten, Eheirrungen, Scheidungen – der Oberst Schulendorf, zum Beispiel, kommt nach Hause und findet –Skandal! Bredows Sohn hat sich im geheimen trauen lassen, er fällt, plötzlich meldet sich die Witwe – eine völlig unbekannte Person, frühere Schauspielerin, stellt Forderungen. Allein im Rheinsbergschen Familienverband zwei Scheidungen in kurzer Zeit. 205

Ja, auffallend, Hunderte von Beispielen fielen ihm plötzlich ein – allein aus dem Kreise seiner Bekannten. Erschreckende Symptome der Zersetzung. War die Generation der Größe der Zeit nicht gewachsen?

Keine Nachsicht mehr, nein, nein, morgen, sobald sich die Gelegenheit bietet, werde ich mit ihr sprechen.

Und dieser alte Mann? Lassen wir ihm seine Freude. Nichts wird ja leichter sein, als Aufklärung zu erhalten, jede gewünschte Aufklärung.

Schon einmal hatte er – früher . . .

Der General machte Toilette für die Nacht. Nachdenklich musterte er Hände und Gesicht, jede Falte.

Mehr Bewegung – und alles war in Ordnung!

Schon schlief er.

 

Schwere Kämpfe! Außerordentlich schwere Kämpfe!« Mitten in der Nacht setzte sich Herr Herbst plötzlich im Bett auf und knarrte mit breiter, selbstgefälliger Stimme: Schwere Kämpfe, außerordentlich schwere Kämpfe!

Warte nur, du Hoffärtiger! Warte nur. Hüte dich – ein alter Mann – aber hüte dich –!

Dann sank er wieder in Nacht und Bewußtlosigkeit, zusammengerollt zu einem kleinen Kleiderbündel.

Am Nachmittag schien die Sonne ins Zimmer, aber immer noch lag das kleine Kleiderbündel regungslos auf dem Bett. Erst gegen Abend fing es an, sich unruhig zu bewegen. Die Hände zerrten an der Decke, zogen sie dicht um den Körper. Der Schläfer fror. Kälte, schreckliche Kälte hauchte von dem Gebirge aus, das er erblickte. Ein Strom von Eis. Nacht, Winter, wie? Und er kniete vor dem Gebirge und erstarrte, während er die Hände ausstreckte. Nun schien es heller zu werden, es tagte, die Sonne schien aufzugehen. Das Gebirge begann allmählich zu erglühen, es glühte rot, nur Stein, zerrissen, verwittert. 206

Plötzlich aber verschoben sich Felsen, Riesenblöcke zitterten – das Steingebirge wandelte sich zu einem Gesicht.

Der Schläfer erbebte. Deutlich fühlte er, daß er bald aus der Bewußtlosigkeit auftauchen würde. Nur noch eine Idee brauchte er höher zu tauchen, und schon würde er an die schwarze, schwere Schicht von Schmach stoßen, die auf ihm lastete. Zu spät! Sie sank herab zu ihm, die schwere Schicht von Schmach, berührte ihn, drückte ihn zu Boden.

Da! Er war wach. Der barmherzige Rausch war verflogen. Und da war sie wieder . . .

Betäubt saß er da. Es dunkelte schon.

Schmach, nichts als Schmach!

Er war gedemütigt worden, zertreten, zu Boden geworfen und mit den Füßen getreten. Schwere Kämpfe, außerordentlich schwere Kämpfe – Tausende, Hunderttausende – – ja, man hatte ihm einen Sessel angeboten, ihm ein Bild gezeigt – trotzdem! Worin aber bestand die Schmach eigentlich, wie?

Nein, nicht das war es, daß er gerufen hatte: Hinaus mit Ihnen, oder ich lasse Sie abführen.

Das nicht, nein. Schlecht hatte er sich ja benommen.

Trotzdem: zu Boden geworfen und mit Füßen getreten.

Horch! Stimmen. Sie sind da, die jungen Leute – bei ihm! Und da, da – hörst du? Laut und erregt schwirrten die kecken, jungen Stimmen nebenan.

Aufrecht saß er im Bett und hielt den Atem an.

Ja, auch sie war da!

Hoffärtiger – nichts als ein alter Mann – vielleicht bereust du noch, wer weiß es? – Und du –Sanfte, Bleiche – deine sanften Augen werden weinen müssen – es muß sein –

Plötzlich erstarrte er vor Entsetzen. Eine laute verzweifelte Stimme gellte durch das Haus. Hilfe! Hilfe! Es war Frau Hähnlein. 207

Sofort schwiegen die schwirrenden Stimmen nebenan. Eine Türe schlug, Schritte eilten. Eine Faust pochte gegen Hähnleins Türe, und Ackermanns Stimme fragte: »Was gibt es?«

»Nichts, nichts, Ackermann!« antwortete Hähnlein mit einem keuchenden, verlegenen Auflachen. »Meine Frau ist erschrocken. Sie dachte – nichts, nichts –« 208

 


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