Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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12.

Sind Sie es, Otto?«

»Ich dachte schon die Polizei kommt. Sie machen wieder einen solch furchtbaren Lärm.« 76

Ströbel öffnete seinen Gästen selbst. Er hatte nach zehn Uhr keine Dienstboten mehr im Hause, um gänzlich ungeniert sein zu können.

Wüster Lärm drang aus der Wohnung. Das ganze Haus bebte. Dieser Herr Ströbel – oder Herr v. Ströbel, niemand wußte es genau – besaß vor dem Kriege nichts als ein paar gutsitzende Anzüge, darunter einen schwarzweiß karierten Sommeranzug, der so auffallend war, daß man sich heute noch an ihn erinnerte, einen Zylinder und einige Paar sehr elegante, etwas dandyhafte Schuhe. Das war alles, was er besaß – dazu Beziehungen.

Heute war er reich, er hatte eine Motorenfabrik, und seine Beziehungen waren noch besser geworden.

Er war auch kurze Zeit im Felde – aber das war eine Geschichte für sich . . .

»Welch abscheuliches Wetter«, rief Otto aus und schüttelte sich. Seine Augen flackerten vor Unruhe.

»Das Wetter ist nicht das Schlimmste«, erwiderte Ströbel, der sich in einen Sessel der Diele geworfen hatte und die Lackschuhe gegeneinander klappte. »Es ist die Finsternis! Eine nordische Stadt ohne Licht – wie stellen Sie sich das vor? Es ist ein schlechter Scherz! Eine nordische Stadt ist der Finsternis abgerungen und das Produkt des Lichts. Das Licht gab ihr Inspiration, Energie, Laune. Im Süden – Sie waren nie im Süden? – da braucht man kein Licht – Himmel, Sterne. – Aber hier oben? Ohne Licht sinkt eine nordische Stadt wieder in Bedeutungslosigkeit zurück. Verdunkeln Sie London und es wird ein armseliger, kleiner Fischereihafen –.«

»Nennen Sie Berlin eine nordische Stadt?«

»Natürlich. Es fiel früher nur nicht auf. Jedenfalls aber – schlimm, Otto, schlimm! – geht diese Stadt vor die Hunde. Ja vielleicht ist es schon so weit – wir wissen es nicht mehr –«

Otto schrak zusammen: Drinnen fiel ein Schuß. Geschrei. Händeklatschen. 77

»Wird bei Ihnen geschossen?«

»Ja, die Feuerwalze ist hier, produziert sich als Kunstschütze. – Sie kennen ihn doch? Hauptmann Falk.«

Der Qualm, die Gesichter, der wilde Lärm – von Otto wich augenblicklich alle Unruhe. Jene unvergeßliche Szene glitt ihm durch den Sinn: in der Nacht, bevor das Regiment ins Feld rückte, hatte einer der Kameraden, ein Hauptmann Below – lange tot, und zwar als erster gefallen –, der sich vom Liebesmahl früher zurückziehen wollte, eine Droschke ans Kasino bestellt. Man kaufte dem Kutscher höchst einfach die Droschke ab! Diese Droschke wurde bei der Steintreppe aufgestellt, die fünfundzwanzig Stufen tief vom Kasino in den Park hinunterführte. Freiwillige vor! Augenblicklich war die Droschke überfüllt. Wie ein Schwarm hingen die Kameraden auf dem Gefährt. Ein kleiner Schwung, und die Fahrt in die Tiefe begann. Die Droschke zersprang in tausend Stücke, aber nichts passierte.

Sie alle indessen – von allen Offizieren des Regiments lebten nur noch sechs, zwei davon waren Krüppel.

Mit strahlender Miene trat Otto ein, bereit, sich kopfüber in den Strudel der Fröhlichkeit zu stürzen und jede Ausgelassenheit mitzumachen. Wohltuend schlug ihm die Atmosphäre der Kameradschaftlichkeit entgegen. Hier kannte man ihn. Hier wußte man zum Beispiel, daß er 1915 einen französischen Offizier, der verwundet zwischen den Stellungen liegengeblieben war, trotz aller Knallerei in den Graben geschleppt hatte – nicht aus Barmherzigkeit, nein, nur um zu zeigen, was für ein Bursche dieser Hecht-Babenberg war!

Welche Gesellschaft! Fast alle ergraut, fahl und erschöpft. Hauptmann Wunderlichs helle Katzenaugen blinkten, die Krücken lehnten wie immer hinter seinem Sessel. Ein schwarzer Glacéhandschuh über der Holzhand. Ein junger, totenbleicher Leutnant mit schräggeneigtem, verbundenem Kopf, aus dem Lazarett entsprungen. Ein Herr im 78 Smoking, blond und schön, den leeren Ärmel in die Tasche geschoben. Auch einige geschorene Billardkugelköpfe mit Knollen am Schädel waren da, Majore, Hauptleute. Aber sie waren in der Minorität. Ein grünes Gesicht, mit Monokel, selbst ein Blinder saß da, vergnügt ins Licht blinzelnd. Otto erblickte auch einige Offiziere seines Vaters: den Adjutanten Weißbach, den hünenhaften Major Wolff. Viele von ihnen waren dreimal, fünfmal verwundet gewesen, morgen konnte die Reihe wieder an sie kommen. Der Krieg zog sich hin.

Alle aber waren in angeregter Stimmung, und auf ihren fahlen, zerfurchten, verwüsteten Gesichtern lag ein leichtsinniger, kindlicher Ausdruck.

»Also hier ist er – hier kommt er!« schrie Hauptmann Falk Otto entgegen. Dieser Hauptmann Falk, mit dem sonderbaren Spitznamen »Feuerwalze«, war ein kleiner, klapperdürrer Mensch, rothaarig, mit staubgrauem Gesicht – nur um die Augen zogen kranke gelbe und olivgrüne Ringe. Er sprach hastig und mit einer hohen Kehlkopfstimme, die unangenehm und herausfordernd klang. Wie Hauptmann Wunderlich, der Menschenjäger, trug er den höchsten Kriegsorden. Er war ein verwegener Bursche, hatte die schlimmsten Tage an allen Fronten mitgemacht, und für die, die ihn kannten, war es unbegreiflich, daß er überhaupt noch lebte. Er selbst behauptete kugelsicher zu sein. Immer wieder tauchte er von Zeit zu Zeit in Berlin auf, um die wenigen Tage Urlaub zu durchschwärmen. Dann kam er drei, vier Tage nicht ins Bett, und erst auf der Rückreise zur Front schlief er sich aus.

»Rasch, Hecht!« schrie er und fuchtelte mit einer Pistole. »Sie können die Saharet gewinnen!«

Eben diese Saharet stürzte sich Otto mit einem kleinen Katzenschrei entgegen.

»Sie werden sehen,« rief sie, »ich kenne Otto –!«

Sie war ein kleiner schwarzhaariger Irrwisch mit runden 79 Katzenaugen. Ihrer – sehr entfernten – Ähnlichkeit mit der Tänzerin Saharet verdankte sie ihren Namen. Früher hieß sie – ja, wer sollte es wissen? Ströbel hielt sie als eine Art Hauskatze. Sie räkelte sich auf den Sesseln, telephonierte, das war ihre ganze Beschäftigung. Sie sprach geziert wie eine Ausländerin, eine Russin, eine russische Fürstin, und spielte die große Dame. Mit einem Wort, sie war ungeheuer lächerlich. Welchen Grund hätte auch Ströbel sonst gehabt, die Saharet zu halten?

Ja, also die Sache war die: die Saharet sollte ausgeschossen werden, als Preis sozusagen. Sie wollte dem ein Schäferstündchen gewähren, mit oder ohne Publikum, der sich ein Glas vom Kopf schießen lassen würde. In irgendeinem Vorstadttheater hätte sie einmal Wilhelm Tell gesehen.

»Abgemacht, gut, abgemacht!« Hauptmann Feuerwalze hatte soeben zwei Likörgläschen auf fünf Meter Entfernung freihändig vom Büfett geschossen, er war zu allem bereit – ein Glas vom Kopf, schön – bitte nur zu befehlen.

Hier aber begannen die Schwierigkeiten. Niemand hatte Lust, seinen Kopf zu riskieren – schon war die Saharet gekränkt, daß man ihre Schäferstündchen so niedrig einschätzte, sie ließ die Katzenaugen im Kreise gehen, schmollte, bettelte – da kam Otto, und sie stürzte sich auf ihn.

Otto, der Retter, der Lohengrin der Saharet!

Die Augen der Kameraden, alle Blicke waren auf ihn gerichtet, das Gelächter, das flehende Schmeicheln der kleinen Saharet, Otto konnte nicht widerstehen. Ohne zu überlegen, beseelt vom Wunsche gleich in den Mittelpunkt der Gesellschaft zu treten – nein, was für ein toller Junge war doch dieser Otto! – erklärte er sich augenblicklich bereit. Ein Glas Sekt, und die Vorstellung kann beginnen.

»Wie? Sofort?« – Bravo! Ungeheurer Beifall!

Die Saharet tanzte vor Entzücken auf einem Bein und 80 klatschte in die Händchen. »Ach, wie reizend, dieser Otto!« Höchst persönlich kredenzte sie das Glas Sekt.

»Also los, fertigmachen«, schrie Hauptmann Falk mit wilden Augen.

Unter Gelächter und Scherzen wurde Otto gegen eine Wand gestellt. Es zeigte sich indessen zur allgemeinen Verwunderung, daß ein Glas auf seinem Schädel nicht so ohne weiteres stand. Ein kleines Buch, bitte! Darauf also stellte der kleine aus dem Lazarett entsprungene Leutnant mit dem verbundenen Kopf ein Sektglas. Sofort aber protestierte die Saharet. Das Glas war zu groß. Was sollte das für ein Kunststück sein? Sie selbst suchte ein kleines Weinglas heraus, rückte einen Stuhl heran und stellte es eigenhändig auf Ottos Kopf. »Nein, wie reizend von Ihnen, Otto!«

»Nun, fertig, los,« schrie die Feuerwalze, »macht Platz.«

»Also – ein Schäferstündchen?«

»Wieso ein Schäferstündchen? Nein, nein –«

»Was also –?«

»Einen Kuß – Otto! Einen Kuß!«

»Schön – auch für ein Küßchen mache ich es.«

»Zurück! Sprechen Sie nicht, Hecht, sonst fällt das Glas herunter.«

»Es ist ein völliger Wahnsinn!« protestierte Major Wolff, der Hüne, der noch einigermaßen nüchtern war. »Sie sollten es verbieten, Ströbel!«

»Verbieten, wieso?« entgegnete Ströbel erstaunt. »Niemand hat weniger Rechte als der Wirt.«

Hauptmann Falk stärkte sich mit einem Kognak.

»Wenn Sie glauben, daß ich ewig hier stehenbleiben werde«, sagte Otto ungeduldig, und das Glas wackelte auf seinem Kopfe.

»Sofort, bitte – ich eröffne das Feuer«, schrie Hauptmann Falk.

»Achtung, meine Herren!« Hauptmann Falk schwang die 81 Pistole. Aber in diesem Augenblick warf ihn der Rausch einige Schritte zur Seite. Er wandte sich empört um. »Ich bitte gehorsamst, mich nicht an den Rockschößen zu zerren –.«

»Sie sollten lieber die Sache sein lassen«, sagte Major Wolff.

»Weshalb denn?« schrie Hauptmann Falk mit wütender Miene. »Sobald ich abdrücke, stehe ich wie eine Statue. Sie können sich auf mich verlassen. Also los, ich eröffne das Feuer.«

»Ruhe!« rief die Saharet und preßte die Hände auf das Herz. Wie spannend es doch war!

Der Lauf der Pistole war auf Otto gerichtet. Langsam bewegte sich das runde Loch an ihm in die Höhe. »Daß mir jetzt niemand ein Wort redet«, schrie Hauptmann Falk, »sonst schieße ich Hecht die Kugel in den Kopf.« Alles war mäuschenstill. Die Saharet stand mit gefalteten Händen. Ströbel betrachtete voll Interesse Otto, der unmerklich mit den Augen zwinkerte, als die Mündung der Pistole zwischen seine Augen gerichtet war.

Otto hatte eine ganz gleichmütige, etwas belustigte Miene aufgesetzt. Ich wünsche jetzt nur das eine, dachte er, daß mir die Kugel mitten in die Stirn fährt. Mitten in die Stirn und Schluß! So drücke doch ab! Er war ganz ruhig . . .

Da wanderte das Loch der Mündung um einen Millimeter höher. Hauptmann Falk hatte die Zähne zusammengebissen, so daß die Backenknochen aus seinem grauen, mageren Gesicht vorstanden. Dann hielt er den Atem an, und im gleichen Augenblick zersplitterte das Glas.

Welcher Beifall! Welche Ovationen!

Augenblicklich aber ergriff die Saharet, aus Koketterie, die Flucht. Gläser zerschellten, Stühle krachten. Sie riß eine Tischdecke mit allem, was darauf war, herunter. Aus Höflichkeit, aus gar keinem andern Grund, hatte Otto die Verfolgung aufgenommen. Dieser schmale, armselige Mund 82 reizte ihn nicht. Endlich hatte sich die Saharet in der Ecke der Bibliothek verrannt. Sie konnte weder vorwärts noch rückwärts und versuchte, an den Bücherregalen in die Höhe zu klettern. Aber als auch das nicht gelang, ergab sie sich, um Hilfe schreiend, in ihr Schicksal.

Schon hatte Otto die Hände ausgestreckt – plötzlich aber schwankte er und wurde weiß wie eine Wand. Erregt von der Jagd, berauscht, hatte ihn plötzlich Schwindel ergriffen. Das Gesicht der Saharet verschwamm, ihre Augen – ein entsetzliches, halbverwestes Gesicht erschien, mit blinkenden Zähnen, ein Totenantlitz.

»Ich werde fallen!« fuhr es ihm durch den Sinn, mit der Gewißheit einer Erleuchtung, die keinen Zweifel zuläßt. Und dies war der Augenblick, wo er bleich wie eine Wand wurde.

Wieder erweiterten sich seine Pupillen, wieder wurden seine Augen zu Kratern voller Grauen. Ja, jetzt hatte er verstanden. –

 

Schokolade knabbernd hockte die Saharet hoch oben auf dem Klubsessel, in dem der hünenhafte Major Wolff saß, der die Bank hielt. Die fahlen, verwüsteten Gesichter mit den grauen Schläfen drängten sich um den Tisch. Karten, Banknoten flatterten. Auch der Blinde spielte, er machte mit dem Einarmigen im Smoking ein Kompaniegeschäft. Nur Ströbel spielte nicht. Er füllte die Gläser.

Otto gewann – ganz im Gegensatz zu seinem sprichwörtlichen Pech beim Spiel. Im Augenblick hatte er, obschon er ohne jede Überlegung, völlig sinnlos spielte, dreitausend Mark gewonnen. Auch das war auffallend!

Und wenn ich falle, dachte er, was ist dabei? Viele Hunderttausend sind gefallen, weshalb sollte ich, gerade ich, verschont bleiben? Es ist schließlich völlig egal!

Noch einmal, einmal noch wollen wir das Schicksal befragen – 83

Die Bank war in eine Verlustserie geraten. Sie hatte sechsmal bezahlt, und es war völlig unwahrscheinlich, daß das Glück ein siebentes Mal gegen sie war.

»Dreitausend Mark Einsatz, Herr Major?« fragte Otto. Gewann er, gegen alle Gesetze der Wahrscheinlichkeit, nun, so würde er es glauben, so war es sicher . . .

Die Bank verlor ein siebentes Mal.

»Ich werde fallen, gut!« – Otto zählte die Scheine, die man ihm zuschob, und steckte sie in die Tasche.

»Und ich werde sie nie wiedersehen!«

Er stand auf.

»Viertausenddreihundert – erstes Geschütz –!« kommandierte Hauptmann Weißbach, der in einem Sessel eingeschlafen war und mit offenem Munde dalag, die bleiche Stirn in Falten zerknittert.

 


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