Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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6.

Siehe, deine Welt, Langmütiger! Hunderte und Tausende flüchten täglich voller Verzweiflung aus diesem Leben.

Öffne die Augen und sieh: Jammer!

Öffne die Augen und sieh: Schande!

Lausche! Das Geschrei der Folterknechte, das Geschrei der Gemarterten, das Jammern der Witwen und Waisen. Ströme von Tränen rauschen dahin, Flüche verfinstern das Licht.

Siehe deine Völker: Mörder!

Die Heere der betörten Sklaven, vorwärtsgepeitscht von ihren Verführern, zerfleischen sich noch immer. Noch immer gibt es Granaten, Torpedos, Gas, Flammenwerfer, noch immer werden Männer und Frauen füsiliert, noch immer werden täglich Gefangene – welches Wort! – zu Tausenden wie Sklaven verschleppt. Schiffe sinken in die Tiefe, Kathedralen gehen in Flammen auf, Tausende von unschuldigen Kindern verhungern an jedem Tag. 344 Aber auf den Kirchen Europas funkeln golden die Kreuze! Und wie lange willst du noch zögern?

Die Nebelfetzen zerflatterten, schon glänzte ein rotes Dach. Riesige Firmenschilder blinkten oben an den Nebelburgen, Fensterreihen blitzten. Die Häuser wurden farbig, rote Gesichter erschienen in den Türen. Plötzlich strahlte die Sonne. Und die bunten Flaggen flatterten wieder heiter im Morgenwind.

Dampfend und glitzernd stieg die Stadt aus dem Nebel empor. Tau lag auf den Straßen, tropfte von den Bäumen, die Dächer glänzten naß. Die Brillen der Straßenbahnführer waren beschlagen, Tau hing an ihren Schnurrbärten. Die Tritte hinterließen Spuren auf den feuchten Bürgersteigen.

Langsam wanderte Ackermann durch die Straßen, bald dahin, bald dorthin ließ er sich treiben – nicht mehr sein ungeduldiger, stürmischer Schritt. Wozu Eile? Er war am Ziel.

Heute abend würde er nicht mehr in sein Zimmer zurückkehren – Gott allein wußte es, was mit ihm geschah . . .

Beglückt sog er die frische Morgenluft ein, wie Dampf kam der Atem aus seinem Munde. Tau hing an seinen Wimpern. In der letzten Zeit hatte er sein Äußeres vernachlässigt, aber heute morgen hatte er sich rasieren und die etwas langgewordenen Haare stutzen lassen.

Schwach ging der Pulsschlag der sterbenden Stadt. Nicht mehr das Brausen und Donnern des Friedens, wenn sie erwachte. Frauen, Kinder und Greise besorgten die Geschäfte, kutschierten die Gespanne, zogen Karren und Wagen. Vor den Geschäften standen, wie jeden Morgen, die langen Reihen der Weiber mit Töpfen und Markttaschen. Hin und wieder rollten Heeresautomobile, schwer beladen, polternd vorüber.

Bald war Ackermann wieder in seine Gedanken versunken. Ja, so wird es sein! Sie, die Reinen, Gläubigen, 345 Hoffenden, werden eine Gemeinschaft bilden, wie die Apostel, die das Christentum in allen Ländern verbreiteten. Es wird genau sein wie seinerzeit.

In die Schulen werden sie gehen, die Apostel, und predigen: Die Würde des Menschen ist das oberste Gesetz! Heilig das Menschenleben und unantastbar! Alle Völker sind Brüder, und die Vernunft ist das Vaterland aller Menschen. Sie werden die Lüge aus den Schulbüchern verbannen, sie werden auf die Tugenden der Nachbarvölker hinweisen und nicht auf ihre Schwächen.

Dies und hundert anderes werden sie lehren, werden es in die Seelen der Jungen, der Keuschen und Unverdorbenen pflanzen. Bei ihnen werden sie beginnen. Fluchbeladen sinkt die alternde Generation dahin, erwürgt von Gram und Schande.

In die Kirchen werden sie gehen, die Apostel, und den Gläubigen die neue alte Lehre predigen – in die Fabriken, Kasernen, Gefängnisse, Dörfer – überall werden sie sein. Keine Landesgrenzen wird es für sie geben, sie gehen hin und her, wie sie wollen. Sie sprechen alle Sprachen, in allen Ländern, allen Kontinenten werden sie morgen die Arbeit beginnen. Arm werden sie sein, verachtet, die Liebeglühenden, arm wie Bettelmönche, geächtet und verfolgt.

Sie bereiten das Reich vor, das kommen wird! Glückliche, gütige Menschen, ohne Mißtrauen, ohne Neid, ohne Hochmut werden es bewohnen. Kein Mensch wird fortan der Unterdrücker eines andern sein, kein Volk der Unterdrücker eines andern Volkes, für immer ist die Zeit der Sklaverei dahin.

Freiheit, Freundschaft, Freude wird der Gruß des neuen Menschen lauten.

Und die Erde wird ein Garten sein! Alle Kräfte, dienstbar heute der Bewaffnung und dem Kriege, werden dem Frieden und der Wohlfahrt dienen. Die Wüsten werden 346 blühen, der Sand selbst wird Früchte tragen. Ja, ein Garten die Erde.

Haubitzen, Bombenflugzeuge, Panzerkreuzer, Unterseeboote, wo sind sie hin? Wie ein Spuk werden sie sein, ein Spuk aus einer finstern, unbegreiflichen Zeit.

Deinen Glanz sehe ich, den Glanz deines Friedens und deines Glückes, ich sehe ihn schimmern – Reich der Zukunft, Reich der Freude, Reich des Menschen, ich betrete dich . . .

Da hielt Ackermann den Schritt an. Eine Stimme rief in seinem Innern und mahnte. Erschrocken fuhr er aus seinen Träumereien auf, bereit, der Stimme zu gehorchen, die aus seinem Innern drang.

Schritte kamen, trappelten. Er wandte den Kopf. Um die Straßenecke bog ein Trupp von Männern in abgetragenen, zum Teil zerlumpten Zivilkleidern, die von einem Unteroffizier geführt wurden. Nicht viel waren es, kaum hundert. Sie trugen Pappschachteln, es war Ersatz für die Kasernen. Nein, nicht das Reich des kommenden Menschen, nicht sein Schimmer, sein Glanz, armselige, trostlose Gegenwart.

Stumpf trotteten die Männer dahin, teilnahmslos, geduckt unter ihr Schicksal, bereit zu sterben, wenn man es forderte, bereit zu töten, wenn man es verlangte, bereit zu allem. Alte Männer, eisgrau, einige plattfüßige aufgeschwemmte Dickbäuche, ein paar spindeldürre Bebrillte, schwindsüchtige Kaufleute und Studenten, freche Burschen mit Diebesgesichtern, ein Zwerg in großen Stiefeln, ein Kranker mit zerfressener Nase, ein Buckliger, ein Hagerer mit nur einem Auge. Und ein Bleicher, ganz Bleicher, der den Blick voller Scham zu Boden richtete, bildete den Schluß. Die Stiefel schlürften, schallten, die Knie bewegten sich automatisch, die Pappschachteln schaukelten hin und her.

Die in Lumpen gehüllten Weiber, die die Straße reinigten, lachten und schrien. 347

»Ihr werdet es schaffen! Immer rasch!«

Eines der Weiber sprang auf den Kehrichthaufen und tanzte mit dem Besen, daß die schmutzigen Röcke flogen.

»Hahaha! Die Garde kommt!«

»Hohoho!«

Teilnahmslose Blicke, Gelächter, Grimassen. Eine Reihe von Elektrischen hielt den Zug der Ausgemusterten auf. Menschen sammelten sich an, Fuhrwerke stauten sich.

Blitzschnell trat Ackermann einige Schritte vor. Sein glühender Blick flog über die Menschen, die Wagen, den Zug der Armseligen mit den Pappschachteln.

Jetzt? Jetzt?

Gesetzt den Fall – jetzt!

Die Hände in die Luft werfen, schreien, diesen Menschen, die sich hier angesammelt hatten, es zuschreien, diesen armen Krüppeln und Kranken mit ihren Pappschachteln, laut, über den ganzen Platz, so laut, daß Hunderte es hören, Tausende und Zehntausende es am Abend wußten –?

Er erbleichte. Angst schnürte seine Kehle zusammen, nicht eine Silbe hätte er hervorbringen können. Er schwankte – schon bei dem Gedanken. Jetzt würden sie über ihn herfallen, der Unteroffizier, wahrscheinlich sogar die Männer mit den Pappschachteln und der Schutzmann dort, er würde herbeieilen und ihn zu Boden schlagen.

Aus einem Straßenbahnwagen starrten ihn erschrocken ein Paar große Augen an, eine alte, zitronengelbe Frau.

Er hatte in der Erregung eine unwillkürliche Bewegung mit den Armen gemacht, und diese Bewegung hatte den Blick der Frau auf ihn gelenkt.

Die Straßenbahnwagen klingelten und rollten weiter. Wieder bewegten sich die Knie der Männer mit den Pappschachteln, ihre Rücken drängten sich zusammen. Die Menschenknäuel lösten sich, zerrannen. Die Wagen fuhren. 348

Der Schutzmann betrachtete interessiert eine geschminkte Dame, die ihm zulächelte.

Ackermann stand allein auf dem Trottoir, müde plötzlich, ein leises Beben in den Gliedern. Allmählich erst kehrte die Farbe in sein Gesicht zurück. Langsam, die Pupillen geweitet, ging er weiter.

Hier? Wie unsinnig wäre es gewesen! Sinnlos, ohne jeden Widerhall. Menschenmassen mußten es sein, wimmelnde Menschen, aufhorchend, in deren Ohren sein Schrei weitergellte, so daß ihr Herz erbebte. Die seinen Schrei durch Berlin trugen in alle Häuser: über die ganze Stadt mußte sein Schrei hingellen.

Nein, nicht einen Augenblick hatte er ernsthaft daran gedacht. Aber wie war es möglich, daß ihn der Gedanke allein schon so tief erschreckte, daß sein Herz stehenblieb?

Neben einem Pumpbrunnen, wo ein Droschkenkutscher sein Pferd tränkte, stand eine Bank. Darauf setzte sich Ackermann. Er streckte die Beine aus, die noch ein leises Zittern schwächte. Die Sonne blendete in sein Gesicht. Es war weiß, durchsichtig, und Spuren von Sommersprossen waren im grellen Licht zu erkennen.

Schrecken erfüllte ihn.

Entsetzen!

War er das? Nach allem –?

Mit geweiteten Augen sah er zu, wie die grauhaarige Pferdeschnauze gierig ins Wasser tauchte.

Was für einen Sinn sollte es haben, daß einer sich vor die dahinrasende Maschine warf und sich von ihr zerfleischen ließ? Und weshalb gerade er? Vielleicht hatte ihn die innere Stimme nur genarrt, ihn bis zu diesem Punkte geführt, damit er seine Schwäche und Ohnmacht erkenne.

Wie?

Vielleicht, vielleicht.

Er saß wie gelähmt. Das alte Pferd bleckte die gelben Zähne nach ihm. 349

 


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