Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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12.

Dora lachte belustigt auf.

»Achttausend Mark, Ruth, ich bitte Sie! Für eine ganz einfache Gesellschaftstoilette! Und ein Hemd, ganz und gar nicht luxuriös, etwas billige Spitzen, ein paar Seidenschleifen – fünfhundert Mark. Es ist wirklich eine Komödie. Ich wage es schon gar nicht mehr, ein Geschäft zu betreten.«

»Wie wird es aber werden?« fragte Ruth und zog die Brauen hoch. »Die Hälfte der Bevölkerung hat schon keine Wäsche mehr. Die Kinder schlafen auf Papier.«

Dora fand das sehr spaßig.

»Wie es werden wird? Höchst einfach, im nächsten Jahr werden wir uns alle in Papier kleiden, Ruth und das wird ungeheuer lustig werden! Sie erinnern sich an die Dame, die im vorigen Sommer ohne Strümpfe Unter den Linden ging? Wenn man hübsche Beine hat, ist das reizend. Aber denken Sie sich eine Gesellschaft, ganz in Papier gekleidet! Die Industrie wird die reizendsten Farbtöne erfinden –« Dora mußte vor Lachen abbrechen – »Der General meint allerdings –« 146

»Was meint Papa?«

»Er sagt, die Industrie habe Ersatzstoffe erfunden, die viel besser sind als Wolle und Seide. Zum Beispiel, nun wie heißt sie, diese Patentfaser? Die ganze Lüneburger Heide soll mit Brennesseln bepflanzt werden, doch das wird wohl noch ein Weilchen dauern. Aber hören Sie, Ruth, welch blendende Idee! Ich werde bei meinem Hausball Papierkostüme vorschreiben!« Dora klatschte vor Vergnügen in die Hände, und wieder füllte ihr Lachen Ruths kleinen halbdunkeln Salon mit Heiterkeit und tausend Schelmereien. »Süß sehen Sie aus, mein Kind. Woher stammt diese Bluse? Lassen Sie fühlen, herrlich! Das ist noch Seide! Was man heute für schweres Geld bekommt, ist ja Schund, den früher unsere Neger getragen haben. Aber denken Sie doch Ruth, wenn wir erst in einer Papierserviette schlafen gehen werden –!« Es war Dora gänzlich unmöglich, diese drolligen Phantasien abzuschütteln.

Ruth bereitete den Tee, während die schöne Dora schwatzte und lachte. Sie folgte mit zärtlichen Blicken jeder Bewegung Ruths, die sie liebte. Ja, aufrichtig liebte, obschon sie ganz anders war, vielleicht, weil sie ganz anders war. Und sie fand sie in vieler Beziehung so amüsant! Zum Beispiel, der Hut hing auf einer Blumenvase und – bei Gott – ein kleiner schwarzgelber Abendschuh lag verlassen auf dem Sofa. War das nicht süß? Und die Teemaschine stand auf dem Schreibtisch, natürlich floß das kochende Wasser auf die Platte. Nein, wie reizend! Früher war Ruth häufig bei ihr gewesen, sie hatten zusammen musiziert –

»Singen Sie noch, Ruth?«

»Wenig nur, leider.«

Aber nun sah man sie selten. Dora nahm es ihr nicht übel. Sie liebte sie trotzdem, wie sie alle Menschen, die ihr nichts zuleide taten, liebte, wenn sie guter Laune war. Hatte 147 sie aber ihre bösen Stunden – nun, da hätte sie ruhig sehen können, wie man die Menschen vor ihren Augen abschlachtete – aber das war natürlich eine Übertreibung. Dora konnte grausam sein, sehr grausam, wenigstens dachte sie es.

Butzi, der Griffon, ließ den schwarzgelben Abendschuh, der neben dem kleinen Sofa auf dem Boden lag, es war der zweite, plötzlich aus den Zähnen und schlich zur Türe.

Er steckte die Nase in die Ritze zwischen Schwelle und Türe und blies.

Dann aber schnellte er erschrocken auf allen vieren zurück . . .

Die Türe öffnete sich – behutsam – leise – und das breite steinfarbene Gesicht des Generals, nachdenklich gesammelt, wurde sichtbar. Aber schon in der nächsten Sekunde verschwand die nachdenkliche Sammlung und die Steinfarbe – betreten und überrascht prallte das Gesicht zurück und färbte sich rot.

Der General erschrak genau wie Butzi und wich genau wie Butzi zurück. Butzi erholte sich sogar zuerst und begann zu kläffen.

»Herr General?« rief Dora überrascht aus.

»Papa?« fragte Ruth leise und ungläubig.

»Ich bitte zu verzeihen, wollen die Damen, bitte . . .«

Dora lachte. »Kommen Sie doch, Herr General, wir sind eben bei den interessantesten Gesprächen.«

»– will nicht stören – ich wollte nur – ich hörte Stimmen – guten Tag, meine Damen.« Und der General verschwand sofort wieder und schloß leise die Türe hinter sich.

Butzi hatte gesiegt. Er kläffte wütend hinter dem abziehenden Gegner her.

»Was wollte er denn?«

Ruth schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Er kommt sonst nie in mein Zimmer.«

»Er ist argwöhnisch, Ruth«, sagte Dora.

Ruth blickte auf und errötete. 148

»Ja, ja, er glaubt, Sie haben einen Geliebten«, fuhr Dora fort und blinzelte mit dem rechten Auge.

Die Röte wich aus Ruths Wangen. Sie wurde bleich.

»Er glaubt –?«

»Ja, er hat Sie doch neulich erwischt.«

»Sie kamen erst am Morgen nach Hause. Er erzählte es mir. Gott, wie sie erschrocken ist, die Kleine. Ich habe es ihm natürlich ausgeredet. Sie können sich das wohl denken.«

»Ich bin bei Platens im Grunewald gewesen, und es wurde sehr spät.«

»Und Sie haben es ihm nicht gesagt?«

»Ich? Wieso? Er fragte nicht. Schließlich ist es auch nicht seine Sache. Nehmen Sie Süßstoff, Dora? Ich habe keinen Zucker.«

Ja, nun wurde also Tee getrunken, lange genug hatte es gedauert – und draußen goß es in Strömen, welches Wetter, in diesem Berlin! Dora zündete eine ihrer dicken englischen Zigaretten an.

»Aber vielleicht hat er doch recht, der General –?« sagte sie, und wieder blinzelte sie mit dem rechten Auge.

»Wie meinen Sie das?«

»Nun, ich meine nur – so – so . . .«

Dora lachte. Es machte ihr Vergnügen, scheue Menschen in Verlegenheit zu bringen. Dann aber änderte sie den Ton.

»Und Dietz geht es gut in Bukarest?«

»Sehr gut, danke. Er bewohnt eine reizende Villa, reitet täglich spazieren, es fehlt ihm wirklich an nichts.«

»Hören Sie Ruth – aber Butzi, sehen Sie, er zerreißt Ihnen den ganzen Schuh –«

Ruth nahm den Schuh und warf ihn zu dem andern auf dem Sofa.

»Ich wollte sagen, Ruth, wenn Sie erst einmal auf Ferchow wohnen – es ist der schönste Sitz in Pommern, und Sie haben da einen chinesischen Pavillon auf einer Insel im See, 149 märchenhaft, die Armins haben ja ihr Gut nebenan – wenn Sie erst auf Ferchow wohnen, versprechen Sie mir –«

Ruth unterbrach sie.

»Ich werde nie auf Ferchow wohnen, Dora!« sagte sie, jede Silbe betonend.

»Wie? Aber –?«

Ruth blickte Dora in die Augen.

»Nein, niemals!«

»So erklären Sie mir doch, meine Liebste –?«

»Sprechen wir nicht mehr davon.«

»Aber, ich bitte Sie, Ruth, wollen Sie mir nicht –?«

Doppelt so groß wie gewöhnlich waren Doras blaue Augen vor Erstaunen.

 

Das nächstemal war der General vorsichtiger. Er erkundigte sich erst, ob seine Tochter ausgegangen sei, und klopfte zur doppelten Vorsicht vorher an. Zu peinlich war es ihm neulich gewesen – Dora saß da, Ruth, nicht einmal angeklopft hatte er – was mochten sie denken von ihm?

Er hatte jahrelang Ruths Zimmer nicht betreten. Jahrelang hatte er sich überhaupt nicht im geringsten um Ruth gekümmert, ihr jegliche Freiheit gelassen, seinen Grundsätzen gemäß – nun aber schien es ihm an der Zeit zu sein . . .

Nicht ohne eine gewisse Scheu trat er ein.

Sofort aber waren diese beiden Augen auf ihn gerichtet, obwohl er den Blick abgewendet hatte, denn er wußte genau, wo das Bild hing. Diese Augen leuchteten ihm entgegen, und der General fühlte ihren schimmernden Blick durch die Lider hindurch, ja selbst durch den Kopf, wenn er das Gesicht abwandte. Er räusperte sich und murmelte etwas vor sich hin, um sein Gleichgewicht wieder zu finden.

Rügend schüttelte er den Kopf: Welche Unordnung!

Auch diesen Mangel an Ordnungssinn hatte sie von der Sommerstorf geerbt, keineswegs von ihm. Augenblicklich 150 schossen ihm in einer Sekunde tausend Erinnerungen durch den Kopf. Da war, zum Beispiel, die Naht am Handschuh geplatzt, und sie machten Besuch beim Regimentskommandeur. Es war äußerst peinlich. Der Regimentskommandeur sah sofort die geplatzte Naht des Handschuhs, es sah aus, als sähe er überhaupt nichts anderes. Und da kamen, zum Beispiel, Gäste, sie waren auf acht Uhr geladen. Sie kamen, und der Salon war völlig in Unordnung. Notenblätter waren überall umhergestreut, und die Tischdecke lag voll von Rosenblättern, die von einem welken Strauß abgefallen waren. Wie in aller Welt sollte er sich denn vor den Gästen entschuldigen? Aber die Sommerstorf lachte nur darüber. Gerade über solche Dinge konnte sie ausgelassen lachen. Es fehlte ihr jedes Organ dafür. So waren sie, die Sommerstorfs. Sie kamen nicht umsonst aus dem Süden.

Ein Hut lag auf dem Tisch im Salon, daneben eine Schere und eine Rolle Zwirn. Die Nadel stak in der Tischdecke. Zeitungen waren über das Sofa verstreut, und in der Ecke lag sogar ein Abendschuh. Überall Schreibpapier, Bücher.

Zerstreut nahm der General ein aufgeschlagenes Buch vom Schreibtisch. Marx.

Karl Marx.

Ein Sozialist!

In dem Buche waren Stellen angestrichen. Sie arbeitete darin.

Einen Augenblick war der General geneigt, diese Lektüre für eine junge adelige Dame unpassend zu finden. Schon wollte er den Kopf schütteln. Aber er überwand sich. Mochte sie – weshalb nicht – wenn sie Interesse dafür hatte? Auch ein Sozialist hatte ja wohl manches zu sagen, was interessieren konnte – im übrigen, sie hatten ja in der Stunde der Gefahr das Vaterland über den Internationalismus gestellt, bewilligten die Kredite, was man wollte, 151 gingen mit durch dick und dünn – in der Tat, sie hatten sich als wahre und echte Patrioten erwiesen!

Viele Bücher. Stöße von Büchern. Autoren und Titel waren ihm unbekannt. Er hatte keine Zeit, Bücher zu lesen – der Dienst – seit zwanzig Jahren hatte er eigentlich kein Buch mehr in die Hand genommen – seit dreißig, von fachwissenschaftlichen Werken natürlich abgesehen.

Im übrigen, diese modernen Autoren, soviel er von ihnen wußte, sie beliebten Konstruktionen, lebten in einer fiktiven Welt – während seine Welt, die Welt des Generals, eine Welt der harten Tatsachen war, ohne Beschönigung, ohne Lüge und Poesie, einfach der harten Tatsachen.

Aus einem Buch fiel ein Brief: »Geliebte Ruth« – sofort schob ihn der General wieder in das Buch zurück. Wieder schüttelte er rügend den Kopf. Daß sie, zum Beispiel, nicht daran dachte, daß Unberufene, etwa Therese, den Brief lesen könnten! Erschreckend diese Ähnlichkeit in den kleinsten Charakterzügen. Auch ihre Mutter hatte die wichtigsten Briefe und Schriftstücke herumliegen lassen. So hatte es ja seinen Anfang genommen . . .

Wiederum fühlte er den Blick der leuchtenden Augen so stark, daß die Hand matt wurde, die das Buch hielt. Deutlich, ganz deutlich hörte er eine Stimme in seinem Kopf, die irgendwo geschlafen hatte. Er verstand nicht die Worte, die diese Stimme aussprach, aber er hörte ihren Klang, ganz deutlich, und es war doch schon viele Jahre her, daß er diese Stimme zum letzten Male gehört hatte.

Diese Stimme wurde lauter und lauter und nahm einen immer heitereren Klang an. Deutlich hörte er, wie diese Stimme in seinem Kopfe oder irgendwo – sie schien irgendwo verborgen zu sein! – zu lachen anfing, ein Lachen, heiter, spöttisch. Der General legte das Buch zurück.

Traurigkeit stieg plötzlich in seinem Herzen auf.

»Was will ich eigentlich hier?« sagte er. Nachdenklich 152 verließ er das Zimmer, während die Augen des Bildes ihm bis zur Schwelle folgten –

Und Marx? Weshalb nicht Marx? Aber es war eigentümlich, dieser Name klang in ihm weiter.

Als er wieder über den Korridor schritt, hatte er die Empfindung, aus einer fremden Welt und andern Zeit gekommen zu sein. Niki zwitscherte fröhlich sein Lied, und alle Dinge betonten plötzlich ihre Wirklichkeit und Vertrautheit.

Übrigens war es auch frostig in Ruths Zimmer gewesen.

 


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