Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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11.

Im Augenblick hatte der schmächtige junge Mann die Fenster geöffnet und die Rolladen hochgezogen. Es sah aus, als sei Kunze soeben von der Reise zurückgekehrt und nehme seine Wohnung in der Blücherstraße wieder in Besitz. Eine Schicht von Staub und Sonne lag über den Dächern draußen, und feierlich brodelte darin das Läuten der Glocken. 302

»So, so – immer hereinspaziert!«

Zögernd schob sich der kleine Herr Herbst über die Schwelle. Es mußte ja sein, es gab kein Entrinnen mehr vor dem jungen Mann mit dem Kneifer. – Ein Block von Licht brach in die dunkle Wohnung, und er schloß, wie versengt, die Augen – aber was half es denn? Nichts. Er hatte ihn ja doch gesehen, trotzdem, ja ohne hinzublicken: den Haken über der Türe zum Schlafzimmer. Nur ihn sah er – nichts sonst – diesen Haken.

Ah, ah, ah!

Ächzend sank er in einen Sessel und krümmte sich zusammen.

»Nun, sofort, mein verehrter Herr!« rief Kunze etwas keuchend aus. Eine Schweißperle lief über seine Stirn. Jede körperliche Tätigkeit, auch die geringste, erschöpfte ihn augenblicklich. »Die Lunge, wissen Sie. Sofort, sofort zu Ihrer Verfügung.« Fieberhaft kletterten seine raschen Augen über Möbel und Wände. Er verbarg sein Erstaunen nicht, nein, wozu denn, vor wem denn? Er staunte – staunte, mit offenem Munde!

Die rote Plüschgarnitur des Wohnzimmers, heute allein ein Vermögen wert! Die Gaskrone mit Glasprismen, der rote Teppich, überall Vasen, Nippes, goldene Bilderrahmen – eine kleine Palme in der Ecke, daneben ein Grammophon. Die Vorhänge und Gardinen kunstvoll drapiert über den Stangen. Das Schlafzimmer schneeweiß! Und peinliche Ordnung und Sauberkeit, bis auf den Staub, der sich da und dort angesammelt hatte.

Alles in allem: ein behagliches Bürgerheim, die Wohnung eines Bürgers in guten Verhältnissen – aber verlassen!

»Und da hausen Sie nun in diesem Loch, in dieser Mietkaserne – und hier haben Sie eine prächtige Wohnung!« rief Kunze in äußerstem Erstaunen aus.

Herbst entgegnete nichts. Er hatte den steifen Hut aufbehalten und saß zusammengekrümmt, so daß sein Gesicht 303 nicht zu sehen war. Die schmalen Schultern in dem abgeschabten, rostfarbenen Havelock zitterten.

»Ist es zu glauben? Ja eine prächtige Wohnung! Und Sie haben keine Angst vor Einbrechern? Mein Himmel! Tag und Nacht wird ja jetzt gestohlen in Berlin. Die Stadt wimmelt von Dieben und Einbrechern. Bataillone, Armeen von Dieben und Spitzbuben sind an der Arbeit!«

»Niemand« – krächzte hier der Havelock – »kein Einbrecher würde es wagen. Auf der Schwelle würde er umkehren! Niemand!«

Kunze lachte laut und belustigt. Er warf den dünnen Überzieher und das grüne Hütchen auf einen Sessel und schnüffelte von neuem durch die Wohnung. Er war ganz in seinem Element. Seine kleinen Augen, die stumpf und dumm hinter den Gläsern aussahen, glänzten vor Begierde. In Schränke, Schubfächer, Nachttische, sogar hinter Vorhänge steckte er die spitze Nase. Jedenfalls, das stand fest, jedenfalls würde er sich in den Besitz dieser Wohnung setzen – er würde sie einfach für Dienstzwecke anfordern, ein Federstrich, und hier war er. Man konnte hier die verwöhntesten Damen empfangen – und in welch elendem Loch hauste er doch zurzeit!

In der Küche streckte er vor Überraschung die Zunge aus dem Munde. Ahnungslos, ja, ohne überhaupt etwas zu denken, hatte er dieses Spind geöffnet, und siehe da. Wein, Wein, Flasche an Flasche! Bordeaux, Burgunder, Mosel, drei, vier Dutzend, und alles Friedensware! Nicht zu bezahlen heute. Wein, seine Wonne, seine –! Im Nu, völlig automatisch, hatte er eine Flasche entkorkt.

Und das Geheimnis dieses kleinen Alten, der dunkle Punkt? Es war ihm nicht bange.

»Welche Reichtümer, Herr Herbst!« lachte Kunze, als er mit der Flasche aus der Küche zurückkam. »Ein sonderbarer Heiliger sind Sie! Nun wollen wir aber Ihre Heimkehr in Ihre Wohnung feiern. Ich darf eingießen? Nun, 304 ein Gläschen werden Sie nicht ausschlagen, wie? Ja, herrlich ist es hier, direkt anheimelnd, als ob ich zu Hause wäre.«

Ohne Umstände machte er es sich auf dem Plüschsofa bequem.

»Auf Ihre Gesundheit, Herr Herbst!«

Herr Herbst hatte den Hut abgenommen – aufgeschreckt durch das laute Freudengeschrei in der Küche und das Knallen des Korkes – und sein kleiner, gelber, verrunzelter Kopf erschien Kunze wie eine Rübe, eine wirkliche Rübe, die da und dort schon etwas Schimmel angesetzt hat.

»Ja, direkt anheimelnd. Ganz wie bei uns zu Hause. Mein Vater – sagte ich Ihnen das schon? – ist Prediger in einem Kirchspiel. Liebt sein Weinchen, seine Zigarren und lobt den Herrn! Ja, so ist er nun einmal, sehen Sie. Sobald er aber in seinen Talar schlüpft, versteht er keinen Scherz mehr, nein, ich bitte Sie – um Gottes willen, ernst, würdevoll, der Hirte seiner Schäfchen. Als nun der Krieg ausbrach, da sagte er zu mir: ›Melde dich sofort, eile zu den Fahnen, es ist deine sittliche Pflicht, ziehe hinaus. Kämpfe‹, so redete er – der kategorische Imperativ – Kant – er ist Philosoph, mein Vater – ah, ah, was für ein Weinchen!«

Auf der Kommode, dem roten Plüschsofa gegenüber, stand in einem breiten Rahmen die vergrößerte Photographie eines jungen Soldaten mit frischem, keckem Jungengesicht. Ein Jäger, feldmarschmäßig ausgerüstet, den Gewehrlauf mit Blumen geschmückt. Der Rahmen des Bildes war mit Trauerflor umhüllt, ein Paar Leuchter mit herabgebrannten Kerzen standen davor. Das war er wohl, sein Sohn, der gefallen war. Wie hieß er doch – Robert.

An der Wand, über dem Jäger mit dem frischen Jungengesicht, aber hingen zwei Bildnisse in ovalen Rahmen: eine etwas korpulente Dame mit voller Büste, vollen 305 Wangen, einem kleinen Fettkinn und auffallend großen runden Augen. Die Dame lächelte freundlich, gutmütig, ein bißchen verlegen. Eine Kette mit einem großen Kreuz trug sie um den Hals. Daneben: ein Herr, etwas hochmütig, voller Würde, das volle dunkle Haar peinlich gescheitelt, die Augen zuversichtlich in die Ferne gerichtet. Im Gehrock, schmaler schwarzer Binde – ein Beamter, der bei seinem Vorgesetzten Besuch macht. Sah man die korpulente, freundlich lächelnde Dame an, so schien sie augenblicklich den kleinen Mund zu öffnen und zu plappern, zu sprudeln – der Herr aber, würdevoll, blieb stumm, schweigsam. Die Hand hatte er etwas steif und gravitätisch zur Hälfte in den schwarzen Gehrock geschoben – eine kleine Hand . . .

». . . schlage sie aufs Haupt –« sagte also mein Vater, er ist glühender Patriot – »diese vom Teufel Besessenen, die aus Neid und Rachsucht über unser geliebtes Vaterland herfallen – schlage ihnen die Schädel ein, zerreiße sie in Stücke – der Herr will es! Sofort packst du deine Sachen! Nun, mit dem Felde war es ja leider, leider nichts. Ich sagte Ihnen ja schon, meine Lunge. Aber jeder nach seinen Kräften, nicht wahr? Das war nun nicht ganz nach dem Geschmack –«

Plötzlich stockte Kunze. Er war in das Studium dieser kleinen Hand des Beamten im schwarzen Gehrock versunken. Er stutzte, rückte den Kneifer zurecht – schlürfte am Glas. Hm!

War es denkbar?

Wie, wie, wie, sollte er, dieser Würdevolle, Gemessene, Schweigsame, mit dem zuversichtlich in die Ferne gerichteten Blick –?

Und diese fahlgelbe – Rübe, etwas angeschimmelt, mit Erlaubnis zu sagen – sollte sie –?

Ja, unmöglich, ganz unmöglich! Und doch, diese Hand, das kleine Näschen und selbst das kurze Schnurrbärtchen, 306 jetzt zwar grauer und schäbig – so unglaublich es erschien, dieser Ernste, Würdevolle in seinem Gehrock, und der Kleine, Glatzköpfige, Vertrocknete, Verkommene, mit den entzündeten, vergilbten Augen, sie waren in der Tat ein und dieselbe Person!

Kunze verlor vor Erstaunen völlig den Faden seines Geschwätzes. Er erhob sich und tupfte das Gesicht mit dem Taschentuch.

Hm. Er polierte den Kneifer, ging auf und ab und verschwand schließlich in der Küche, um eine neue Flasche zu holen. Seine Miene hatte sich verändert, als er zurückkehrte. Sachlich und kühl betrachtete er den kleinen Herrn Herbst. Er goß die Gläser voll, räusperte sich und begann:

»Aber genug mit dem Schwatzen jetzt« – ruhig und geschäftsmäßig klang seine Stimme –. »Wir haben, wie ich mir schon zu bemerken erlaubte, keine Zeit zu verlieren, der Major drängt, nun, er wird wieder von dem Oberst gedrängt, Sie wissen ja, wie es beim Militär zugeht. Seitdem sich nun diese hohe Persönlichkeit in die Sache gemischt hat –«

»Eine hohe Persönlichkeit?« Herr Herbst horchte plötzlich auf.

»Ja, ja. Ich kann Ihnen nicht mehr sagen. Es ist einer der sonderbarsten Fälle, die die Abteilung seit langer Zeit zu bearbeiten hatte.«

»Eine hohe Persönlichkeit?«

»Ein sonderbarer Fall. Nicht Sie allein erstatteten in dankenswerter Weise Bericht – nein, auch von anderer Seite werden gleichzeitig, hören Sie, gleichzeitig, Informationen verlangt – aber, erlauben Sie, daß ich abbreche . . . Ich bin zu meinem Bedauern genötigt, zur Abrundung meiner Nachforschungen über Ihre werte Persönlichkeit, eine Frage an Sie zu richten, dienstlich. Ein einziger Punkt noch, wie gesagt. Bevor ich aber diese Frage an Sie richte, bitte ich ergebenst, dieses Schriftstück lesen zu wollen.« 307

Mit einer gemessenen Feierlichkeit überreichte der Schmächtige einen auf Leinwand aufgezogenen Ausweis.

Der kleine Herr Herbst las ihn mit seinen entzündeten Augen, las, verstand und zitterte. Schwarz auf Weiß war hier zu lesen, daß Herr Gottlieb Kunze berechtigt war, Verhaftungen vorzunehmen . . .

»Sie haben Kenntnis genommen –?«

»Ja, ja – Kenntnis –.«

»Nun, und so richte ich also die Frage an Sie –.«

Der Havelock erhob sich erbleichend.

Zwei scharfe, messerscharfe Augen richteten sich auf ihn. Der Kneifer funkelte.

»Herr Herbst – ich scherze jetzt nicht mehr!«

»Nein, nein!« stotterte der alte Mann.

Die messerscharfen Augen kamen näher. Kunze hatte jetzt den Kneifer abgenommen.

»Weshalb haben Sie –?«

»Nein, nein – ah, Gott im Himmel!«

»Weshalb haben Sie Ihre Wohnung verlassen?«

Augenblicklich brach der kleine alte Mann zusammen. Er bedeckte das Gesicht mit den kleinen Händen und sank in den Sessel.

»Herr Herbst!«

Sofort fuhr der kleine alte Mann wieder auf und wich zurück. »Ich kann nicht – ich kann nicht – so wahr Gott lebt –« rief er und richtete die Augen flehend auf Kunze.

»Herr Herbst!« Eine Hand erhob sich.

Der kleine alte Mann wich zum Fenster zurück und faßte nach dem Fensterkreuz.

Die Hand griff nach den Rockschößen.

»Aber, Sie werden doch nicht –? Kommen Sie!«

Ohne jeden Widerstand ließ sich der kleine alte Mann von Kunze zum Sessel zurückführen.

»Beruhigen Sie sich«, sagte die kalte, dienstliche Stimme. »Haben Sie Vertrauen. Berichten Sie. Ich selbst werde 308 Ihr Anwalt sein, die Sache so darstellen . . . einerlei, was es auch sei – bitte, trinken Sie, so, so! Auch ich bin ja ein Mensch. Aber die Pflicht, Sie verstehen –.«

Der kleine alte Mann nickte.

Kunze selbst war totenbleich geworden vor Erregung. Sein Spitzelgehirn arbeitete – sensationelle Enthüllungen, ein Staatsverbrechen, Vorgesetzte, Beförderung, das Eiserne Kreuz . . .

»Sie waren ja selbst Beamter und wissen, was es bedeutet, dienstlich –.«

Der kleine alte Mann rang die Hände und schluchzte. Dann setzte er sich aufrecht, gab sich Haltung – ganz wie auf dem Bilde an der Wand, ein Schatten der früheren Erscheinung.

»Ich weiß, weiß, auch ich war Beamter. Nun gut, da Sie dienstlich Auskunft verlangen – ich werde versuchen, Ihnen eine Erklärung zu geben. Es fällt mir schwer, meine Gedanken, meine Worte – alles ist nicht mehr wie früher – Gott im Himmel, es ist ja unmöglich, es zu sagen –.«

»Beruhigen Sie sich. Wir haben ja Zeit, können den Abend in aller Ruhe zusammen verbringen.«

»Wir hatten also einen Kanarienvogel –« begann der kleine alte Mann stammelnd.

»Kanarienvogel? Fahren Sie getrost fort.«

»Einen Kanarienvogel – namens Hansi. Dieses Tierchen flog immer in der Stube umher, in allen Stuben, machte etwas Schmutz, aber wir liebten das Tierchen – und meine Frau liebte Hansi ganz besonders . . .«

»Ich verstehe, die Damen –.«

»Ja, aber was wollte ich eigentlich? Hansi? Was hat Hansi damit zu tun? Sie können noch den Käfig in der Küche finden. Ja, aber was sollte er –?«

»Überstürzen Sie nichts – eines um das andere.«

»Hm. Sie wurde immer merkwürdiger, ja, das war es. Sie sprach eigentlich nur noch mit dem Vögelchen.« 309

»Ihre Frau?«

»Ja, sie. Immer stiller und merkwürdiger. Ich selbst, ich ging ja aus, ging in eine Kneipe, trank – Sie verstehen, es ist nicht nötig zu sagen, weshalb ich trank.«

»Unser Junge war ja unser ganzer Lebensinhalt geworden. Ich war in Pension gegangen, und wir waren seiner Studien halber nach Berlin gezogen. Da kam der Krieg, er wurde Soldat, Jäger, und schließlich kam er ins Feld. Eines Tages aber, da kam die furchtbare Nachricht – eines Tages . . .«

»Er war gefallen.«

»Gefallen?«

»Ja, natürlich, Sie sagten –.«

Der kleine alte Mann schüttelte den Kopf.

»Nicht gefallen, Herr,« flüsterte er, »in den Tod gehetzt – ich habe Unterlagen, Briefe – geschlachtet, nutzlos –.«

»Sie sollten nicht derartig schwere Anschuldigungen erheben gegen gewisse Persönlichkeiten«, warf Kunze nicht ohne Strenge ein.

»Nun gut, gefallen, ganz wie Sie wollen. Es wurde immer stiller hier, immer stiller – meine Frau verließ nicht mehr die Wohnung, keinen Schritt tat sie über die Schwelle. Sie saß immer hier. Aber plötzlich saß sie nicht mehr, sondern sie stand – hören Sie – zuerst mitten im Zimmer, dann nur noch in den Ecken.«

»Sie war wohl schwermütig geworden?«

»Ja, schwermütig. Sie ertrug es nicht, nein, es war zuviel für sie! Zuviel, zuviel! Und nun, eines Abends komme ich spät nach Hause. Es war Mondschein. Ich sah also ziemlich gut. Und da steht sie also hier – unter der Türe. Hier, sehen Sie.«

»Ja!«

»Aber sehen Sie – sie stand so hoch! Nun, denke ich – da ist wieder mal Hansi auf den Schrank geflogen, wie häufig, und sie will ihn einfangen – aber plötzlich, da 310 sehe ich . . . Da kommt es mir eigentümlich vor, ei . . ., ei . . . sie antwortet nicht. Aber sie antwortete häufig nicht mehr in dieser Zeit. Nun aber, da denke ich – da sehe ich – worauf stand sie eigentlich? Sie stand auf nichts! Ihre Füße waren abwärts gerichtet – und darunter war nichts – nur Mondlicht – nichts sonst – ich sah es ganz klar und deutlich . . . sie schwebte in der Luft . . . und da begriff ich es . . . dieser Augenblick – –!«

Enttäuschung in den Zügen des schmächtigen jungen Mannes! Er hatte etwas ganz Besonderes erwartet – und nun eine alltägliche Geschichte, wie sie sich während des Krieges hundertmal in Berlin ereignete.

Der kleine alte Mann röchelte. Er sprang auf und schleuderte die kurzen dünnen Arme wild durch die Luft. Er ballte die kleinen gelben Fäuste und schüttelte sie in Raserei. Sein Gesicht verzerrte sich, die gelben Zahnstumpen blinkten, Schaum trat vor seine Lippen.

»Und alles daher –« schrie er außer sich, und sein Gesicht wurde plötzlich blau, so daß Kunze erschrocken zurückwich – »alles daher, daher! Deshalb hasse ich ihn – hasse ihn, den Hoffärtigen, hasse ihn . . . mit diesen Händen werde ich – so wahr mir Gott helfe . . . hasse ihn –.«

»Hasse – hasse . . .« Seine Hände zuckten.

Und plötzlich stürzte der kleine alte Mann zu Boden. Er war ohnmächtig geworden.

 

Das Grammophon neben der kleinen Palme in der Ecke grölte:

Die Vöglein im Walde,
Die singen ja so wunderwunderschön
In der Heimat, in der Heimat,
Da gibt's ein – ha! ha! ha!

Ja, die Platte war verdorben, und immer am Schluß – beim Wiedersehn – lachte der Apparat. Und immer mußte Kunze aufspringen und die Kurbel neu andrehen. 311

Kunze lag auf dem Sofa und schlug mit den geflickten, glänzend gewichsten Stiefeln den Takt auf dem Armpolster. Zuweilen unterbrach er sein Geschwätz und sang eine Strophe des Soldatenliedes mit, zuweilen auch rülpste er, mit Respekt zu vermelden. Eine Reihe leerer Flaschen stand auf dem Tisch mit der gestickten, lachsroten Decke – dem Stolz der Freundlichen, Korpulenten an der Wand.

Herr Herbst saß mit roten Bäckchen, die Äuglein glänzend vom Wein, und paffte eine kleine schwarze Zigarre. Er trank nicht aus dem Glas, o nein, Kunze hatte so etwas noch nie gesehen, er setzte einfach die Flasche an den Mund und ließ den Wein in die Kehle hineinlaufen. Mit gespannter Aufmerksamkeit hörte er Kunze zu.

»– und auf diese Weise, sehen Sie, Verehrtester, kam ich also zu G III.«

»G III?«

»Ja, G III. So heißen wir. Nur eine Chiffre. So geheim sind wir, ganz geheim – pst, pst! Ja, nicht einmal einen Namen haben wir.«

»Viele Beamte?«

»Viele?«

Kunze lachte und richtete sich zur Hälfte auf. Das Gesicht des kleinen Herrn Herbst erschien ihm nun langgezogen, mit turmhoher Stirn, wie in einem Lachkabinett. »Viele, sagen Sie?« wiederholte er geheimnisvoll und wichtigtuerisch. »Viele? – Wir sind Legion!«

»Legion?«

Die turmhohe Stirn sank in sich zusammen, und eine runde Rauchwolke erschien an ihrer Stelle. Herr Herbst war vor diesem Wort zurückgeprallt und hatte erschrocken den Rauch ausgestoßen.

»Ja, Legion. Überall und allgegenwärtig. Selbst da, wo uns niemand vermutet. Ja ja, mein Verehrtester – überall. In allen Städten Deutschlands – bei allen Generalkommandos – bei allen Behörden – bei der 312 Post, Eisenbahn – in den Ministerien – G III ist einfach überall.«

In der Heimat, in der Heimat,
Da gibt's ein – ha! ha! ha!

Kunze schnellte in die Höhe, und augenblicklich begann der Trichter von neuem zu heulen:

Ich hatt' einen Kameraden . . .

»Ja, überall. Niemand weiß, ob das Auge von G III nicht auf ihn gerichtet ist. Selbst ich weiß es nicht, ob ich nicht selbst wieder beobachtet werde! Ja, so ist es, bei Gott! Alle Kulturstaaten haben diese Einrichtung, geben Millionen dafür aus – unsere Organisation ist sogar noch klein im Vergleich zu der anderer Großmächte. Klein, im Verhältnis, aber sie arbeitet zuverlässig. Sie können mir ruhig glauben.«

»Wir öffnen Koffer unterwegs, so daß der Eigentümer es nicht merkt, besonders das Öffnen von Briefen ist unsere Spezialität. Wir überwachen die Korrespondenz von Tausenden!«

»Wir nehmen ganz einfach Abschriften, und wenn es besonders interessante Fälle sind, photographische Kopien. Wir wissen alles, wir kennen die Geheimnisse der höchsten Persönlichkeiten. Wir erscheinen als Kellner in den Restaurants, wo irgendeine besondere Sitzung veranstaltet wird, da sind wir dabei. Selbst bei den hohen Würdenträgern unserer Verbündeten haben wir unsere Agenten. Wir bohren Löcher durch Türen und öffnen Schreibtische. Fürsten, Minister, Abgeordnete – wir kennen ihre geheimsten Gedanken.«

»Ja, wir machen alles! Ihr junger Schützling, Verehrtester – er ist in guten Händen. Und auch jene hochgestellte Persönlichkeit, die sich für den Lebenswandel ihres Töchterchens interessiert – auch sie wird zufriedengestellt werden. Ja, wir machen alles. Und Sie und ich – was glauben Sie? – wir werden einen Orden erhalten–auch Sie, hören Sie! Ich werde dafür sorgen, ich! –« 313

Aber da der Havelock selbst bei dieser blendenden Eröffnung still blieb, hob der Semmelblonde wiederum den Kopf über die Tischplatte. Das Gesicht des kleinen Herrn Herbst hatte sich abermals völlig verändert, es war ohne Augen, ohne Nase und ohne Mund, dagegen umgeben von einem dünnen, grauen Backenbart. Es war die Glatze des kleinen Herrn Herbst, der eingeschlafen war. In diesem Augenblick geriet der Havelock ins Gleiten, und ohne Laut sank er auf den Boden.

»Und noch eine Mosel – und noch eine Mosel – dreimal hoch!« sang Kunze mit hellem Tenor und begab sich im Foxtrott hinaus in die Küche. Fürchterlich schlingerte das Haus.

»Gloria – Viktoria –« heulte das Grammophon ganz allein für sich.

 


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