Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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8.

Plötzlich leuchtet ein helles Rot durch die Menge, das weithin blendende Rot eines Mantelaufschlages.

Ein Gesicht, rosig angehaucht wie ein Steingebirge beim Aufgang der Sonne, wandelt die Linden einher. 287

Die Spaziergänger bleiben neugierig stehen. Einer von jenen, die Gut und Blut der Nation in den Händen halten! Ehrfürchtig lüften sich die Hüte, die Augen glänzen.

Es hätte nicht viel gefehlt, und man hätte dem General, der mit Otto die Linden entlangging, eine Ovation dargebracht, obgleich er an den Zehntausenden von Gefangenen gänzlich unschuldig war. Der General hob die Hand zum Gruße. Er nahm diese Äußerung der Begeisterung mit Würde und Bescheidenheit entgegen. Sie galt selbstverständlich nicht ihm, sie galt der unvergleichlichen Armee, sie galt den Begnadeten, Angebeteten und Vergötterten, die jetzt, in diesem Augenblick, das hohe Spiel spielten – da draußen . . .

Die Miene des Generals war verschlossen und gesammelt wie immer. Trotzdem ein großer, ja ein auffallender Unterschied! Während sich sonst der Blick in die grauen Augenhöhlen verkroch – selten nur, höchst selten bot der General seine Augen den neugierigen, zudringlichen Blicken der Mitmenschen dar – standen heute die Augen offen und blendeten. Ihr Blick war erwärmt, wie wenn die Sonne das Eis leckt. Zufriedenheit leuchtete in der Tiefe und Triumph, ein stiller, zurückgedämmter Triumph. Und zudem ging der General zu Fuß, was nur in äußerst seltenen Fällen vorkam. Zuweilen ließ er sich von Schwerdtfeger in eine entlegene Allee des Tiergartens fahren, um einige Minuten spazierenzugehen, immer hin und her, die Hände auf dem Rücken, höchstens eine Viertelstunde. Manchmal legte er auch den Weg von Dora nach Hause zu Fuß zurück, wenn es spät wurde. Aber das waren, wie gesagt, Ausnahmen.

Er hatte Schwerdtfeger vor dem Brandenburger Tore halten lassen und beschlossen, den Weg bis zu Stifters Diele zu Fuß zurückzulegen. Zur großen Genugtuung Ottos, der, seit acht Tagen aus dem Lazarett entlassen und den ganzen Tag in einem Kriegsamt tätig, das Gewimmel der Menschen liebte. 288

»Diese Menschen!« sagte der General.

Und erst an jenem Tage, wie da die Linden von Menschen wimmeln würden – an jenem Tage! Kopf an Kopf, an den Fenstern und auf den Balkonen, schwarz die Dächer, die Luft erfüllt von Fliegern und Luftkreuzern. Triumphpforten, die ganzen Linden entlang, Musik – und der Schritt der siegreichen Armee, die in die Heimat zurückkehrte, dröhnend vom Morgengrauen bis zum Sinken der Sonne – jenes Dröhnen, unter dem die Welt erbebt war. Die Fahnen geschmückt mit Lorbeer . . .

Niemals konnte der General das Brandenburger Tor passieren, ohne daß die Vision des heimkehrenden Heeres vor ihm aufstieg. Heute aber hörte er in der Tat das Dröhnen der Schritte, heute sah er die bekränzten Kanonen zwischen den schwarzen Menschenmauern rollen. Diese wunderbaren, schweigenden Rohre, die so herrlich ihre Pflicht getan hatten! Das Geschrei der jubelnden Menge, Tücherwinken auf den Tribünen – gab es etwas Ergreifendes für ihn, etwas wirklich Ergreifendes, so war es dieser Gedanke. Ohne Zweifel, es würde der glücklichste Tag seines Lebens werden!

Unverkennbar, die Ähnlichkeit der beiden! Dieselben breiten Gesichter, beim Alten grau im Unterton, mit einem dünnen Anflug von Rot darüber, beim Jungen bleich, mit dem satteren Rot der Jugend auf den Lippen. Dieselben Augen, kühn und nachdenklich beim Alten, verwegen und leichtsinnig beim Jungen.

Der Alte mit einem sonderbaren Kreuz zwischen den roten Aufschlägen, der Junge die Brust mit Auszeichnungen übersät, eine Narbe an der Stirn, und die linke Hand steif in einem schwarzen Handschuh, verwundet, offenbar. Beide groß, massig.

Otto versuchte, mit dem Vater Schritt zu halten. Das war nicht so einfach. Denn die Schritte des Generals waren unregelmäßig, und zuweilen schwankte er auch, 289 unmerklich. Er war das Gehen nicht gewöhnt, von Gedanken erfüllt, die seinen Gang beeinflußten.

Der Blick des Generals war voller Ruhe in die Weite gerichtet – Ottos Blick dagegen flog blitzschnell hin und her. Die langen Wochen im Lazarett, vergessen und vorbei. Das letztemal, Gott sei Dank! Er hatte es ausgerechnet, ein volles Jahr, zwölf volle Monate lag er während des Krieges im Lazarett. Vier volle Monate mit diesem verdammten Kopfschuß, einen Monat mit der Ruhr, zwei Monate mit einer niedlichen Gasvergiftung und so weiter – und schließlich diese Kleinigkeit mit der Hand. Die nette Schwester hatte ihm ja den Aufenthalt im Lazarett so angenehm wie möglich gemacht, trotzdem, sein Bedarf war reichlich gedeckt.

Nein, Otto sah keine bekränzten Kanonen, fiel ihm gar nicht ein, er sah nur – Frauen! Drei Jahre Front, nur Männer, pfui! – ein Jahr Lazarett – ja also nichts anderes. Über jede gutgekleidete, junge Frau, mit anderen beschäftigte er sich überhaupt nicht, zuckte sein verwegenes Auge. Kein Knöchel, kein Schuh, keine Hüfte, keine Locke entging ihm. Jene Kleine, zum Beispiel, Dutzendware! Jene Kleine aber, unscheinbar, voller Geheimnisse. Jene dunkle, die das Auge sofort unter dem Blick erweiterte – lüstern! Aber jene Schüchterne, Blasse, die dem Blick augenblicklich auswich – gepeinigt von entsetzlichen Wünschen. Sie verstand augenblicklich.

Die Augen der Frauen sprühten auf, zuckten zusammen, verbargen sich. Manche umschmeichelte Otto weich und schwärmerisch, anderen fuhr sein Blick wie ein Dolch in die Augen, brutal und unzweideutig. Er behandelte sie individuell, ganz wie er sie einschätzte. Viele erröteten unter dem frechen Blick des unverschämten Offiziers. Aber Ottos Eitelkeit deutete die Schamröte völlig falsch.

Dieser Nacken, dieses Schenkelpaar und jenes herrliche, volle Wiegen der Hüfte – drei Jahre Front und ein 290 Jahr Lazarett hatten den Sohn des Generals völlig zerstört.

Ja, das war das Leben, und er gedachte seine Zähne in dieses Leben zu schlagen, wie ein Tiger sein Gebiß in die Gazelle schlägt, er gedachte mit beiden Händen darin zu wühlen, wie in blutigem Fleisch. Sein Gehirn war angefüllt mit weiblichen Körpern, weiblichen Linien, Schwellungen, Frauenlippen, Frauenhaaren, gestammelten Worten, Schreien. Ja, Tag und Nacht wollte er dieses Leben an sich reißen, jede Minute, die der Dienst frei ließ. Er wollte sie nachholen, diese vier elend vergeudeten Jahre. Tag um Tag –.

Keine zehn Pferde würden mehr imstande sein, ihn wieder zur Front, ins Feuer zurückzubringen. Alles, die Hölle, wenn du willst, nur nicht ein Ort, wo scharf geschossen wurde! Schon der Gedanke – und doch, früher hatte er sich oft danach gesehnt, die Sprengstücke pfeifen zu hören. Oft hatte er sich dem Feuer absichtlich ausgesetzt, unverständliche, perverse Laune – und die Geschosse peitschten dicht an seinem Ohr vorbei! – unbegreiflich!

Und seine Eitelkeiten – wie lächerlich waren sie doch! Wie unverständlich. Um in der Heimat von ein paar Gänsen bewundert zu werden! Was galten ihm jetzt die Ordensauszeichnungen?

Nein, um offen zu sein, auf den Heldentod legte er keinen Wert mehr! Welch erbärmlicher Schwindel war es doch: süß ist es und ehrenvoll für das Vaterland zu sterben! Nur noch Gymnasiasten glaubten es, oder Leute, die nie den schrecklichen Tod da draußen erblickt hatten. Heute wußte er, daß es nichts als verlogene Phrasen waren, mit denen nationalistische Redner und Redakteure, die sich selbst in Sicherheit befanden, andere ins Gemetzel hetzten. Überlassen wir das Heldentum den Stierkämpfern, die dafür bezahlt werden, hatte Ströbel einmal zu ihm gesagt – und er hatte ihn deswegen verachtet. Jetzt aber begriff er ihn. 291

Ja, er hatte sich sehr geändert, Otto!

Er begriff kaum mehr sein Denken und Tun, das nur ein Jahr zurücklag. War er es wirklich gewesen?

Zum Beispiel, als er seinerzeit bei Langemarck den schwerverwundeten französischen Offizier in den Graben holte! Holte, ganz einfach holte, und auf alle Metallstücke pfiff, die sich mit fünfhundert oder tausend Metern in der Sekunde vorwärts bewegten. Nein, heute würde er, Otto, bei Gott niemand mehr hereinholen – nicht einmal seinen Vater – höchstens ein schönes, junges Mädchen, und sie nur unter bestimmten Bedingungen.

Der Sohn des Generals war heute nichts anderes mehr als ein Schamloser, offen gesagt. Keck und herausfordernd schritt er neben dem General einher, jeden einzelnen der bewundernden Blicke genießend, die sich auf seine glitzernden Sterne und Auszeichnungen hefteten. Der Mensch spiegelt sich im Menschen. Wie alle Armeen, spekulierte auch die deutsche auf den armseligsten Instinkt des Menschen, die Eitelkeit. Otto hatte absichtlich den Mantel zu Hause gelassen, obschon es noch keineswegs warm war.

»Ha!« lachte der General vor sich hin.

»Wie, bitte, Papa?«

»Diese Menschen, sie sind närrisch!«

Plötzlich errötete Otto. Sein Blick zuckte unruhig, die Narbe an seiner Schläfe, die von dem Kopfschuß geblieben war, färbte sich rasch und flüchtig tiefrot. Ein schnelles, vornehmes, offenes Auto rauschte vorbei und darin saß – Hedi!

Hedi – in einem pompösen Pelz, wehende Federn auf dem Hute – einen wollhaarigen, fetten, kleinen Hund auf dem Schoß.

Sie sah ihn nicht, sie sah überhaupt nicht auf die Straße. Sie saß wie eine Dame, die es gewöhnt ist, in ihrem Wagen durch die Menge zu gleiten und nichts mehr dabei findet.

Es war keine Überraschung mehr für Otto. Vor ein 292 paar Tagen traf er in einer Teestube Unter den Linden, wo viel Halbwelt verkehrte, die kleine Saharet, und sie hatte ihm erzählt, daß Hedi Ströbels »Privatsekretärin« geworden war. Ströbel hatte die Saharet vor die Türe gesetzt, höchst einfach, ein paar braune Lappen – und dann war die andere, wie die Saharet sagte, gekommen. Also Hedi Westphal die Nachfolgerin der Saharet! War es nicht zum Schießen komisch? Immerhin, Hedi erhob sich weit über den Durchschnitt all dieser schnatternden Gänse – aber sie war kalt, kalt und berechnend, nichts als eine Egoistin. Und nichts war Otto mehr zuwider als Egoisten. Aber als Privatsekretärin hätte er Hedi schließlich auch engagiert. Ja, dieser Ströbel!

Einen einzigen großen Nachteil hatte diese Angelegenheit: er würde leider gezwungen sein, den Verkehr in Ströbels »Hotel« einzustellen – schade, sehr schade.

 


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