Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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2.

In diesen Tagen traf plötzlich in Berlin jene hohe Persönlichkeit ein, die seinerzeit die Zierde von Doras Hausball bildete. Ali Baba und die vierzig Räuber – ja, wer hätte auch vermutet, daß es einmal so kommen könnte! 425 Ohne jede Anmeldung kam der einflußreiche Herr an, dessen hoher Orden das ganze Metall auf der Brust des Generals aufwog. Mitten in der Nacht, gegen drei Uhr, der Zug von Köln hatte drei Stunden Verspätung gehabt. Die Lokomotiven blieben nunmehr reihenweise auf der Strecke liegen, man hatte die kupfernen Feuerbüchsen aus den Maschinen gerissen und sie durch eiserne ersetzt.

Gräfin Heller hatte noch Licht, Gesellschaft, und der hohe Herr, der dem längst vermoderten Franz I. ähnlich sah, ließ seine Schwester herausbitten.

»In großer Eile, Adele!« sagte der hohe Herr – auf englisch, die Geschwister sprachen nur englisch zusammen – »Ich komme, um zu gehen. Ich habe die ganze Nacht hindurch dringend zu arbeiten, Frühstück um zehn Uhr, bitte. Für jetzt Tee und etwas Feuer im Kamin, ich bin erkältet, und einen kleinen Imbiß. Und dann, keine Störung, bitte, nicht die geringste – sehr wichtige Geschäfte – fahre mit dem Mittagszug wieder zurück . . .« Trocken und hastig klang seine Stimme.

Gräfin Heller befand sich in großer Erregung. Sie hatte ihren Kreis von Vertrauten versammelt, eine spiritistische Sitzung. Zuerst war ein ungebärdiger Geist erschienen, ein italienischer Mönch aus Ravenna, 1512 geboren, gestorben 1553, begraben in Bologna – ungebärdig, er hatte das Tischchen in Stücke gerissen. Zurzeit aber – größtes Ereignis aller Sitzungen des Jahres! – hatten sie Verbindung mit dem Geiste eines erhabenen Verblichenen, dem Geiste Bismarcks. Ungeheure Offenbarungen, Prophezeiungen der größten Tragweite . . . vielleicht interessiert dich das Protokoll?

Der hohe Herr aber schien nicht die geringste Neigung zu haben, die Prophezeiungen Bismarcks kennenzulernen – ganz im Gegenteil. So schnell ihn die müden, dünnen Beine tragen konnten, stieg er die Treppe zu seinen Gemächern empor. 426

Gräfin Heller öffnete leise die Türe, und man hörte auf einen Augenblick deutlich eine weiche, schmelzende Damenstimme: »Ich bitte Durchlaucht, unsere Frage wiederholen zu dürfen . . .«

Als der Diener Tee und Imbiß brachte, fand er den hohen Herrn eingeschlafen in einem Sessel vor dem Kamin. Augenblicklich aber erwachte er. »Die Koffer?«

»In der Bibliothek, Exzellenz, wie befohlen.«

»Nun, danke, gute Nacht, keine Störung, zehn Uhr Frühstück« – und er verschloß alle Türen und prüfte, ob die Vorhänge dicht geschlossen waren.

Die Flucht der Gemächer war tageshell erleuchtet: Gemälde, Bronzen, Skulpturen, herrliche alte Möbel – die Wohnung war ein Museum! Selbst in dem geheimnisvollen Alkoven des Ankleidezimmers brannte Licht. Der hohe Herr lächelte, unmerklich, soweit es die mit einer dicken Wachsschicht überzogene, gelbe Gesichtsmaske zuließ. Die Lider bewegten sich rasch über den großen starren Augen Franz des Ersten. Er rieb die kleinen wächsernen Hände vor dem Kaminfeuer und trippelte mit hastigen, steifen Schrittchen ratlos über das gleißende Parkett des Museums, immer hin und her. Er schlürfte eine Tasse Tee, dann flüsterte er: »Und nun wollen wir anfangen!« Und seine steile Glatze verschwand zwischen den Portieren des Arbeitszimmers.

Hier also fing er an. Zuerst öffnete er mit einem winzigen Schlüssel, den er bei sich trug, eine schwere, pechschwarze, italienische Renaissance-Truhe. Ihr entnahm er einen Schlüsselbund. Dann schloß er einen Mahagonisekretär auf, ein herrliches Stück, Empire, französisch, schwarze Ebenholzsäulen, von goldenen Schwänen gekrönt. Fächer sprangen auf, Schubladen öffneten sich.

Nun standen alle Schränke, Truhen, Kommoden, Vitrinen des Museums offen. 427

»Anfangen, ja anfangen –!« Aber wie, wo? »Richelieu sagt einmal –.«

Aber der hohe Herr verschwieg, was Richelieu sagte. Es war ihm im letzten Moment entfallen, es interessierte ihn nicht mehr.

Die Sammlung von Tabatieren, eine der kostbarsten in Europa – in den Koffer. Ein paar kleine alte Bändchen, in Schweinsleder gebunden, gänzlich unscheinbar – in den Koffer. Die Miniaturen auf Elfenbein, in den Koffer. Eine Schatulle, fränkischer Herkunft, eingelegt die Zerstörung Jerusalems, mit Schmuckstücken, Ringen, Uhren, Steinen, einem Kruzifix, Gold und Email – in den Koffer. Ein rotes Lederkästchen, bis zum Rand gefüllt mit Ordenssternen – in den Koffer. Die Mappe mit Handzeichnungen, drei kleine Niederländer – herrlich eigneten sich die alten Brokate zum Einhüllen – wieder ein Schluck Tee. Eine Börse voller Goldmünzen, vergessen, von Reisen zurückgeblieben – weshalb nicht? Sie nahmen ja fast keinen Platz ein. Nun aber kam das Prunkstück an die Reihe, das Kostbarste: ein vergoldeter, kleiner Hausaltar, spanisch – außerordentlich wertvoll! Vorsichtig auseinandergenommen, eingehüllt, in den Koffer. Aber die kleinen römischen Bronzen – wie?

Immer erregter glitt die Wachsmaske durch die Spiegel, sie tanzte zwischen Brokaten, Bronzen, Stichen, Bildern. Nunmehr glänzte sie fettig, aber das war der Schweiß infolge der Anstrengung. Jetzt verschwand sie in das Ankleidezimmer – kam zurück, entstellt, fast doppelt so lang, die Wangen eingefallen, die Lippen faltig – das Gebiß hatte geschmerzt.

Wieder ein Schluck Tee. Schon tagte es. Beim Anblick eines Päckchens von vergilbten Briefen wurde der hohe Herr erregt. Er lief zuerst zum Kamin, als ob er die Briefe verbrennen wolle, dann lief er zu dem Empiresekretär. Aber, nachdem er das Päckchen schon in ein Geheimfach 428 eingeschlossen hatte, nahm er es wieder heraus – in den kleinen Koffer.

Briefe, Schriftstücke – das Feuer im Kamin lohte stundenlang. Und, wie gesagt, der Donatello: aus dem Rahmen zu nehmen, in Leinwand einzuschlagen, zu umschnüren – prächtig! Die kleine Wachsfigur glänzte im Feuerschein, als schmelze sie, selbst die langen, dünnen Hände . . .

Als der Diener das Frühstück brachte, war die kleine Exzellenz schon fix und fertig angekleidet, bereit zur Abreise. Schränke, Truhen, Vitrinen geschlossen – nichts zu sehen, auch nicht eine Spur!

Bitte eine lange starke Schnur und einige große Packbogen! So. Nur der eine Koffer, oben mit Anzügen gefüllt, wollte nicht schließen. Die kleine Exzellenz schwang sich auf den Koffer, stieß ein paarmal mit dem Gesäß gegen den Deckel – so, siehst du, alles geht.

Der Mittagszug nach Köln verließ die Halle, eine Wachsmaske, einer Leiche in grünem Wasser ähnlich, blickte aus dem reservierten Abteil – mit einem unmerklichen, etwas hämischen Lächeln. Aber das mochte auch von der Beleuchtung in der düstern Halle herrühren. Sofort aber schloß die Wachsmaske in dem Abteil voller Koffer – das solid verschnürte, große, flache Paket in gelbem Packpapier nicht zu vergessen – die Augen und schlief ein . . .

Nach langer Zeit, nach langem, gesundem Schlafe, erwachte der vornehme Reisende plötzlich: eine gewisse Aufregung auf dem Korridor des Waggons! Der Zug stand, in irgendeiner ärmlichen Vorstadt. Dämmerung und rauchender Nebel.

Da! Ei, ei – was ist das?

Schüsse?

Ja, ein lustiges Gewehrfeuer knatterte – oder?

Der vornehme Reisende kroch zwischen seinen Koffern hervor und öffnete die Türe des reservierten Abteils.

»Ich bitte – Schaffner?« 429

Aber es gab keinen Schaffner, nur eine aufgeregte Schaffnerin in Pumphosen.

»Ich bitte sehr – wir halten?«

»Ja, der Bahnhof ist besetzt.«

»Besetzt –?«

»Ja, besetzt.«

»Aber – von wem besetzt?«

»Von den Aufständigen.«

»– von den Aufständigen?«

»Soeben ist wieder ein Regiment übergegangen.«

»– übergegangen, so, so.«

»Ein Soldatenrat ist im Zuge und nimmt die Waffen ab.«

»– Waffen ab.«

»In Köln arbeiten sie mit schweren Geschützen.«

»Danke, liebe Frau – ich bitte!« Und der vornehme Reisende drückt der Schaffnerin ein Goldstück in die Hand – ohne Übertreibung, ein Goldstück! – und zieht sich wieder in das reservierte Abteil zurück.

»So, so!« Nun beginnt die Wachsmaske tatsächlich zu schmilzen. Ein paar große Wachsperlen rinnen über die Stirn, ein flatterndes Batisttaschentuch tastet nach ihnen.

 

Der General und Hauptmann Wunderlich speisten zusammen unter dem schneeigen Glaslüster an dem runden, großen Speisetisch. Speisten? Sie berührten die Gerichte kaum. Jakob brachte weiße Teller, trug weiße Teller fort.

»Aber diese vierzehn Punkte –?« fragte der General mit einem mißtrauischen Knarren in der müden, heiseren Stimme. Sein Hals war von einem dicken Umschlag umwickelt.

Wunderlichs Gesicht zuckte.

»Der Präsident ist ein Mann von Ehre!«

»Hm. – Aber ich darf doch bitten, Hauptmann Wunderlich, sich bedienen zu wollen.« 430

»Wir haben das Wort von hundert Millionen amerikanischen Bürgern!«

»Hm. – Bitte, sich doch eingießen zu wollen, mir selbst ist es ja verboten.«

»Und Sie sagen, Hauptmann Wunderlich: die Waffenstillstandsbedingungen sollen unter allen Umständen angenommen werden – unter allen Umständen?«

»Man will versuchen, einige Zugeständnisse zu erhalten. Sollte dieses Ansuchen aber zurückgewiesen werden: unter allen Umständen!«

»Also bedingungslose Kapitulation?«

»Bedingungslose!«

»Hm.« Der General kämpfte gegen einen Hustenanfall. »Hm, aber –« Unmöglich, dachte er, mit eingesunkenen, düsteren Augen, das Volk muß sich erheben! Erhebung der Massen! Kampf bis zum letzten Hauch –.

Aber er sprach seine Gedanken nicht aus. Eben legte Jakob wiederum neue weiße Teller auf. Quittengelb ist der General geworden. Seine Backen sind eingefallen und schlaff. Die Grippe hat sich auf die Nieren geschlagen.

 


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