Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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13.

Nacht, der Regen rieselte, schwarzer Regen.

Die Riesenstadt schlief, sie keuchte im Schlaf. Die Menschen schwitzten in ihren Betten, trotz der eisigen Kälte der Wohnungen. Der kalte Schweiß stand auf ihren Stirnen, mit offenen Augen starrten sie in die Dunkelheit. Es war nicht mehr wie früher, da die Riesenstadt nachts aufschrie – weißt du noch, am Anfang des Krieges? In jeder Nacht gellten entsetzliche Schreie aus Häusern und Höfen, furchtbares Jammern und verzweifeltes Schluchzen – die Depeschen regneten herab auf die Riesenstadt: gefallen, gefallen, dein Sohn, dein Gatte, dein Geliebter, der Ernährer deiner Kinder, gefallen, gefallen – und die Riesenstadt schrie! Das Geläute der Glocken, die die Siege feierten, summte noch in der Luft, mit Blumen geschmückte Jünglinge und bärtige Männer stürzten sich hinaus –

Nun schrien sie nicht mehr, sie lagen still, die verkrallten 84 Finger in die Brust geschlagen, sie setzten sich in den Betten auf und flüsterten – einen Namen.

Still lag die große Stadt und dunkel.

Erloschen die Feuersbrünste, die nächtlich aus den Bahnhöfen emporloderten und den Himmel röteten, früher, nur noch scheue Lichtnebel über der unendlichen Finsternis der verkohlten Stadt. Heulend und winselnd rollten die Züge zwischen den finstern Häusern. Es waren die Transporte, die des Nachts in die Stadt schlichen, in die halbdunkeln Bahnhöfe, und die blutenden Menschen von den Schlachtfeldern brachten. Dieselben, die mit Blumen geschmückt die Stadt verlassen hatten. Der Tag durfte sie nicht erblicken. Riesenschatten schwankten über die hohen, verstaubten Bahnhofsmauern, Tragbahren glitten hin und her, Automobile schlichen auf ihren Gummirädern verstohlen durch die Straßen, hin und zurück, hin und zurück. Dann erloschen die Bahnhöfe und versanken in die Dunkelheit, bis wieder ein Zug winselte und schrie: ich bringe sie . . . Und wieder schwankten die Riesenschatten über die verstaubten Backsteinwände, wieder glitten die Tragbahren hin und her, wieder schlichen die Automobile auf ihren Gummirädern verstohlen durch die Straßen, hin und zurück. Die ganze Nacht hindurch, jede Nacht.

Schon winselt ein neuer Zug – und viele sind noch unterwegs, weit draußen zwischen den Kartoffeläckern und Rübenfeldern, über die der Regen fegt. Viele, Abertausende –

In jeder Nacht schlägt die Flut des blutigen Ozeans bis ins Herz der Stadt.

Im Grauen des Tages aber fahren die stillen Wagen von den Lazaretten durch die Vorstädte, immer weiter, bis zu den Friedhöfen. Mit Kisten beladen. Darin liegen sie, die mit Blumen geschmückt hinauszogen, ohne Kleider, ohne Stiefel, ohne Wäsche, nackt, aber sie frieren nicht mehr. Es ist Anfang Februar des Jahres 1918 –. 85

Stumm fließen die Straßen dahin, ohne Ende. Höhnische Gespenster die Laternen an den Ecken. An den ausgebrannten Häusern hängen windschief die Firmenschilder. Riesenbuchstaben, kalt, bleich, Leichen. Die Namen sind nicht mehr, die Firmen sind erloschen, die Magazine sind leer. In der finstern Nacht kommen die Schatten zurück, sitzen an den Schreibtischen der Bureaus, schleichen durch die leeren Magazine. Schatten wimmeln die Treppen herab, Boten, Briefträger, gefallen. Straßenkehrer fegen die finstern Straßen, gefallen. Schatten von Omnibussen huschen zwischen den Fluten treibender Schatten dahin, die die Straßen überschwemmen, ein Meer. Die Kutscher der Omnibusse gefallen, die flinken Pferde gefallen. In jeder Nacht kehren die Toten in die tote Riesenstadt zurück.

Ängstlich lugt der Wächter um die Ecke. Seine Zähne klappern vor Furcht, die leichenhaften Riesenbuchstaben an den Häuserwänden starren auf ihn, sie winken, sie lächeln so eigentümlich – ach!

Da erzittert die tote Straße! Ein Schritt dröhnt, rasch, eilig. Ein Sturmschritt, der Schritt eines Läufers, der dahinjagt. Eine Stimme ruft. Die schlaflosen Menschen in den kalten Betten richten sich auf: schauerlich hallt die Stimme durch die dunkle Stadt. Die schweißigen Haare sträuben sich – was ruft er? Wieder? Wie in jeder Nacht . . .

Ein weiter, feldgrauer Soldatenmantel flattert um die dunkle Ecke. Er jagt durch die Straßen! Hände, zum Fluch gestreckt, züngeln empor. Dröhnend rollt die Stimme über die schwarzen Häuser.

»Wehe, wehe denen, die auf der Erde wohnen!«

Sind es diese Worte?

Die Menschen, die in den Betten horchen, verstehen die Worte nicht. Es sind uralte Worte, tausendjährige, sie fühlen es, es sind Worte des Fluchs und des Untergangs.

Der Wächter entflieht. Ein Soldat! Flink sind sie heute mit dem Messer . . . 86

In der Ferne schon schallt die Stimme. Sie rollt die endlosen Straßen entlang, hinaus in die Vorstädte, hinaus auf das flache Feld. Lange noch hängt ihr Hall zwischen den schlafenden Häusern.

Die Hausecken sind finster. Aber sobald der weite Soldatenmantel an ihnen vorüberflattert, strahlt plötzlich Licht aus den dunkeln Wänden: die schwarzen Steine haben ein Auge aufgeschlagen. Ein Wort leuchtet aus der Dunkelheit:

»Alle Völker sind Brüder!«

Kalkweiß flattert der weite Soldatenmantel im Schein einer fernen Laterne – schon ist er verschwunden. –

Wieder ist es still, wieder liegt die Riesenstadt tot wie eine Stadt aus Asche.

Draußen aber, die Vorstädte gleißten. Um die Stadt aus Asche schwang ein Gürtel blendenden Lichts – die gleißenden Feenpaläste der Fabriken schwammen in der Nacht. Der rote Dampf zischte, aus den Schloten quollen Schatten, dick und schwarz wie bei Kriegsschiffen in voller Fahrt. Die Räder schwangen, der Boden zitterte. Abertausende standen an den Drehbänken, das Öl spritzte – Abertausende schleppten Granaten, schraubten, polierten. Abertausende von übernächtigen bleichen Arbeiterinnen saßen im grellen Licht der Bogenlampen an den Arbeitstischen, füllten, wogen, verschnürten.

Und die schweren Züge keuchten dahin, hinaus.

Das ganze Land arbeitete in dieser Nacht, in jeder Nacht. Millionen Hände – der Tod war ihr Besteller.

 


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