Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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7.

Die kleine türkische Witwe in Grau hatte ihre ganze Kundschaft eingebüßt. Alle fanden, daß sie reizend sei – aber tödlich langweilig. Zuletzt hatte sie das Glück gehabt, einen Offizier zu treffen, der die Kampfstaffel Wunderlich kannte – er lag ganz in der Nähe – und ihr versprochen hatte, Heinz Grüße zu bestellen. Das war der einzige Lichtpunkt des Festes. Sonst fand sie es entsetzlich. Entsetzlich diese Frauen, die halbnackt von Arm zu Arm wanderten, entsetzlich diese Männer. Auch Hedi – nun, du bist durchschaut, Hedi, gib dir keine Mühe mehr.

Nun saß die kleine türkische Witwe mutterseelenallein auf dem Diwan im Zeltzimmer, das Gesicht nachdenklich und gelangweilt in die Hände gestützt. Alles würde sie Heinz schreiben, ja, schon begann sie in Gedanken den Brief.

Sie hatte darauf verzichtet – rundweg verzichtet – diese schamlose Person tanzen zu sehen. Sollte man so etwas für möglich halten? Und man sagte, daß sie dreihundert Mark für den Abend bekäme und überall tanze, wo man sie engagiere. Nicht für eine Million würde die kleine graue Witwe, nicht für eine Million würde sie – pfui.

Verlassen stand im Vorzimmer der Heilige, der mit 239 wilder Gebärde das Buch schwang, allein, wie sie. Sie fühlte Mitleid mit ihm und küßte ihm die kalte, grüne Hand.

Das Haus war völlig leer. Selbst die Dienerschaft drängte sich unter den Türen zusammen. Auch Papa – ja, selbst ihr Papa – seht an! Da stand er, mit einem Sektglas in der Hand.

Klara stieg die Treppe empor – aber sofort kehrte sie wieder um. Da oben, bei den Truhen und Schränken stand der Bettelmönch mit seiner Schale, und sie fürchtete sich, ihm allein zu begegnen. Obwohl man sagte, daß es eine Königliche Hoheit sei. Auch er fand gewiß diese Nackttänzerin schamlos.

Drinnen raste der Beifall. Die Musik setzte von neuem ein.

Dora eilte an ihr vorbei die Treppe hinauf.

Es war Zeit, wieder das Kostüm zu wechseln, nicht wahr? Es war auch die beste Gelegenheit, gerade jetzt, wo der Tanz wieder begann.

Rasch rauschte Dora an den Truhen und Schränken vorüber. Da reckte sich ihr aus einer dunkeln Nische die rasselnde Schale entgegen – wieder stand er da und verneigte sich.

Sie schrak zurück. Aber gewiß wollte der demütige Bettelmönch nichts Böses.

Sie waren ganz allein, unten lärmte das Fest.

»Wer bist du?« fragte Dora.

Der Bettelmönch schüttelte den roten Turban.

Dora trat dicht an ihn heran und blickte in seine Augen, die zwischen Vermummung und Turban blendeten. Einen Augenblick lang hatte sie, erschreckend, gedacht, vorhin, er könnte es sein – er, das Gerücht, das kursierte! War es nicht möglich, daß er hierhergekommen war, auf eine Stunde, unerkannt von allen Gästen, unerkannt selbst von ihr, um wiederum unerkannt zu verschwinden. Es war unmöglich – und doch, wunderbar war dieser Gedanke. 240

Aber die Farbe der Augen stimmte nicht. Dieser Bettelmönch hatte helle Augen.

Plötzlich sagte der Bettelmönch: »Dora.«

Und augenblicklich erkannte ihn Dora an der Stimme.

»Du –?!«

Der Bettelmönch, der den ganzen Abend stumm geblieben war, brach in lautes, heiteres Lachen aus.

»Ja, ich bin es.«

»Und ich habe dich nicht erkannt! Du hast geschrieben – noch heute –.«

»Ich wollte dich überraschen!«

Dora zog ihn einige Schritte mit sich, bis zur Türe. »Geliebter –« flüsterte sie.

Die Lappen fielen vom Gesicht des Bettelmönchs, und seine Zähne blitzten.

Plötzlich umschlang er sie mit ungestümer Gewalt.

»Nein, nein –« sagte sie, bat sie. »Sei vorsichtig – der General – er blickt heraus –!«

In der Tat war plötzlich für eine Sekunde das Gesicht des Generals an der kleinen Tapetentür aufgetaucht, die auf die Diele führte. Allerdings nur für eine Sekunde. Er hatte sie wahrscheinlich gar nicht gesehen.

»Laß ihn ruhig!«

Eine Perlenkette zerriß, und die Perlen prasselten auf den Boden. Mit dünnem Knallen sprangen sie die Treppe hinab, eine hinter der anderen.

 

Beunruhigung?« Der General zog die Brauen in die Höhe.

»Ja, ich meine, das Volk –.«

»Das Volk?« Der General wiegte geringschätzig den Kopf.

»Verzeihung,« antwortete der kleine, elegante Rittmeister mit dem schweißüberströmten Gesicht, »ich meine die Öffentlichkeit. – Ist es gestattet, Euer Exzellenz?« 241

Der kleine Rittmeister öffnete etwas die Tapetentür, die von der Empore auf die Diele hinausführte. Es war heiß hier oben auf der Empore. Unbegreiflich, daß der General es auszuhalten vermochte. Er mußte Gletscherwasser in den Adern haben. Der kleine Rittmeister – ja, wie hieß er doch gleich? – er gehörte einer der ersten Adelsfamilien des Landes an, hatte die ganze Erde bereist, zurzeit in hervorragender Stellung, mit den höchsten Auszeichnungen und einer blendenden Karriere vor sich – an all das erinnerte sich der General ganz genau, aber der Name, dieser bekannte Name fiel ihm nicht ein – der kleine Rittmeister wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß vom Gesicht. Er war als Beduine gekleidet, hatte jedoch die Kopfbedeckung in den Nacken zurückgeschlagen. Schon wieder brach ihm der Schweiß aus allen Poren.

»Ich wollte mir nur die Bemerkung erlauben,« – fuhr er fort – »es ist nicht zu leugnen, daß in der breiten Öffentlichkeit eine gewisse Beunruhigung Platz gegriffen hat. In der feierlichen Osterbotschaft wurde von Allerhöchster Stelle –.«

»Bitte mich nicht mißverstehen zu wollen. Ich wage selbstverständlich nicht diesen hochherzigen Gnadenakt Seiner Majestät – Sie belieben?«

»Ich bin ganz Ohr, Euer Exzellenz!«

»Ich selbst trete ja für eine Reform des Wahlrechts ein. Und zwar schlage ich ein gestaffeltes Wahlrecht vor. Bis zu dreißig Stimmen –.«

»Dreißig Stimmen?« fragte der schweißglänzende Beduine, bemüht, sein Erstaunen zu verbergen.

»Je nach Besitz, Fähigkeit, Verdienst, Rang, Titel, Bildung.«

»Jawohl«

»Kinderzahl, Alter, Stand, Religion.«

»Jawohl, ich verstehe vollkommen. Zu begrüßen wäre es nur, wenn bald etwas geschähe. In unserer Zentrale 242 laufen ja alle Berichte zusammen. Es bilden sich Gruppen von Unzufriedenen.«

»Unzufriedenen?«

»Mehr als das, es bilden sich Gruppen, die umstürzlerische Tendenzen verfolgen. Erst vor kurzer Zeit ist unser Augen merk wiederum auf konspiratorische Elemente gelenkt worden.«

Plötzlich unterbrach der General das Gespräch. Sein Blick glitt unruhig durch die Türspalte. Sein Auge wanderte. Soeben hatte er Dora erblickt. Sie glitt an der Türspalte vorüber – kam aber im Augenblick wieder zurück. Und plötzlich trat in der verlassenen Diele jemand zu ihr. Seht an! Eben er, dieser – nun was stellte er vor? – diese Mumie, dieser Unbekannte, den er schon den ganzen Abend beobachtet hatte.

»Natürlich sind es nur einige wirre Köpfe?«

»Natürlich. Aber immerhin, die Erscheinung ist symptomatisch –.«

Ohne jedes Wort der Entschuldigung erhob sich hier der General und streckte den Kopf in die Diele hinaus. Dies war der Moment, da Dora den Bettelmönch warnte.

Der Kopf des Generals zog sich augenblicklich zurück, als Dora ihn bemerkte. Er schloß die Tapetentüre.

»Symptomatisch«, wiederholte der schweißglänzende Beduine. »Auffallend ist, daß selbst Angehörige der besten Gesellschaft –.«

Zerstreut hörte der General zu. Sein Blick wanderte unruhig durch den Saal.

»Bei dem neuen Fall, auf den ich anspielte,« fuhr der kleine Rittmeister fort, »ist sogar die Tochter eines hohen Offiziers beteiligt. Ihr Vater bekleidet Generalsrang. Es ist mir natürlich nicht möglich, mehr . . .«

Aber der General schien jegliches Interesse an dem Gespräch mit dem Rittmeister verloren zu haben. Er tupfte sich mit dem Taschentuch Schweißperlen von der Stirn. Dann stand er rasch auf. 243

»In der Tat,« sagte er stockend, »es ist unerträglich heiß geworden hier oben. Vielleicht belieben Sie mitzukommen?«

Und beide verließen die Empore.

Auf der Treppe aber blieben sie plötzlich erschrocken stehen. Der General taumelte sogar etwas zurück. Feuerschein blendete sie! Der ganze Tanzsaal schien plötzlich in hellen Flammen zu stehen.

Ein dünner Vorhang war in Brand geraten und brannte lichterloh. Auch einige Schleier fingen Feuer, und die Funken flogen. Die Damen schrien auf und stoben auseinander. Der Feuerschein währte indessen nur einige Sekunden. Inmitten der Flammen erschienen plötzlich ein Hauptmann in Uniform und ein dicker, pechschwarzer Neger, die die flammenden Fetzen auf den Boden rissen und zertraten.

Kaum daß die Musik eine Minute gestockt hatte. Das Fest ging weiter. Nur ein dünner Brandgeruch blieb zurück.

Der schweißtriefende Beduine hatte diesen Vorfall benutzt, sich unsichtbar zu machen. Als der General sich suchend nach ihm umblickte, war er verschwunden. Es war dem General nur angenehm.

Mit schlechtverhehlter Unruhe schritt er durch die Räume. Seine Augen forschten. Man nahm in dieser späten Stunde des Festes keinerlei Rücksicht mehr auf ihn. Die Tänzer drängten ihn gegen die Wand. Einmal wurde er dicht neben der Negertrommel festgehalten, die Hauptmann Falk mit aller Kraft bearbeitete.

Professor Salomon stürzte ihm entgegen und berichtete wichtigtuerisch von den Hungerkrawallen in England und dem katastrophalen Mangel an Grubenholz über dem Kanal. Schon weigern sich die Bergleute einzufahren! Nur mit Mühe und Not vermochte er den Kürbis abzuschütteln. Im Erfrischungsraum traf er die Gräfin Heller, und es war nicht zu umgehen, daß er sich mit ihr in ein längeres Gespräch einließ. Wieder und wieder äußerte er seine Freude 244 über das prächtige Aussehen Seiner Exzellenz! Auch im Erfrischungsraume war von Dora nichts zu sehen.

Auch im Zelt nicht. Hier traf er nur eine Anzahl still kosender Paare, die, dicht aneinander geschmiegt, den großen Diwan belagerten, und sich durch ihn nicht im geringsten stören ließen. Angewidert und halb betäubt von der schwülen Luft, die im Zelt herrschte, zog er sich sofort wieder zurück.

Endlich betrat er das bengalisch rotglühende Musikzimmer, Ali Babas Opiumhöhle.

Hier saßen die Vermummten im Kreise auf dem Teppich und klatschten im Takt in die Hände, während sie geheimnisvoll summten und die Köpfe wiegten. In der Mitte des roten Nebels tanzte ein weizenblondes, schlankes Geschöpf, in flimmernde Silberschleier gehüllt, die Brüste völlig frei und die Hüfte zwischen Jäckchen und Pluderhosen gänzlich nackt. Sie tanzte eine Art Bauchtanz, rasend und hingerissen.

Und ah – da war auch Dora! Wieder trug sie ein anderes Kostüm: schwefelgelbe Seide, über die zinnoberrote, schreckliche chinesische Drachen wie Flammen züngelten.

Wo aber war dieser andere hingekommen – diese Mumie mit dem orangeroten Turban?

Weit und breit war von ihm nichts mehr zu sehen.

Unter tosendem Beifallsklatschen sank die weizenblonde Tänzerin, taumelnd vor Erschöpfung, mit einem wilden Schrei zu Boden.

 

Rastlos wanderte Dora durch die verlassenen Räume, rastlos hin und her. Zuweilen warf sie sich in einen Sessel – aber schon wieder wanderte sie. Ihr schwefelgelbes Kostüm mit den grellrotzüngelnden Drachen flatterte. Es war über die linke Schulter herabgeglitten. Die blonde Haarfülle, die schmerzte, hatte sie halb gelöst. 245

Die Fata Morgana war zerflossen – Sand, Sand, Wüste. Durch die Vorhänge graute trüb der Tag.

Zertretene Blumen, abgerissene Schleier, halbgeleerte Gläser, Scherben. Scherben von Worten, Gelächter, Scherben von Musik. Ein paar vereinzelte Lampen brannten noch. Petersen hatte seinen Frack abgelegt und kletterte in seinem Zebrakittel auf eine Leiter, um ein Fenster zu öffnen. Es zog. Zuletzt erschienen die beiden Neger unter der Türe, in Ulstern, Stehkragen, und verneigten sich.

»Hoffentlich war es nicht zu beschwerlich für Sie«, sagte Dora und begleitete die beiden schwarzen Gentlemen in ihrer Zerstreutheit zur Diele. »Vielen Dank!« Und sie drückte ihnen die Hand.

Sie empfand tiefe Sympathie für die beiden schwarzen Gentlemen, aufrichtige – auch sie waren fremd hier, auch sie gehörten in ein Land mit Papageien, Wärme, blauem Himmel und Orchideen – ganz wie sie. Alle drei waren sie Fremde hier.

Ach, wie unglücklich sie war, Dora!

Sie sank auf einen Stuhl, wanderte wieder – das Kleid glitt immer mehr über die Schulter. Damals – Reisen, Feste, Paris, Nizza, Italien – und immer Fröhlichkeit, jeder Tag ein Paradies für sich. Aber es mußte sein, man riß sie los von ihm. Nein, sie liebte auch ihn nicht, um die Wahrheit zu sagen, sie liebte einen andern, früher noch, der das schönste Lächeln der Welt hatte. So – mit diesem Lächeln stand er in ihrer Erinnerung. Aber es war unmöglich. Er war arm, er hatte gar nichts. Unmöglich. Dann hatte sie diesen Lumpen geheiratet – weshalb eigentlich? Weil die Frauen sich um ihn rissen – er betrog sie am ersten Tage schon. Ja, weshalb? Nur um diese Leere zu vergessen, die zurückgeblieben war, als man sie losgerissen hatte.

Dann, eines Tages – welch entsetzlicher Tag – wo sie vis-à-vis de rien stand – buchstäblich – das heißt noch 246 Schulden. Aber es gab Freunde, Gott sei Dank gab es einen hochherzigen – ja, in Wahrheit hochherzigen Freund, der nicht zögerte, ein Vermögen hinzugeben.

Und – nun – und nun? Oh – entsetzlich!

Dora wanderte. Sie rauchte eine dicke Zigarette und wanderte. Die Jahre flogen, die Sommer wirbelten rückwärts, Sommer um Sommer, Frühling um Frühling. Und diese Welt, diese entsetzliche Welt, die schrecklicher, öder, düsterer und kälter wurde mit jedem Jahr!

Nicht die Welt hatte sich geändert, Dora vergaß es. Sie war seit jener Zeit, da jeder Tag ein Paradies war, um zehn Jahre älter geworden.

Aber sie begriff es nicht.

Und trüb graute der Tag.


Auch da draußen graute der Tag, und immer noch kläfften rasend die Haubitzen der Batterie Dönhoff. Die Kanoniere schossen Vergeltung und sollten sie dabei alle in Fetzen gehen! Grausam und rachsüchtig wühlten sich die Granaten hinein in den Dunst des Morgens. Schon hatte eine Haubitze eine schwere Granate vor das Rohr bekommen, und die Stücke flogen.

Nun erwachte das Feuer an der ganzen Front und rollte mächtig von Horizont zu Horizont.

 

Ende des ersten Teils.

 


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