Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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2.

Nebel.

Sonderbar, den ganzen Tag über Regen, gegen Abend etwas Sonne und ein feuchter Wind und nun, in der Nacht, Nebel.

Herr Herbst bog um die Ecke und nieste. Er war erkältet. In dieser Straße stand der Nebel noch dichter. Ein unheimlicher Riese kam ihm entgegengestampft, in einige Lagen von Pelzen eingehüllt, eine hohe Pelzmütze auf dem dicken 323 Schädel, aber er schrumpfte mehr und mehr zusammen, und schließlich ging nur ein kleiner harmloser Mann an ihm vorüber. Ein qualmendes Feuer mitten in der Straße und tanzende Kannibalen um das Feuer: keine Angst, es sind Straßenbahnarbeiter, die das Geleise ausbessern.

Wie ein lehmiges Meer wälzte sich der Nebel dahin und schob Geröll vor sich her – Häuser, Straßen, Häuserviertel, Stadtviertel, Vorstädte, immer weiter, bis hinaus zum flachen Land, wo es nichts gibt als Kartoffeläcker und Telegraphenstangen.

Auch ihn schob das lehmige Meer willenlos vor sich her, ganz wie die Häuser und Stadtviertel mit all ihren Bewohnern. Seine Nase tropfte, er ging rasch, die Knie etwas eingeknickt, die Arme herabhängend. Müde war er, todmüde. Den ganzen Tag war er unterwegs.

Er hatte einen neuen Plan ausgedacht – teuflisch!

Ja, teuflisch!

Wo er ging und fuhr, sollte er ihn sehen – immer, zu jeder Stunde des Tages sollte er erinnert werden – daran!

Als er aber wieder niesen mußte, zerflatterte die dichte schmutzige Nebelwolke, und – wer hätte das gedacht? – er erblickte einen kleinen üppigen Garten in praller Sonne! Er selbst ging in diesem Garten spazieren, in einem weißen Kittel, die goldene Uhrkette auf der Weste, einen breiten sonnenverbrannten Panama auf dem Kopfe. So deutlich! Es roch nach Kaffee, es war Sonntag, er roch sogar die Frische des Stärkhemdes, das er trug. Bald würde Muttchen – dasselbe Muttchen, das später, viel später, wer hätte es ahnen können –? – bald würde Muttchen kommen mit dem Kaffeekuchen, die Fingerspitzen etwas fett, die Lippen etwas glänzend von Fett . . .

In diesem Augenblick stieß Herr Herbst mit jemand zusammen, der unwillig »Achtung!« rief. Der Garten verschwand, und der Nebel brodelte wieder. Der Zusammenstoß war so heftig, daß ihm der steife Hut über die Ohren 324 getrieben wurde und er ins Taumeln geriet. Aber dieses ärgerliche schroffe »Achtung!« – diese trockene Stimme, wie?

Scheu wandte er sich um: sofort fiel ihm das grüne Plüschhütchen auf und der enge, zugeknöpfte Überzieher! Im gelben Dunst einer Laterne stand der schmächtige junge Mann im Gespräch mit zwei Männern mit Knotenstöcken. Das Plüschhütchen wackelte hin und her, die dünnen Arme gestikulierten aufgeregt – aber da verschwanden sie schon aus dem Lichtschein der Laterne, der Nebel verschlang sie.

Herbsts Herz pochte.

Also schon waren sie bis hierher gekommen, bis hierher?

Er zitterte und duckte sich zusammen.

Düster lag das graue Haus, umbrodelt vom Nebel, und wie in jeder Nacht war nur das eine gleiche Fenster erleuchtet.

Leise wie immer stahl sich Herr Herbst in sein Zimmer.

Gottlob, daß er hier war! So müde –!

Frau Hähnlein in ihrer Kammer betete. Mit schluchzender, verzweifelter Stimme – aber leise, um die Kinder nicht zu wecken, flehte sie um Gottes Beistand, rief sie den Himmel um Hilfe an, ja, um Hilfe –

Grundlos wie das tiefe Meer war das Elend dieser Stadt, in allen Straßen, allen Häusern. Überall Unglückliche, Verzweifelte, Weinende, Schlaflose. Aus allen Häusern glühten die Augen von Wahnsinnigen in den Nebel.

Der bucklige Wirt hatte recht: die Zeit der großen Heimsuchung war über die Welt gekommen. Die Menschen waren Sünder. Sünde! Sünde! Bodenlos wie das tiefe Meer! Und auch er, ja, auch er hatte Sünde auf Sünde gehäuft in seinem Leben! Er büßte – schon büßte er, hatte er den steinigen Pfad der Sühne betreten.

Daran dachte der kleine Herr Herbst, als er geschüttelt vom Frost in sein Bett kroch. Sein Gesicht brannte wie Feuer, und funkensprühend kreiste die Dunkelheit um ihn. 325 Wieder quälte ihn der Husten, und er steckte den Kopf unter die Decke, um keinen Lärm zu machen. Als er wieder Atem schöpfte, hörte er Stimmen in Ackermanns Zimmer.

 

Diese Stimmen brodelten, ganz wie der Nebel an seinem Fenster, auf und ab, eine heisere, keuchende und eine tiefe klare, die zu beruhigen suchte. Dazwischen ein belustigtes, ein etwas angeheitertes Lachen.

Die klare beruhigende Stimme, das war Ackermann, aber die heisere, keuchende, die zuweilen so sonderbar belustigt lachte? Es war Hähnlein! Ja, niemand sonst – lachte also, während seine Frau Gott um Hilfe anflehte, um Erbarmen für ihre armen Kinderchen wenigstens.

»Morgen schon?« fragte Ackermann.

»Ja, morgen um zehn Uhr!« Und wieder das angeheiterte Lachen.

Ohne Unterbrechung brodelten die Stimmen.

Der kleine Herr Herbst dampfte vor Hitze. Sein Kopf rauchte, seine Hände, ja, wie gesagt, er war erkältet. Mit geneigtem Kopf saß er im Bett, wie betäubt, ohne jeden Gedanken. Er mußte dem Brodeln der Stimmen lauschen, das ihn wie ein Zauber bannte, obwohl ihn nicht im geringsten interessierte, was die beiden zu besprechen hatten.

»Wie ist es nur denkbar?« rief Ackermann aus.

Und mit einem heiseren Auflachen erwiderte Hähnlein. »Ja, wie ist es nur denkbar, hahaha!«

Trotzdem das Blut in seinem Kopfe wie Dampf zischte, begriff er bald, was Hähnlein so erregt hatte. Man hatte ihn wieder gemustert, und morgen ging der Transport zur Front. Die »Mordkommission« war in der Kaserne gewesen. Zurück, zur Front, abermals – ja, der Granatsplitter, der ihm die Schädeldecke zertrümmert hatte, so daß er keine Treppe steigen konnte, ohne sich am Geländer festzuhalten – er zählte gar nicht. Und der Brustschuß, den er in Serbien erhielt – auch er zählte nicht. Und 326 dreimal in Frankreich, zweimal in Rußland, in Serbien – all das zählte überhaupt nicht. Seine Frau – seine Kinder –?! Nichts zählte!

Man würde ihn wieder in einen Viehwagen packen, er mußte wieder hinaus.

Ackermann versuchte zu beruhigen.

»Hahaha!« lachte Hähnlein. Seine Ratschläge machten wenig Eindruck auf ihn.

»Ja, vor die Füße, vor die Füße, wirf es ihnen vor die Füße!« schrie Ackermann laut und wütend.

»Aber, was dann, Ackermann, hörst du?« fragt Hähnlein. »Gefängnis – frage Kamerad Schmitt, der dem Gefreiten eine Ohrfeige gab. Lieber den Heldentod als das Gefängnis! Hunger und Prügel.«

»Die Verruchten!« schrie Ackermann.

Hähnlein lachte wieder laut und heiter. Und obwohl Herbst vom Fieber glühte, erschauerte er bei diesem sonderbaren Lachen.

Aber, ob er, Ackermann, die Strafkompanie vergessen habe? Teufel von Vorgesetzten – Verbrecher – Zuchthäuslerkleidung – die ehrlichen Kameraden spucken dich an – Sträflingsarbeit im Feuer, Hunger, Prügel, Läuse, Krankheiten –

Also fort mußt du? dachte Herr Herbst. Gut, gut, daß du fort kommst!

Er fürchtete sich vor Hähnlein in der letzten Zeit. Gestern traf er ihn auf der Treppe: ohne Regung stand er, erstarrt, den Kopf gesenkt, einen Fuß in der Luft, die stechenden, glitzernden Augen auf den Boden gerichtet. Er hatte es nicht gewagt, an ihm vorbeizugehen und war umgekehrt.

So, ja, genau so hatte auch sie gestanden – seinerzeit – immer in den Ecken, zuerst mitten in den Zimmern, endlich nur noch in den Ecken und unter den Türrahmen – bevor sie, hm, bevor sie . . .

Gut, daß du aus dem Hause kommst – 327

Nun aber hätte er beinahe laut herausgelacht! Hähnlein sprach von der Musterung, den Skeletten, Krüppeln, Krummen und Lahmen, und er, in seinem Bett, sah alles deutlich und wunderbar klar vor sich. Wie sie humpelten, wie sie krochen, wie die Knochen spitz durch ihre Haut stachen! Nur einer aber war frei gekommen, er fiel in Krämpfe und wurde hinausgetragen.

Nun kam also jener, ein Riese von Gestalt, der Blut in die offene Hand spuckte und es dem Arzt zeigte. Aber der Arzt, o nein, er war nicht um eine Antwort verlegen. Er sagte, der Arzt: Die Luft im Felde ist besser als in Berlin, solange einer nicht den Kopf unter dem Arm trägt, muß er hinaus. Fertig! Und da kam dieser andere, der eine offene Wunde am Rücken hatte, man konnte den ganzen Finger hineinstecken – aber auch das half nichts. Immer vorwärts, sagt der Arzt, bei so jungen Leuten heilt das rasch. Nein, er war nie um eine Antwort verlegen, man muß es ihm lassen. – Nun aber, nun also kam Hähnlein, unser Hähnlein an die Reihe. Es half ihm alles nichts, was er vorbrachte. Sein Lungenschuß, seine Atemnot – prächtig geheilt, sagte der Arzt, die Bureauluft ist nicht gut für Sie. Aber auch die Schwindelanfälle, die von dem Granatsplitter im Kopf herrührten, das Zittern – auch das half Hähnlein nichts. Sollen denn nur gesunde Leute totgeschossen werden? fragte der Arzt. Hahaha! Richtig, weshalb nur gesunde?

Ja, also Hähnlein saß in der Patsche und konnte es noch immer nicht begreifen.

Und wieder brodelten die Stimmen. Lange Zeit. Kein Wort zu verstehen. Dann aber lachte Hähnlein wieder laut heraus, und die Stimmen verloren sich auf dem Korridor.

»Mut, Kamerad!« rief Ackermanns Stimme.

Hähnlein lachte und sagte irgend etwas. Er schlich draußen an der Türe vorüber und pfiff leise vor sich hin.

Augenblicklich hörte Frau Hähnlein auf zu beten. Sie 328 stellte sich schlafend, schnarchte sogar ein wenig. Nach einer Weile fragte sie: »Was tust du?«

»Ich rauche eine Zigarre«, antwortete Hähnlein mit ruhiger Stimme.

Und nun wurde es still, ganz still. Nun war die Zeit gekommen für ihn, Herrn Herbst, seinen Triumph auszukosten!

Sanft glitt sein Bett dahin, eine angenehme Hitze kochte in seinem Körper, heiß fuhr der Atem aus seinem Munde. Prachtvoll, berauschend, rot funkelte die Finsternis. Am Fenster wallte der Nebel, auf und ab, drückte sich gegen die Scheiben. Und drunten: horch! Ja, deutlich hörte er ihren Schritt, dumpf wie der Schlag seines Herzens in der Brust. Da gingen sie auf und ab, die Männer mit den Knotenstöcken, das grüne Hütchen eilte durch den Nebel die Straße herauf, nachzusehen, zu kontrollieren.

Und er, nebenan, ahnte nichts! Raschelte mit Papieren, zerriß sie, klapperte auf seiner Schreibmaschine, ahnungslos. Sah er nicht das grüne Hütchen eilen? Nein, nein, blind war er, taub war er.

Nun rasselte er mit dem Ofen, es roch nach verbranntem Papier. Und schon gingen die Schritte auf und ab, lauter, immer lauter . . . .

Sollte er an die Türe pochen und ihm zurufen: Horch, horch! Öffne das Fenster und sieh es eilen –!

Aber nein, nun war ja die Stunde gekommen, die wonnige, seinen Triumph auszukosten!

Heute – hoho – heute hatte er es gewagt! Den Hut gezogen, ganz dicht vor ihm, ganz dicht! Vor dem Hause in der Lessingallee hatte er gewartet, bis die graue Limousine kam. Und dann – den Hut gezogen, wie gesagt. Mitten in den Lichtschein der Automobillampen war er getreten, in den blendenden Lichtkegel der Lampen!

Und der General? Er war erschrocken – erschrocken, sollte man es glauben, vor ihm, einem alten ohnmächtigen 329 Mann, ohne Rang und Würde, einem Trinker, mit dem es bergab ging, täglich mehr und mehr bergab, erschrak er – der Gewaltige! Fuhr zurück, und seine Augen waren voller Schrecken . . .

Ja, keine Nachsicht mehr, nicht die geringste! Tag und Nacht wollte er vor ihm auftauchen, keinen Schritt sollte er künftig tun – er war da!

Und wie er erschrak! Wie er zurückfuhr! Deutlich sah er es vor sich. Das breite starre Gesicht wankte, nicht Schrecken, nein Entsetzen spiegelte sich in den Zügen. Der General taumelte einen Schritt zurück – zwei – er lief! Und er, den Hut in der Hand, lief hinter ihm her. Wie schnell er doch lief! In seinem Mantel mit den roten Aufschlägen. In seinen Hosen mit den roten Streifen! Wie das Entsetzen ihn vorwärts peitschte – und doch war es spielend leicht, ihm zu folgen. Rascher, immer rascher rannten sie beide in die rotfunkelnde Finsternis hinein. Und der Nebel donnerte! Ballen von Qualm warf die schwarze Stadt aus, wie ein Vulkan, Ballen um Ballen, himmelhoch donnerten die Wolken von Qualm.

 


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