Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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9.

Sogar bis in Stifters Diele war die Welle der Begeisterung gedrungen. Man vernahm heute sogar Lachen, das helle Lachen einer Dame, ein sonst ganz unerhörter Vorgang in Stifters Etablissement. Knall! Schon knallte es, ganz wie an der Front, wenn die Flieger kamen. Drei, vier Tische tranken Sekt.

Man feierte den Sieg, wollte nicht kleinlich sein heute, ein Glas auf das Wohl der herrlichen Burschen da draußen leeren. Die beiden Rittmeister, die den General zuweilen irritierten, hatten einen ganzen Kreis von Freunden geladen, und der raunende Oberkellner schleppte Flaschen unter beiden Armen. Ein Toast – und dreimal, gedämpft, aber begeistert, hurra! Die Kelche klirrten.

Mit Neid beobachtete Otto die Ausgelassenheit nebenan. Wie gerne wäre er bei ihnen unten gewesen. Ja, man 293 mußte es ihnen lassen, sie legten ein ordentliches Tempo vor! Papas Gesellschaft dagegen – nun Gott sei Dank war es nur dieser eine Abend. Er hatte es Papa heute nicht abschlagen können. Schließlich war er ja um zehn Uhr, elf Uhr spätestens frei. Von elf Uhr an wurde er erwartet.

Schweigend nahm der General die ersten Gänge ein. Seine Augen waren geweitet, und der Blick ging in die Ferne. Er dachte an den 4., 5. und 6. August – damals,

Er hörte deutlich das Feuer, das furchtbare Feuer, das damals rings um ihn tobte – so, genau so, würde es heute da draußen toben, rollen wie die Brandung eines höllischen Meeres – von Horizont zu Horizont. Krachen, Stampfen, der Himmel stürzt ein, und die Erde klafft in Spalten. Ja, sie sollen es jetzt nur schmecken, das Gelbkreuz und Blaukreuz – diese Unbelehrbaren! Ein Lächeln ohne Erbarmen, voll grausamen Triumphs, umspielte die blauen Lippen des Generals.

Deutlich sah der General das rauchende Schlachtfeld vor sich. Aber, was er nicht sah, das war der kleine, krummbeinige Schneider Hanuschke – der seinerzeit, als Ordonnanz, versehentlich in sein Arbeitszimmer rannte, und den Unwillen Seiner Exzellenz erregte – dieser Schneider Hanuschke, mit dem Querschläger zwischen den Mausaugen, der in dieser Minute, da der General einen Spargel durch die Zähne zog, um sein Leben lief. Nein, ihn sah er nicht.

Wie ein Blitz fegte der kleine, krummbeinige Hanuschke über einen zerwühlten Acker und verschwand in derselben Sekunde in einer Erdspalte, da der General die ausgesogene Spargelstange auf den Teller legte.

Man hatte ihn zu den Strippenflickern kommandiert, das heißt sie mußten die zerstörten Telephonleitungen ausbessern. Eine böse Sache.

Im gleichen Augenblick knallte es auch schon, und Hanuschke zog den Kopf ein. Dann wischte er sich mit dem 294 Ärmel den Schweiß vom Gesicht – ganz wie damals, als er das Arbeitszimmer des Generals hinter sich hatte, mit der gleichen Bewegung – und schon flitzte er wieder wie das Wetter selbst über den Acker, und schon stürzte er sich wieder in ein Loch hinein, diesmal in einen Granattrichter. Dieser Teufel, dieser verfluchte Teufel, keuchte er und horchte – (der General goß eben Fachinger in sein Glas) – niemals in seinem Leben hatte der Schneider etwas Derartiges erlebt. Er, er ganz persönlich, wurde von einem englischen Flieger verfolgt, der ihn für einen Meldeläufer oder Gott weiß was hielt. Dieser Teufel ging bis auf zehn Meter herunter, erspähte ihn immer wieder und warf kleine Bomben herab. Er sah deutlich sein Gesicht, die kleine Bombe in der Hand, selbst den gestutzten kleinen Schnurrbart über den Zähnen – dieses Granatloch bot keine genügende Deckung, und wieder schoß der kleine Schneider dahin – jenem Wäldchen zu: erreichte er es, so war er gerettet. Der Schweiß rann ihm in Strömen übers Gesicht. Solch ein Teufel, ein verfluchter!

Der General zog eine neue Spargelstange durch die Zähne.

»Und du?« fragte er, ohne Otto anzusehen, nach seiner Gewohnheit.

»Wie beliebt, Papa?«

»Und du?«

»Was soll ich?«

Der General, in Gedanken, schwieg eine Weile, dann begann er wieder: »Ich meine – für dich muß es doch unerträglich sein, nicht an der Front zu sein – gerade jetzt?«

Otto errötete.

»Jetzt, wo für ein Jahrhundert oder länger der Lauf der Geschichte bestimmt wird. In vier Wochen vielleicht, sagt der Arzt?«

»Vier Wochen ist der früheste Termin.« 295

»Der früheste –?«, der General wiegte bedauernd den Kopf. »Weiß Gott, wie die Lage in vier Wochen sein wird, wenn es so weitergeht.«

Nun, Gott mochte es wissen und seine Freude daran haben, ihm, Otto, war es höchst einerlei. Er glaubte nicht recht daran, diese ganze Sache kam ihm abenteuerlich im höchsten Maße vor. Er ergriff die Gelegenheit und brachte dem Vater schonend bei, daß er sich im Westen, in der Nähe seines neuen Amtes, ein Zimmer gemietet hatte, weil der Dienst schon morgens um sieben Uhr begann. Die Wahrheit war, daß er sich der väterlichen Kontrolle entziehen wollte.

»Der Dienst in erster Linie«, erwiderte der General. Er hielt inne.

Am Nebentisch wurde ein neuer Toast ausgebracht. Drei kurze Hurras, schon etwas lauter: der Kaiser!

Der Takt gebot, während des Toastes zu schweigen. –

Aber Hanuschke, der Schneider Hanuschke? Was ist mit ihm?

Der kleine, krummbeinige Schneider fegte immer noch über das Feld, dem rettenden Wäldchen entgegen. Sein Hemd, soweit man von einem Hemd reden konnte, klebte naß an seinem Körper. Hatte man je während dieses ganzen Weltkrieges davon gehört, daß man einzelne Leute mit Flugzeugen jagte? Über diesem Wäldchen zerplatzten Schrapnelle, gelbe und graue Spinnen, aber das war schließlich das Paradies gegen diesen englischen Doppeldecker. Seine zerfetzten Hosen klebten an den Schenkeln. Er setzte über einen gefallenen deutschen Artilleristen, der mit aufgeschlitztem Hals dalag, hinweg – schon brauste das Brummen wieder hinter ihm her. Da aber schrie Hanuschke vor Entsetzen auf. Der Engländer mit seinem gestutzten, kleinen Schnurrbart schien jetzt aufs Ganze zu gehen. Er flog dicht über dem Boden, und schien es darauf anzulegen, ihn zu überfahren. Er hatte neulich gesehen, 296 wie ein deutscher Beobachter mit dem Fallschirm aus einem Fesselballon absprang, den ein feindlicher Flieger in Brand schoß. Sollte man es für möglich halten: der feindliche Flieger kam zurück und schoß auf den mit dem Fallschirm abstürzenden Beobachter, der verzweifelt mit den Beinen ruderte. Das sah komisch aus, wie er in der Luft ruderte, und er, mit anderen Kameraden, hatte laut aufgelacht – aber diese Sache war nicht zum Lachen. Im Gegenteil, dem Schneider passierte etwas, was ihm seit dem ersten Gefecht nicht passiert war. Im letzten Augenblick warf er sich zu Boden, und die Maschine rauschte über ihn hinweg. In voller Geschwindigkeit stießen die Räder auf den Boden, daß der Staub aufwirbelte, und die Maschine wie ein Ball geworfen wurde. Sollte er verrecken, der Teufel! Aber der Teufel kletterte in die Höhe und drehte wieder um. In seiner Verzweiflung lief der kleine Schneider ihm entgegen, durch, krach, aber durch, Glück mußte man haben. Wirbelnd wie eine Windmühle, mit Beinen und Armen fegte er dem Wäldchen zu. Plötzlich aber versank buchstäblich der Boden vor seinen Füßen. Er stürzte und wurde von einer Welle von Erde zugedeckt. Er rang nach Luft, übergab sich und machte sich bleich und völlig kraftlos von der Erde frei. Etwas ganz Unerwartetes war geschehen, etwas, womit er gar nicht gerechnet hatte: eine Granate hatte eingeschlagen.

Zitternd taumelte er vorwärts, keine Kraft mehr. Sein Gesicht blutete.

Zwanzig Schritte noch, zehn Schritte – da war er.

Dampfend warf er sich unter die Bäume und weinte. Es war kein geringer Schreck gewesen. Und er dachte an den Volltreffer seinerzeit – bei Souchez – wie der Feldstecher neben ihm herunterkam – und er dachte, daß er einmal anstatt ins Zimmer Nummer 6, ins Zimmer Nummer 7 lief und plötzlich einem General gegenüberstand. Hätte er diese Dummheit nicht begangen, damals, 297 wer weiß, ob er nicht heute noch gemütlich in Berlin säße?

Ja, er weinte, aus nervöser Erschöpfung, aus keinem anderen Grunde, denn die platzenden Schrapnelle, die Batterien suchten, störten ihn nicht im geringsten.

Gerade als der General bei dem gefüllten Pfannkuchen angekommen war, war Hanuschke in seinem Wäldchen verschwunden.

Der General handhabte einen Zahnstocher.

Sein Blick ging, etwas düster, über die Tischgesellschaft der beiden Rittmeister hinweg.

»Ruth macht mir Sorge!« sagte er.

»Ruth?«

»Ja. Sie macht mir Sorge!«

»Aber dieser Dietz war ja auch nichts für sie, Papa. Ein oberflächlicher Mensch.«

»Oberflächlicher Mensch?« Voller Erstaunen blickte der General Otto an.

»Ja, gewiß. Herzlich oberflächlich, Papa.«

Der General schüttelte den Kopf.

»Das ist es nicht . . .« Und er versank in Nachdenken. Nun, Otto konnte sich wohl denken, was es war! Ruth war wahrscheinlich unvorsichtig genug gewesen, es sah ihr ähnlich, vor Papa ihre Anschauungen auszupacken. Otto hatte sich nie viel um Ruth bekümmert, wie es in ihrer Familie von jeher üblich war, jeder lebte für sich. Aber in letzter Zeit sprach er häufig mit ihr. Er trank sogar einmal Tee in ihrem kleinen Salon, immerhin eine Leistung für einen Bruder. Seit er aber mit Ruth über Tod und Teufel, wie er es nannte, gesprochen hatte, hielt er Ruth für einen der vernünftigsten Menschen seines ganzen Bekanntenkreises, von der Verwandtschaft gar nicht zu sprechen. Sie hatte sich ihr Urteil über die verschiedensten Dinge gebildet – er wollte nur so viel sagen – noch vor einem halben Jahr hätte er sie für völlig verrückt gehalten. 298

In mancher Beziehung allerdings schien es sogar ihm, daß ihre Ansichten – besonders für eine Dame, eine Dame – kein Wunder – der arme Papa!

Er forschte nicht weiter, und der General schwieg.

Eine blaue Flamme hypnotisierte Otto, sie tanzte mitten auf dem Tisch der Gesellschaft nebenan. Es war eine »Feuerzange«, eine hochprozentige Bowle. Ja, wie gerne wäre Otto hinabgestiegen.

Ganz ohne jeden Übergang begann der General plötzlich über die Regierung zu sprechen, deren Unfähigkeit klar zutage trat, wohin sollte es führen? Und der Kaiser? Nur sie allein, jene Männer, die die Armee von Sieg zu Sieg führten, waren imstande, den Frieden zu machen.

Es entging dem General völlig, daß die Gäste des stillen Restaurants in diesem Augenblick von einer eigentümlichen Erregung ergriffen wurden. Erst als alle Köpfe sich nach einer bestimmten Richtung drehten, wurde auch Otto aufmerksam. Irgend etwas wie ein großer Hund schien über die Teppiche des Restaurants zu schleichen, und die Gäste mit Unbehagen, ja Grauen, zu erfüllen. Einige runzelten die Stirne, die Brauen der Damen waren entsetzt hochgezogen. Am Tisch der Rittmeister stockte plötzlich die Unterhaltung.

Es war indessen kein Hund, der über die dicken Perserteppiche von Stifters Diele kroch, sondern ein Mensch, ein Soldat in Feldgrau, der sich auf zwei kurzen Krückstöcken dahinschleppte und seine gelähmten Beine hinter sich herschleifte, während schreckliche Zuckungen seinen Körper schüttelten. Auf seinem Kopf saß eine kleine graue Feldmütze, und erst an der Mütze erkannte Otto, daß der Krüppel ein Soldat war. Unerhört, dachte er, einen solchen Menschen auf die Öffentlichkeit loszulassen!

Die Gewandtheit des Oberkellners half den Gästen über die peinliche Szene rasch hinweg. Es gelang ihm, das menschliche Gespenst, das direkt aus den Schützengräben 299 in Stifters Diele gekrochen kam, mit seinem raunenden Gebrummel zum Umkehren zu bewegen.

Die Gäste atmeten auf. Sofort setzte am Tisch der Rittmeister wieder die fröhliche Unterhaltung ein.

Der General hatte in seiner Nische von dem ganzen Vorfall nicht das geringste bemerkt. Während aber der Oberkellner die Türe öffnete, um den Unglücklichen hinauszulassen, drang das feierliche Läuten der Glocken herein, die den Sieg einläuteten.

Da ergriff der General das Glas und erhob sich.

»Unser Vaterland, Otto!« sagte er.

Und Otto sah, zu seiner größten Überraschung, daß die Augen des Generals feucht schimmerten. Nie in seinem Leben hätte er das für möglich gehalten.

Auch sie wird nicht wenig staunen, wenn ich es ihr erzähle, dachte er.

 


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