Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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4.

Die beiden jungen Offiziere eilten mit raschen Schritten die nasse dunkele Straße entlang. Beide waren verabredet, mit den Schwestern Klara und Hedi Westphal, die zu Doras Kreis gehörten. Übrigens wußte keiner von des andern Rendezvous. Das ganz nebenbei.

Otto schlug den Kragen des Mantels hoch und fluchte.

»Furchtbar, entsetzlich!«

»Wie beliebt?«

»Einfach entsetzlich!«

»Sie meinen, Otto?«

»Dieses Geschwätz! Diese Teegesellschaft! – Ich gehe übrigens links, Heinz. Ich muß zum Kaiserhof.« Otto machte erneut den Versuch, Heinz abzuschütteln, weil er allein sein wollte. Was ahnte dieser Knabe –? 37

Aber Heinz verstand ihn nicht. »Es ist einerlei, wo ich einsteige. Das heißt natürlich, wenn ich lästig bin?«

Heinz hatte Mühe mitzukommen, denn Otto machte rasende Fahrt. Mit Genuß atmete er die feuchte Luft ein, die aus dem Tiergarten in alle Straßen dieses Viertels strömte. Welcher Qualm bei Frau v. Dönhoff! Dora rauchte englische, etwas parfümierte Zigaretten, sie bekam sie jetzt noch – woher, das war rätselhaft, aber sie bekam sie jedenfalls. Auch Heinz war glücklich, Doras Salon entronnen zu sein. Die Nähe des Generals hatte ihn bedrückt. Er hatte auch nicht den Mund aufgetan und war sich albern, kindisch und ungeheuer dumm vorgekommen. Die Ordenssterne des Generals und besonders der gestickte Kragen (war ein Komet darauf gestickt oder was sonst für eine sonderbare Sache?) hatten seine Phantasie verwirrt. Glücklicherweise, ja, es war in der Tat ein Glück, hatte ihn der General gar nicht beachtet. Nur bei der Begrüßung hatte er ihm flüchtig die Hand gereicht und ihn mit jenem raschen Blick gestreift, mit dem hohe Offiziere Untergebene in Gesellschaft begrüßen: kameradschaftlich, verstehst du, aber welche Distanz! Übrigens, diese Hand des Generals, sie war stählern und – eisig kalt. Nie würde er diesen Händedruck vergessen. Schon aber kehrte seine alte Sorge zurück.

»Glaubt Ihr Herr Vater wirklich, daß wir im Sommer in Paris sein werden?« wandte er sich hastig an Otto.

Otto fuhr aus seinen Gedanken auf. Er war so zerstreut, daß er einen Augenblick stehenblieb. Dampfsäulen fuhren aus seinem Mund, so schnell atmete er, es war kalt geworden. Er blickte Heinz in die Augen, verstand erst jetzt und lachte plötzlich.

»Natürlich glaubt er es. Er glaubt es schon seit über drei Jahren. Schon im August 1914 hat er mir Lehren mitgegeben, wie ich mich in Paris zu benehmen hätte. Er war übrigens nie in seinem Leben in Paris!« 38

»Also, er glaubt es?« sagte Heinz nachdenklich.

»Ja, ja, und er wird es glauben und wenn die Franzosen in Hannover stünden. Er würde es auch dann noch glauben. Er ist so.«

»Aber glauben auch Sie es?«

Wieder lachte Otto kurz auf. »Ich?« sagte er, knurrte er. »Ich bin doch kein Narr!« Nein, er, Otto glaubte nicht mehr an den Sieg der deutschen Waffen, wie viele Frontoffiziere.

Kein Narr?

»Aber Ihr Herr Vater, Otto, der General –?«

Otto lachte nun laut und belustigt. »Die Generale haben ihre eigene Meinung, lieber Heinz! Sie können das ja noch nicht verstehen, es ist ein Kapitel für sich. Ich habe einmal bei Langemarck dreißig Prozent meiner Leute liegenlassen, und mein General sagte: Na, das ging ja noch gelinde ab. Wörtlich! Mein alter Herr, übrigens – er will das Reich Karls des Großen wieder errichten.«

»Sie glauben also nicht daran?« Heinz atmete erleichtert auf. »Es wäre ja auch zu fatal,« fügte er hinzu, »jetzt, da ich eben Feldpilot geworden bin.«

Fast vier Jahre Krieg und immer noch dieselbe Geschichte, dachte Otto. Da er aber schwieg, versuchte Heinz, ihm seinen Seelenzustand deutlicher zu machen.

»Sie können mich nicht begreifen«, rief er aus. »Sie Glücklicher! Sie fahren ja morgen zurück zur Front!«

Otto knöpfte den Mantel fester zu. Plötzlich fror er. Der Gedanke an die Front benahm ihm für einen Augenblick den Atem. Die ganze Grausigkeit der Zone des Todes, in der es nur zerschossene Gräben, eingeäscherte Dörfer, zersplitterte Wälder gab, legte sich wie ein Alp auf seine Brust. Weshalb auch, zum Teufel, mußte er jede Minute daran erinnert werden, daß er morgen wieder zur Front zurück sollte? Jeder Mensch, der die Front nicht kannte, tat so, als fahre er zu einer Hochzeit. Ja, tatsächlich man 39 beglückwünschte ihn! Die Leute allerdings, die sie kannten – nun, die sagten gar nichts – höchstens ein verstehendes, etwas schadenfrohes Lächeln.

Die Kälte in der halbdunkeln Straße kroch an ihm empor, in seine Uniform hinein. Er erinnerte sich voller Grauen an die Erdlöcher, in denen er, völlig unverständlich, Jahre seines Lebens verbracht hatte, an den eisigen Hauch, der von den Gräben ausging. Und plötzlich, ganz unvermutet, schnürte ihm eine sonderbare Empfindung die Brust zusammen – Angst. Ja, Angst! Gleichzeitig sah er einen Feuerschein vor seinen Augen, der ihn erschreckte: den kurzen hellen Blitz des explodierenden Geschosses. Er erbleichte. Das Geräusch einer um die Ecke fahrenden elektrischen Bahn hatte ihm das schleifende Fauchen einer Granate vorgetäuscht.

Immer noch war er schneeweiß im Gesicht und sein Herz zuckte – genau wie draußen, wenn sie heranzischten.

»Hören Sie, Heinz,« sagte er, »wie diese Elektrische um die Kurve fährt? Genau so kreischen und fauchen die Granaten. Sie werden noch bald genug hinauskommen.«

Heinz beschleunigte unwillkürlich den Schritt. »Ich freue mich unbändig«, rief er aus, indem er die strahlenden Knabenaugen zu Otto hob. »Denken Sie, ich war fünfzehn, als der Krieg ausbrach, und ich konnte ja nicht hoffen, noch mitkämpfen zu dürfen.«

»Auch wir, wir haben uns unbändig gefreut, als die ersten Granaten einschlugen«, entgegnete Otto und gab seiner Stimme einen leichteren und heiteren Klang. Immer noch pochte und zuckte sein Herz. Er wollte Heinz auch nicht ahnen lassen, was in ihm vorging. Dieser Junge! Sollte er ihm sagen, daß er in Angstschweiß gebadet –betete? So unglaublich es klingt. Betete! Er! Übrigens – das ging ihm durch den Kopf – bei Souchez – die Toten lagen mit ihren genagelten Stiefeln in Scharen draußen – sie hatten schwere Verluste, ein abgeschlagener Angriff – da 40 kam ein bayrischer Priester. Der stieg auf den Graben – im Feuer! – das Kreuz erhoben und segnete die Gefallenen ein. Die Franzosen schossen – aber er, er stand – mit dem Kreuz in der Hand. Friede sei mit Euch! Schrecklicher, herrlicher Augenblick! Er glaubte, glaubte! Die Kugeln waren Wind für ihn. Aber er, Otto, er betete – ohne zu glauben, das ist etwas ganz anderes. Sollte er Heinz erzählen, wie sie liefen – wie Ratten, auf die geschossen wird – hin und her – wie Ratten – von Unterstand zu Unterstand – und zwar jeden Abend? Hohoho! Es wurde Scheibe geschossen.

»Ja, auch wir haben gelacht, als die ersten Granaten einschlugen. Ich erinnere mich deutlich. Es war beim Vormarsch. Plötzlich aber hing ein Bein auf einem Obstbaum –«

»Wie? Ein Bein?«

»Ja, ein Bein. Mit dem Stiefel. Es hing im Kniegelenk auf einem Ast.«

»Brr!«

»Ja, und in diesem Augenblick hörten wir auf zu lachen und Hurra zu schreien, denn wir hatten ja jeden Einschlag mit Hurra begrüßt. – Übrigens ist es natürlich für Sie sehr interessant, da Sie die Scherze noch nicht kennen – für Sie als Flieger ganz besonders.«

»Sind Sie jemals im Felde geflogen? Nein? Ich stelle es mir wunderbar vor. Ich habe Tausende von Fliegeraufnahmen gesehen, und ich glaube, daß ich gleich vertraut sein werde mit allem. Nur das Warten ist schrecklich.«

»Vergessen Sie nur nicht, wie gesagt, daß da draußen scharf geschossen wird.«

Der junge Sterne-Dönhoff brach in ein heiteres Lachen aus. »Aber natürlich, das ist ja gerade das Interessante bei der ganzen Sache,« rief er aus, »im Feuer fliegen!«

Plötzlich, ganz unvermittelt, blieb Otto stehen und streckte Heinz die Hand hin. »Ich muß jetzt – Sie verzeihen, Heinz – ich muß gehen!« Immer noch war er etwas bleich. 41

»Auf Wiedersehen, Otto. Und hoffentlich im Felde!«

»Hoffentlich!«

Er hat auch seinen Knacks weg! dachte Heinz. Nein, wie nervös er ist! Und doch soll er zum Pour le mérite vorgeschlagen sein!

 

Wie ein Rasender stürzte Otto die halbdunkle Straße hinab. Heinz sah ihm verwundert nach.

Gerechter Gott, sollte man es für möglich halten? Auf gesunde Wiederkehr! Er war gekommen, um ein paar Worte mit ihr zu sprechen. Ein Lächeln, eine gepuderte Hand. Alles? Und eine ganze Gesellschaft saß da, zu allem Unheil kam noch der Alte dazu –!

Da droben gab es keinen Stern, kein Licht, keine Wolken, nichts. Nur eine dicke fettige Schicht von Ruß, aus der zuweilen flimmernde Tropfen fielen, lag auf den häßlichen dunkeln Häusern, die vor Feuchtigkeit schwitzten. Und schon war Otto in einem Blumengeschäft verschwunden.

Tulpen, Flammen und Glut, hellrote Rosen.

»Das Stück kostet –«

»Ich möchte alle.«

»Alle?« Sie kosteten ein Vermögen.

»Einen letzten Gruß!« schrieb Otto. Der neugierige Blick der kleinen rothaarigen Verkäuferin, die ihn durch die Blumensträuße beobachtete, verwirrte ihn. Er wurde abwechselnd bleich und rot, während er die paar banalen Worte und die Adresse schrieb. Es mußte ja ganz unverfänglich sein, jeder Mensch, dieser Petersen und diese Frida, die herumspionierten, mußten die Karte lesen können. Ohne diese Rücksichtnahme hätte er wohl gewußt, was er schreiben sollte.

Er hätte schreiben können: Ich werde Dich vor mir sehen – und wieder erbleichte er.

Die Liebe ist Gift, dachte der rothaarige Irrwisch und lächelte spöttisch hinter dem Offizier her. 42

Ruhiger schritt Otto dahin. Plötzlich, sonderbar, hatte er Zeit! Morgen früh um sieben Uhr ging der Zug. Nun wohl, das waren immerhin noch gute zwölf Stunden. Der Abend lag vor ihm – und die ganze Nacht.

Unangenehm nur war die Verabredung mit jener Dame im Kaiserhof. Sehen wir zu, daß wir die Sache hinter uns bringen! Indessen – keine Eile – mochte sie getrost noch etwas warten. Er hatte es gewiß nicht an Deutlichkeit fehlen lassen, oder? Schluß, zu Ende, sei ein tapferes Mädchen usw. usw. Wie man in solchen Fällen zu schreiben pflegt. Nein, nach diesem Brief gab es ein Zurück nicht mehr. Und doch hatte sie ihn wieder beschwätzt. Sie begriff, sie war völlig einverstanden, zu Ende, natürlich, aber sie wollte ihn vor seiner Abreise noch einmal kurz sehen, wenn auch nur für einen Augenblick. Sie schrieb, daß sie von 5 bis 9 Uhr im Kaiserhof auf ihn warten werde. Er würde gewiß eine Minute finden. Von 5 bis 9 Uhr! Es war natürlich ganz unmöglich, eine junge Dame vier Stunden lang vergebens warten zu lassen, das sah er wohl ein.

Aber sie soll wenigstens etwas zappeln, dachte er und zündete sich gemächlich eine Zigarette an. Er machte sogar noch einen unnötigen Umweg.

»Diese Hedi!« Verächtlich stieß er die Luft durch die Nase.

Wie der General verachtete auch Otto im Grunde seines Herzens die Frauen.

Er kaufte eine Abendzeitung und durchflog sie unter einer Laterne.

 


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