Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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2.

Schon wanderte die kleine Flagge auf der Karte wieder rückwärts. Es war der Zug, der den ersten Brief bringen konnte. Konnte! Aber er kam nicht. Nun kam der Zug an die Reihe, der den ersten Brief bringen sollte. Aber er kam nicht. Nun kam der Zug, der den ersten Brief bringen mußte. Aber er kam nicht. Die Stunden blieben stehen. Die Uhren tickten, das Herz schlug im 161 Halse, und in der Nacht saß Klara mit offenen Augen im Bett.

Endlich, am sechsten Tage, kam er.

»Hier ist ein Brief, kleine Braut«, sagte Hedi, und Klara errötete. Hedi hatte ein überlegenes, aber gutmütiges Lächeln für die Schwester. Dieselbe Geschichte! dachte sie. Sie wird Briefe schreiben, jahrelang auf den Briefträger warten . . . Es ist immer das gleiche.

»Gib, bitte!« sagte Klara, und ihr Atem stockte.

»Du versprichst mir, auf Frau v. Dönhoffs Hausball mitzukommen?« (Allein würde der Geheime Rat Hedi nicht gehen lassen!)

»Ich verspreche! Feierlich!« –

Welches Glück, beim Himmel! Und welche Enttäuschung, dieser Brief . . .

»– wir haben ein reizendes Quartier. Ein kleines Schlößchen. Daneben liegt unser Flugplatz. Mich haben sie in einer Dachkammer untergebracht. Wir haben eine Enten- und eine Hühnerzucht. Die Mannschaften besitzen sogar ein kleines Wildschwein.« Ja, was ging sie das an?

Herrlich ist es hier, herrlich, liebe Klara!

Tag und Nacht krachen die Kanonen, und fast in jeder Stunde knallen die Abwehrgeschütze ganz in unserer Nähe, Schwärme von feindlichen Fliegern kommen herüber. In der Nähe nämlich steht im Walde ein weittragendes Geschütz. Wenn es schießt, ist es wie ein Erdbeben. Ein balkendicker Feuerschein fährt dann aus dem Walde.

Das Wetter ist stürmisch und trüb, und gestern habe ich mich mit dem kleinen frechen Meerheim – Du kennst ihn ja – etwas in der Nachbarschaft herumgetrieben. Er ist eine Art Zyniker, aber wir kommen trotzdem ganz gut miteinander aus. Wir waren mit dem Auto in Q. Schutt und Asche! Furchtbar anzusehen! Die Kathedrale wurde von französischen und englischen Geschützen in Trümmer geschossen und geriet zuletzt in Brand. Ein Symbol des 162 Schreckens und des Krieges. Am Abend speisten wir in der Etappe, wo mich der kleine Meerheim bei Bekannten einführte. Sie führen ein herrliches Leben, essen und trinken und feiern ein Fest nach dem andern. Gerade als wir kamen, feierte ein Rittmeister sein Eisernes Erster. Es wurde furchtbar gekneipt, und zuletzt ging es böse her. Wie ekelhaft! Ich habe nicht einen Tropfen angerührt, denn ich halte das Versprechen, das ich Mama gab. Neben dem Kasino liegt das Lazarett, wo die armen Kerle von vorn hereingebracht werden. Auf dem Heimwege begegneten wir einem Wagen voller Kisten, nur notdürftig zugenagelt. Sie wurden zum Friedhof gebracht. All das ist schrecklich. Das sind die Schattenseiten des Krieges, der sonst herrlich ist, Klara, und alle wunderbaren Eigenschaften des Menschen weckt, Heldentum, Aufopferung, Kameradschaft.

Die Kameraden sind alle reizende Leute. Prachtvoll ist unser Chef, Hauptmann Wunderlich, geliebt und bewundert von Offizieren und Mannschaften. Es ist rührend zu sehen, wie sie Hauptmann Wunderlich alle behilflich sind, wenn er in die Maschine steigt. Er wird ja hineingehoben. Aber alle tun so, als ob sie ihm immer nur ein bißchen behilflich wären und er aus eigener Kraft hineinklettere.

Das Wetter war sehr schlecht die ganze Zeit her, die Sicht gleich Null. Nur einmal machten wir einen Geschwaderflug, und das war wunderbar für mich, das erstemal gegen den Feind zu fliegen. Ich sang oben in der Luft.

Schon hatte Klara Tränen in den Augen. Und ich? dachte sie, und ich? Er schreibt ja kein Wort – keine Silbe . . .

Die Schilderung des Geschwaderfluges, die zwei volle Seiten einnahm, überflog sie. Mit Tränen in den Augen las sie, daß Heinz den Spitznamen »Kücken« bekommen hatte. Den ganzen Tag heißt es nun: »Wo ist das Kücken? Kücken, kommen Sie mal her!« 163

Und von ihr, von ihrer Liebe . . .?

»Neulich war auch P. P. da, Du weißt schon, wen ich meine. Er besuchte uns. Er kam im Automobil angefahren, das er selbst lenkte. Er war sehr elegant gekleidet, und seine Offiziere trugen phantastische Mäntel aus wunderbarem reichen Leder, herrliche Stulphandschuhe, überhaupt waren sie tipptopp. P. P. hatte die Tasche voller Zigaretten, die er mit vollen Händen an die Mannschaften verteilte. Ich mußte vorfliegen, und ich machte fünfmal Looping in tausend Meter Höhe –«

Das alles interessierte Klara nicht.

Es interessierte sie auch nicht, was Heinz über den berühmten bayrischen Kampfflieger Seitz schrieb, der den ganzen Tag Geige spielte und seinen kleinen Dackel mit in die Maschine nahm. Dann war viel von Ordensauszeichnungen die Rede. Heinz wollte nicht eher auf Urlaub fahren, bevor er nicht die beiden Kreuze besaß. Und dann kam der pour le mérite an die Reihe! Ach, du lieber Himmel, gewiß würde sie stolz auf ihn sein, aber . . .

»Ich fiebere danach, mich auszuzeichnen und für mein Vaterland, das große und herrliche Deutschland, zu kämpfen, das ich über alles liebe, und dem ich meine ganze Kraft weihen will. Der schönste Moment meines Lebens wird es sein, wenn ich das erstemal mich mit meinem Gegner da oben messe! Ich werde nicht locker lassen, bis er hinunterrasselt. Über alles werde ich Dir dann schreiben, liebe Klara!«

Dann kamen noch ein paar Redensarten. »Wie geht es Dir? Hoffentlich gut. Hast Du meine Cousine, Frau v. Dönhoff, schon besucht? Was macht Berlin? Eben fängt dieser Bayer Seitz wieder an, Geige zu spielen. Er spielt sehr schön, aber oft übt er stundenlang, bis sie Gegenstände nach seiner Decke werfen.

Nächstens werde ich Dir auch einiges über meine Maschine schreiben. Sie ist ein ganz neuer Typ, klettert wie ein Affe senkrecht in die Höhe. Hauptmann Wunderlich ist sehr 164 zufrieden, und die Kameraden haben für meine Fliegerei sogar etwas wie Bewunderung übrig. Gute Nacht!«

Klara weinte.

Hedi ging durchs Zimmer, aber sie störte die Kleine nicht. Sie wußte genau, was in dem Brief stand, ohne ihn zu lesen. Hunderte solcher Feldbriefe hatte sie bekommen. Sie hätte Klara warnen sollen, sich mit einem Offizier einzulassen. Sie waren ja alle eitle Schwätzer, eitel und oberflächlich, nichts als Prahlereien über Kämpfe und Geschwätz über Ordensauszeichnungen. Sobald sie zur Front kamen, waren sie gänzlich wahnsinnig. Das war Hedis Ansicht.

 

Klara suchte Wolle, um damit ein Paar kleine Pulswärmer zu stricken. Sollte man es für möglich halten, in ganz Berlin gab es nicht einen Strang Wolle? Und früher quoll die Wolle aus allen Schaufenstern, alle Welt strickte Tag und Nacht, Deutschland war vollgestopft mit Wolle. Wie sollte man auf den Gedanken kommen, daß es einmal damit zu Ende gehen könne?

Früher – Klara erinnerte sich deutlich, damals trug sie noch Zöpfe – als der Krieg begann, gab es herrliche Dinge zu kaufen. Jetzt gab es nichts mehr, gar nichts. Höchstens Bücher und schlechte Zigaretten. Rein ausgeplündert schien diese Stadt!

Geschmackvoll und gut sollte alles sein, was sie für Heinz einkaufte – und billig. Denn Klara erhielt nur dreißig Mark Taschengeld im Monat. Sie hatte allerdings schon seit langem gespart . . . Aber allein das Medaillon hatte eine große Summe verschlungen.

»Es ist für meinen Mann, er ist im Felde«, sagte sie, wenn sie einkaufte und errötete bei der süßen Lüge.

»So jung und schon verheiratet, gnädige Frau?«

»Ja, wir sind kriegsgetraut.«

Klaras Augen strahlten. Sie wandelte im Paradies.

Häufig hielt sie sich in der Straße auf, wo Frau 165 Sterne-Dönhoff wohnte. Nur um Heinzens Mutter und Schwestern gelegentlich zu sehen. Selten nur hatte sie Glück. Die Schwestern sahen Heinz ähnlich. Der Mund besonders! Die Damen Sterne-Dönhoff gingen immer in Schwarz. Sie trugen dicht anliegende Wollkleider, flache, schmucklose Hüte, spitze Schuhe. Die Mutter ging immer in der Mitte. Sie sprachen wenig, und sie lachten nie.

»Ich liebe Dich, Heinz, ich küsse Dich, ich drücke Dich an mein Herz. Dir gehöre ich, mit Leib und Seele! Mache nicht Looping und sei überhaupt vorsichtig. Ich werde stolz sein, wenn Du Auszeichnungen erhältst, aber ich liebe Dich auch so. Es ist ganz nebensächlich. Ich war in der Kirche und habe gebetet. Ich habe so schrecklich geweint, daß ich mich schämte. Ich bin ein dummes Mädchen. Ich schicke Dir hier eine neue Locke. Bitte, tue sie in das Medaillon. Ich habe sie in Weihwasser getaucht, bei der ersten hatte ich das vergessen. Verbrenne die erste, versprich es mir! Das mußt Du tun, und so wird der Talisman wirken! Ich habe so inbrünstig gebetet, und vor kurzem konnte ich überhaupt nicht mehr beten. In der Kirche waren sechs Frauen sie beteten wie ich.

Ich lege Dir hier eine ganze Menge Briefe bei, die ich geschrieben habe in diesen letzten Tagen, jeden Tag einen, um mein Herz auszuschütten. Ich lege sie bei, obwohl sie veraltet sind. Du sollst daraus sehen, daß ich immer an Dich gedacht habe.

Von allen Deinen Kameraden ist mir der Bayer Seitz am sympathischsten. Er nimmt seinen kleinen Hund mit in die Maschine, wie rührend ist das!

Berlin ist wie immer. Die Menschen sind mißmutig und niedergeschlagen. Man könnte glauben, sie hätten alle Hoffnung verloren, und doch steht es ja besser als je, wenn man die Zeitungen liest.

Du hast mir nicht geschrieben, ob Du unseren Stern 166 betrachtest. Zwischen zehn und elf Uhr, vergiß nicht. Gestern funkelte er herrlich, und ich mußte so schrecklich weinen. Ich bin so ein dummes Ding, denn ich bin so rasend glücklich.

Hedi ist sehr launisch. Ich glaube, sie ist nicht glücklich. Es scheint, als ob es zwischen ihr und Otto zu Ende sei. Sie spricht geringschätzig von ihm, und das finde ich nicht schön. Wahrscheinlich liebt sie ihn nicht mehr. Aber das ist ja kein Grund Schlechtes über ihn zu sagen und zu sagen, er sei eitel und eingebildet. Wir zanken uns sehr viel. Hedi glaubt nicht, daß die Liebe zwischen zwei Menschen ewig dauert. Aber ich glaube es. Und so geht der Streit hin und her. Was glaubst Du, mein Geliebter? Du brauchst auf diese Frage nicht zu antworten. Ich weiß selbst, was Du glaubst.

Ja, bei Frau v. Dönhoff habe ich Besuch gemacht. Deine Cousine ist eine originelle Frau. Ich traf sie in einem schwefelgelben seidenen Kimono, und sie kann so herrlich lachen. Es wird einem wohl ums Herz dabei! Sonst lebe ich ganz zurückgezogen, gehe auch nicht mehr ins Theater. Denn es scheint mir Sünde, daß die Menschen sich amüsieren, während andere draußen leiden. Wenn ich etwas zu sagen hätte, so würde ich alle Theater schließen. Übrigens hat sich eine schreckliche Unsitte bei uns eingebürgert. Die Leute bringen ihre Brötchen, ihr Abendessen, mit ins Theater, und sobald es dunkel wird, fangen sie an, mit dem Papier zu rascheln und zu kauen. Es ist unerträglich. Du weißt, Heinz, daß wir davon gesprochen haben, auf dem Lande zu wohnen und zu reisen. Davon träume ich. Fräulein v. Hecht, die ich bei Deiner Cousine traf, sagte, die Behörden erlauben mit Absicht Theater, Kinos und Konzerte. Das Volk solle gar nicht zum Bewußtsein kommen, es solle betäubt werden. Überhaupt – sie hat Ansichten, daß man nicht glauben sollte, sie sei die Tochter eines Generals! Wenn sie diese Ansichten öffentlich äußert, so wird man sie einsperren und das mit Recht. Und doch ist sie anziehend. 167 Sie plauderte sehr lieb mit mir, und wir gingen ein weites Stück zusammen. Ich glaube wohl, daß ich sie lieben könnte, wenn sie nur nicht diese schrecklichen Ansichten hätte.

Otto ist noch immer im Lazarett, wird aber bald entlassen. Man sagt, daß er schrecklich niedergeschlagen sei, weil er nicht mehr zur Front zurück kann. Vielleicht sehe ich ihn aber nächstens, denn Fräulein v. Hecht hat mich gebeten, sie zu besuchen, und da treffe ich ihn vielleicht. Hedi lernt nun Schreibmaschine schreiben. Sie sagt, sie will sich nun unabhängig machen, und sobald sie Geld verdient, wird sie ihre Koffer packen. Ich traue es ihr zu, aber Papa wird ihr schon die Meinung sagen.

Heute abend werde ich wieder beten, Heinz! Ich fühle, Gott hat Dich in seinen Schutz genommen. In den letzten Jahren war ich ja leider zu einem völligen Atheisten geworden, und zwar durch Hedi, die nicht an Gott glaubt und behauptet, wenn es einen Gott gäbe, so würde er solch einen Krieg nicht zulassen, wo Millionen Menschen zerfleischt werden.

Lebe wohl, Heinz, und vergiß nicht unsern Stern. Möchtest Du bald wiederkehren, möchte der schreckliche Krieg bald zu Ende sein! Ich bete zu Gott! Mein Herz ist gequält.

Ach, Heinz, ich liebe Dich! Hier, diesen kleinen Zettel schicke ich mit. Er sieht ganz unscheinbar aus, nicht wahr? Aber ich habe ihn mit tausend Küssen bedeckt, und die soll er Dir überbringen.

Deine kleine Frau Klara.

Nebenan ist jetzt ein kleiner weißer Terrier aufgetaucht. Ich habe mich mit ihm angefreundet. Er spielt im Vorgarten mit Papierstücken, die der Wind bewegt – rührend! Auch Paketchen sind schon unterwegs« 168

 


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