Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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11.

Einen Augenblick nur!« Schon hatte der General die Mappe mit den Akten, die heute noch alle bearbeitet werden mußten, aufgeschlossen. Den einen Schlüssel besaß er, den andern hatte sein Bureauoffizier in Händen. Kein unbefugter Blick konnte in diese geheimen Aktenstücke dringen, es war alles bis ins Kleinste wohlorganisiert.

Er lehnte sich im Sessel zurück. Die Teegesellschaft bei 71 Dora hatte ihn ermüdet. Nichts strengte ihn in letzter Zeit so an wie die Gespräche durcheinanderschwirrender Stimmen. Anders die Sitzungen, die er mit einem Zucken der Brauen lenkte! Aber in einer Gesellschaft, wo jeder glaubte sprechen zu können, wann und wie lange und wie laut es ihm beliebte, ja: wie laut, das war es –. Einen Augenblick nur –.

Reserven – ungeheure Heere – wie eine Sturmflut werden sie sich dahinwälzen . . . schon schlief der General.

Kaum aber hatte er die Augen geschlossen, kaum kam das erste tiefe Röcheln aus seiner Brust, da wurde er auch schon wieder geweckt. Etwas pickte am Fenster, wie ein Finger, ein Fingernagel. Er wandte den Kopf: durch die Scheibe starrte ein kleines, glänzendes, stahlblaues Gesicht. Eine faustgroße Larve von leuchtendem Blau – in der Tat, ein intensives Blau, wie eine Spiritusflamme in einem dunkeln Raum – und erloschene Fischaugen mit einem toten Glanz. Von diesem stahlblauen, aus sich selbst leuchtenden Gesicht ging Drohung und Hohn aus, obschon das Gesicht ohne jede Regung durch die Scheiben starrte.

Der Schrecken, den das Gesicht durch die Scheiben strahlte, war so stark, daß der General nun wirklich erwachte. Er hatte, wie er sofort konstatierte, eine volle Stunde verschlafen. Unwillkürlich wandte er den Blick zum Fenster – aber es war natürlich nichts zu sehen, die grünen Vorhänge waren dicht geschlossen. Er räusperte sich, laut und ungeniert, wie es seine Gewohnheit war, und warf einen Blick durch die Vorhänge hinaus auf die Straße. Nichts, natürlich. Regen, Dunkelheit, keine Seele weit und breit.

Plötzlich aber stand dieses Gesicht, das ihn aufgeschreckt hatte, wieder vor ihm – und zwar dicht vor ihm in der Luft des Zimmers – auch die Augen mit dem toten Glanz. Es ist, ja ja, es ist jener – von heute nachmittag, natürlich, dachte der General. Er hatte das Gesicht nachmittags kaum 72 beachtet. Es ist jener kleine Alte, der den Brief überbracht hat.

Ein übrigens völlig wirrer Brief, den er nur überflogen hatte – wirres und törichtes Zeug, was dieser kleine Alte mit dem blauen Gesicht . . . Ja, wo steckte der Brief eigentlich. Hier, nun siehst du, schon dieser Umschlag –.

Der General konnte aber nun nicht mehr widerstehen, obschon die Aktenmappe dickbäuchig dalag, eigentümlich. Er war neugierig geworden, mehr als das. Er entfaltete den Brief und las ihn – langsam, immer langsamer, immer aufmerksamer.

Wie heute abend unter der Lampe des Foyers, stieg Röte in sein Gesicht, aber nicht eine leichte Ziegelröte, sondern – Feuer. Die Stirn legte sich in tiefe Falten –

Wie –? Nein, in der Tat, er hatte den Brief nicht gelesen.

Aber –? Was wollte er – gefallen, auf der Höhe der Vier Winde, auf Quatre vents – nun, und – wie? – sogar von Ruth stand etwas hier, denn Ruth war wohl gemeint – wie? Nein – er hatte den Brief wirklich nur ganz flüchtig überflogen – er erinnerte sich nur, daß von der Bitte um eine Audienz die Rede war.

Wirr – mehr noch, viel mehr als wirr:

– untertänigst bitte ich um eine Audienz. Mein einziger Sohn, Robert, hat unter dem Befehl des Herrn Generals gekämpft. Er ist am 5. August beim Sturm auf Quatre vents gefallen. Er war begeisterter Soldat, Jäger, die einzige Hoffnung und der Stolz seiner Eltern. Ich bitte, mir gnädigst mitzuteilen, wo sein Grab sich befindet, und besonders, ob das Grab nicht den Granaten ausgesetzt ist! Dies beunruhigt mich sehr, so daß ich gänzlich schlaflos geworden bin –.

Wie? Was meint er? Ob das Grab –?

Der General ist in ungeheure Erregung geraten. Seine Augen starren. 73

Die Höhe! Ja, der Brief hat die Erinnerung an die Höhe in seinem Blut geweckt.

Das dunkle, mit Borsten bestandene Ungeheuer qualmt plötzlich wieder vor den Augen des Generals: Quatre vents! Der 4., 5. und 6. August – am Abend des 6. war sie verloren!

Am 4., 5. und 6. ratterten die Lastautos vorüber, der Schmutz spritzte – behangen mit Schwärmen von Menschen. Rote Gesichter, schweißhelle Augen – sie schwangen die Helme: hurra – und der General, auf der Treppe seines Schlosses – salutierte. Welches Feuer! Die Erde bebte – jetzt hörte er es wieder! Die Hölle! Brennend stürzte ein französisches Flugzeug in den Schloßpark, mitten in den Rosengarten.

»Herr General, die Jägerbataillone!«

»Ich komme.«

Und die Autos schaukelten, rollten, rasten: hurra!

Die Höhe von Quatre vents war ein Friedhof von zwölf Stockwerken. Deutsche, Franzosen, Deutsche, Franzosen. Aber sie lagen nicht nach Nationen geschichtet, die Minen rissen ganze Stockwerke hoch und schleuderten die Toten durch die Luft. Der Spaten stieß auf den Schädel eines Franzosen, daneben traf er auf einen deutschen Infanteriestiefel. Auch auf Knochen stieß er, nicht auf frische, sondern auf alte gelbe Knochen und Skeletteile, denn auf der Höhe von Quatre vents hatte sich ein alter Friedhof befunden. Ein Dorf lag früher da oben – wo war es hin? In Atome zermalmt. Die Minen hatten die Kuppe der Höhe abgetragen. Zentnerweise wurde Dynamit in die Stollen gestopft – ganze Kompagnien und Bataillone flogen hoch – hoch Deutschland! – vive la France! Sie kehrten nicht wieder.

Der General hatte die Höhe nur zweimal betreten. Einmal in einer sternenklaren Nacht (wie unvergeßlich funkelten die Gestirne!), als es ganz ruhig war. Die Laufgräben hauchten eine eisige Kälte und fauligen Geruch aus, man trat auf Körper und wußte nicht, ob sie lebten oder tot 74 waren – sonst hatte die Höhe, über die vereinzelte Kugeln zischten, nichts Furchtbares, und der General sagte sich im stillen, daß all die Geschichten von den Schrecken der Höhe von Quatre vents übertrieben wären. Das zweitemal zeigte die Höhe schon etwas mehr ihr wahres Gesicht. Der General kam am grauenden Morgen, und die Franzosen warfen schwere Flügelminen, die wie einstürzende Häuser krachten. Ganze Schwärme der langhälsigen, gierigen Raubvögel stießen auf die Kuppe herab. Zuweilen schob man ihn hastig in einen Unterstand oder einen Quergang, wenn der Schatten der Mine in der Nähe niederrauschte. Denn er, der General, hätte sich nicht von der Stelle gerührt. Angesichts seiner Offiziere und Leute, die aus den Stolten lugten, hätte er sich ohne Wimpernzucken in Stücke reißen lassen. Damals passierte ihm auch die – offen zugestanden – Albernheit mit jener ungeschickten Frage. Nun wohl, sein Gehirn hatte unter dem Eindruck der herabstoßenden Stahlvögel und des Lawinenkrachens einfach versagt. In einem eingeebneten Grabenstück lag ein blutgetränktes Tuch, etwas wie eine zerfetzte Unterhose, in einer Lache von Blut. Es war so viel Blut, daß der General keineswegs vermuten konnte – kurz und gut, er fragte: »Na, ihr habt wohl geschlachtet?« Welche unbegreifliche Albernheit. – Die Grabenoffiziere antworteten mit einem verlegenen Lächeln. Und plötzlich sah der General ein Stück von einem Menschen an der Grabenwand kleben, daneben ein Stück des Hinterkopfes mit kurzen Haaren. Wie peinlich war ihm die Frage! Noch heute erinnert er sich voller Scham deutlich des verlegenen Lächelns der übernächtigten, vom Grabendienst beschmutzten Offiziere.

Um acht Uhr saß er schon wieder in seinem Quartier beim Frühstück.

Ein drittes Mal betrat der General die Höhe nicht.

Er sah sie das letztemal, als sie verlorenging, das heißt er sah nicht die Höhe, sondern Nacht und ein Büschel roter 75 Notsignale, die ohne Unterbrechung in der Nacht aufglühten – Hilfe! – und hoffnungslos sanken.

Das also war Quatre vents.

Schwer atmend ging der General hin und her.

Deutlich hörte er wieder die Stimme des Adjutanten. Die Jägerbataillone, Herr General! Also auf einem dieser Autos saß er – unter hundert andern – mit den roten Gesichtern und den schweißgleißenden Augen – er, jener – wie hieß er doch – Robert! Am 5.! Ja, am 5., da hatte er noch Hoffnung – am Mittag des 6. wurde er schwankend und befahl einen letzten Gegenangriff – am Abend, da waren nur noch die roten Leuchtkugeln . . .

Erst allmählich verflog die Erregung. Plötzlich lag die dickbäuchige Aktentasche wieder auf dem Schreibtisch.

Sonderbare Menschen gab es! Sein Grab? Daß man es wagen durfte, ihm solch einen Brief zu senden!

Und da – was schrieb er am Schluß:

– sollten Exzellenz geneigt sein, mir diese Audienz zu bewilligen, so könnte ich Mitteilungen über das gnädige Fräulein machen, die Exzellenz gewiß interessieren würden. Ein Unglücklicher. –

Ja, sonderbare Menschen . . .

Der General zerriß den Brief und warf die Fetzen in den Papierkorb. Schon war er in die Akten vertieft.

Aber noch nach einer Stunde zitterte seine Hand: Hätte man ihm damals die verlangte Unterstützung geschickt – noch heute wäre Quatre vents in seiner Hand!

 


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