Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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7.

Mit einem kleinen Paket unter dem Arm kam Ackermann durch den Tiergarten. Es war noch hell, Sonne, Tag. Wie gewöhnlich suchte er verlassene Wege auf. Er kam vom Dienst und war auf dem Wege nach Hause, wo man ihn erwartete.

Ja, schon sammelten sie sich, ohne Zweifel! In England, Amerika, Italien, Frankreich, Deutschland, Österreich, Ungarn – überall in der Welt – die Brüder! Nur ein Blinder sah die Zeichen nicht, nur ein Tauber hörte nicht die Stimmen! Nur ein Tauber . . .

In den Zeitungen, zwischen den Zeilen – in Broschüren, Aufsätzen, Büchern, überall Zeichen, die darauf hinwiesen. Überall diese Stimmen! Trotz der Scharen von Zensoren und Agenten, die ausgesandt waren, die Wahrheit zu erwürgen, so wie Herodes die Kinder von Bethlehem erwürgen ließ, nur aus Furcht, weil er vernommen hatte . . . ah, ah – sein Morden war vergebens.

Die Gefängnisse sind überfüllt, hier und überall. Arme, betörte Sklaven bewachen ihre eigenen Befreier! Zu Hunderten werden sie füsiliert, hier und überall. Arme Verführte ermorden ihre Brüder. Aber – der Gedanke lebt! Die Mauern werden fallen – in der ganzen Welt – der Gedanke wird sie stürzen, der Gedanke, der war, bevor die Menschen waren. Der Gedanke, den man ans Kreuz schlug, folterte, mit Steinen beschwert ins Meer versenkte, mit geschmolzenem Blei übergoß, den die Gesandten des Satans zu töten versuchten auf hunderttausend Arten – und der immer wieder auferstand. Weltreiche stürzten, aber er lebt. 281

Und die Brüder werden einherschreiten – sie, die Heißen, die Sehnsüchtigen, die Wollenden.

Und auch ich, auch ich, Ackermann, werde bemüht sein, mich ihrer würdig zu zeigen.

Zu Ende der Dienst, zu Ende! Er hatte Schluß gemacht.

Sie würden ihn nicht mehr sehen.

Monatelang hatte er gerungen, in den letzten Wochen mit Schweiß auf der Stirn – der Gedanke siegte. Er war entschlossen . . .

Unter dem Arm trug er, in eine alte Zeitung eingewickelt, seinen Drillichkittel, wie ihn die Schreiber in den militärischen Amtsstuben anhaben. Er nahm ihn heute mit nach Hause. Zum Zeichen, daß er nicht zurückkehrte. Die Kameraden hatten die Frage an ihn gerichtet, weshalb er den Kittel einpacke. »Ich mache Schluß!« antwortete er. Aber sie lachten, wie sollten sie es verstehen?

Nun, wohl: sollte man mit ihm machen, was man wollte. –

Ja, dahinschreiten werden die Brüder, und auf dem blutigen Schutt dieser armen Erde werden sie eine neue Welt errichten! Schleift die Kasernen, werden sie rufen, zerbrecht sie, schleift sie! Ihr Gestank verpestet Europa und die Erde. Schleift sie und steckt sie in Brand! Sie, die Brutstätten der Sklaven und Sklavenvögte. Täglich schänden sie millionenfach die menschliche Würde, Millionen von Sklaven, Hunderttausende von Sklavenvögten, die die Peitsche schwingen, brüten die Verruchten jährlich in Europa aus. In die fernsten Dörfer, Steppen und Wälder senden sie versklavte und geschändete Gehirne, in denen der unschuldige und reine Gedanke des Göttlichen vernichtet wurde. Ämter, Schulen, Kirchen, Fabriken, Werkstätten und das weite Land überschwemmen sie mit Sklavenvögten, verdorben und blind vom Dünkel, so daß sie den Bruder in ihrem Nächsten nicht mehr zu erkennen vermögen! 282

Schleift sie, verbrennt sie.

Zerbrecht die Kriegsschiffe der Piraten, deren Kanonen den Erdball in Schrecken halten, zerbrecht sie!

Schleift sie – werden sie rufen! – die Zeitungspaläste, errichtet von den Mächtigen und Reichen der Erde zur Verbreitung von Lüge und Betrug, zur Vergiftung und Verführung der Nationen.

Schleift sie und verbrennt sie!

Reinigt Schulen und Kirchen, wo unschuldige Kinder und reine Seelen betrogen werden. Reinigt die Tempel, hinaus mit den falschen Priestern, die den Namen des Erlösers auf den Lippen führen und den Mord der Nationen predigen. Hinaus, hinaus!

Hinaus, hinaus mit den eitlen Advokaten, den hartherzigen Greisen, den selbstgefälligen Narren, die mit den Schicksalen der Völker spielen, hinaus mit ihnen!

Es wird Zeit, ihr Brüder, daß die Welt genese!

Zerbrecht und schleift die Zwingburgen des Goldes, Tempel der Habgier, Kerker der Freiheit und des Glückes aller Völker des Erdballs. Zerbrecht die Mauern aus Stahl und Eisenbeton, wo die Plünderer ihre Schätze gegen die Diebe verwahren! Zerbrecht sie!

Ihre Stimme wird erschallen wie der Donner – und nicht mehr untergehen!

Ach, in dieser Stunde, schwärzeste Mitternacht der Völker, wird sie noch verschlungen vom Lärm der Kanonen . . .

Plötzlich aber stockte Ackermanns Schritt. Mit offenem Munde stand er still.

Aus der Stille des Parkes war er, versunken in seinen Gedanken, unvermutet in das blendende Sonnenlicht und das Gewimmel der Menge getreten.

Die Menschen schrien, schwangen die Hüte, eilten – Flaggen wehten über den Linden, Flaggen in allen Farben, allen Größen, flatterten lustig und heiter im herrlichen, seidigen Blau des Himmels. 283

 

Die Stadt hatte geflaggt. Siege, Siege!

Wie die Sturmflut war das Heer vorgebrochen, wenn die Dämme gerissen sind – ganz wie der General es prophezeit hatte. Hunderte von Geschützen, Tausende, Zehntausende von Gefangenen – eine Batterie trabte über die Linden. Der Kaiser hatte befohlen, »Viktoria zu schießen«.

Die Stimmen schwirrten, Jubel fuhr dahin über die Millionenstadt. Unaufhörlich mahlten die Drehtüren der großen Hotels fröhliche Gesichter hinein und heraus. Die Foyers der Hotels waren überfüllt, schon sah man Frühlingskleider der Damen, während andere noch Pelze trugen. Die Kellner schleppten die silbernen Tabletten, die Kapellen musizierten. Freude erhellte die Mienen.

Ja, wunderbar war diese herrliche Armee, prachtvoll diese Burschen, die kämpften und starben, wie in den ersten Tagen des Krieges, als sei der Tod ein Scherz.

Und diese Führung: unübertrefflich!

Zehntausende von Gefangenen – immer mehr, mit jeder Stunde – die Beute unübersehbar – unübersehbar . . .

Oben auf dem Brandenburger Tor trieb die Viktoria ihr Viergespann mit siegesgewissem Lächeln vorwärts.

Fontänen von Extrablättern stiegen über den Linden in die Höhe. Die Menschen ballten sich zu Knäueln, sie setzten ihr Leben ein, nur um ein Zeitungsblatt zu erhaschen, ganz wie die prachtvollen Burschen an der Front, die durch zischende Eisenstücke sprangen. Schirme wurden zerbrochen, die Damen verloren die Absätze von ihren Schuhen, und die Taschendiebe griffen ohne jede Rücksicht einfach in die Taschen.

Und die Batterie, vier alte Kanonen aus dem Siebziger Kriege, trabte vorbei – Viktoria . . .

Das Hauptquartier schwimmt in Wonne – die englische Armee vernichtet . . .

Furchtbar war dieser Winter gewesen, über alle Maßen furchtbar! Unerträglich das Sterben ringsum, draußen 284 und in der Heimat. Das Sterben, das sich sonst in gesitteten Formen vollzog, es war in Panik ausgeartet. Die Freunde starben, die Dienstboten, die Kutscher fielen von den Kutschböcken, auf der Straße starben die Unglücklichen, man sagte einem Gesunden »Gute Nacht«, und am Morgen hustete er ein paarmal, und schon war er tot. Unerträglich, unerträglich, Tag für Tag zwischen diesen wandelnden gelben und grünen Leichen einherzugehen, diesen Gezeichneten, mit dem Kuß der Verwesung auf der Stirn, selbst solch eine wandelnde grüne und gelbe Leiche, selbst ein Gezeichneter! Unerträglich!

Und die Kinder! Nein, sprechen wir nicht von ihnen, diesen kleinen Gekreuzigten. Haben wir Mitleid! Geboren als Krüppel, mit weichen Knochen, gummiweichen Schädeln, ohne Nägel – und sie starben, siechten dahin an den welken Brüsten verzweifelt weinender Mütter, auch aus den Häusern der wohlhabenden Bürger wurden die kleinen, rührenden Särge getragen. Zu Tausenden und Hunderttausenden gingen sie dahin, ein Strom, Tag und Nacht. Ja, so weit war es gekommen, ohne Übertreibung, wenn auch die Zeitungen nichts darüber schreiben durften, es war England gelungen, zugestanden. Die Sache mit dem Burenkrieg seinerzeit war nur ein harmloses Vorspiel gewesen. Gelungen, zugestanden. Hütet euch, ihr Völker der Erde, seid gewarnt! Fordert nicht Englands Zorn heraus, sein Blick tötet die Frucht eurer Weiber im Mutterleibe.

Unerträglich, völlig unerträglich war das ganze Dasein geworden – und jetzt, war es nicht wie ein Schimmer von Hoffnung?

Vielleicht, vielleicht doch!

Vielleicht würde es zu Ende gehen? Vielleicht . . .

Alles war zum Einsatz hingegeben: Väter und Söhne, Ernährer, Stützen des Alters, Hoffnung, Glück und Sinn des Lebens, Ehre, die Zukunft des ganzen Volkes, Gesundheit, Vermögen, Vieh, Pferde, die Glocken aus den Kirchen, 285 die Kochtöpfe aus den Küchen – und ein Geschlecht von Neugeborenen – alles, auch das Gehirn unter der Schädeldecke – vielleicht, vielleicht . . . Die Generale hatten den Wurf getan, die Kugel hüpfte über die glücklichen Nummern – vielleicht . . .

Wie gefangene Tiere hinter den Gitterstäben tigerten die Millionen an den Eisenstäben ihres Käfigs entlang und witterten hinaus. Es roch nach Befreiung – nicht wahr? Einst hatten ihre Nerven die Erde umspannt, sie waren durchgeschnitten worden und wimmerten. Einst waren sie Menschen, hoffärtig und voller Fehler, aber doch Menschen, jetzt waren sie gefangene Tiere geworden, Verworfene, Verbrecher, Parias, bespien und beschmutzt, Tag und Nacht, vier Jahre lang. Die Luft selbst, die sie in ihrem Käfig atmeten, war vergiftet. Hatte man nicht behauptet, daß sie Fett aus Leichen kochten – hatte man nicht . . . Aufs Rad geflochten und über langsamem Feuer geröstet. Unbeschützt von einer Rotte von Unfähigen, die in ihren Ämtern schlummerten, die Fingernägel polierten und erhaben waren, erhaben – einfach erhaben.

Die Gewaltigen, die Angebeteten und Vergötterten, sie würden gewiß alles bis ins Kleinste berechnet und beachtet haben, bevor sie sich entschlossen, alles hinzuwerfen – auch das Gehirn unter der Schädeldecke – und die letzte halbe Million zur Schlachtbank führten.

Vielleicht, vielleicht –.

Komme, gebenedeiter Tag!

Die Zeitungsfrauen entflohen, die alten Männer, die Zeitungen feilhielten – sie entflohen –, sie jagten die Linden hinunter – verfolgt von der Meute. An der Ecke Linden-Friedrichstraße weinte eine Zeitungsfrau, man hatte sie gänzlich ausgeplündert, ohne ans Bezahlen zu denken.

Siebzig Millionen strichen wie Irrsinnige an den Gitterstäben entlang – und die Armee hatte einen Ausfall gewagt, einen glückverheißenden Ausfall. 286 Verheißungsvoll flatterten die Flaggen im seidigen Blau des Himmels. Hell funkelte die goldene Göttin auf der Siegessäule.

Die Riesenstadt erbebte bis in die entlegensten Vororte. Überall flatterten die Zeitungsblätter. Die Kolonnen der gelben Gesichter selbst belebte die Hoffnung. Die Bewegungen der Erschöpften und Ermüdeten in den Werkstätten wurden rascher. Verheißungsvoll zischte der Dampf, blitzten die Räder.

Selbst in den Augen jener, über die bereits die Agonie ihre Schatten breitete, in den Augen der Verzweifelten, Hungernden, Verhungernden, Sterbenden ersprühte eine leise Hoffnung, der letzte Funke.

Ja, komme, du gebenedeiter Tag!

Aber horch! Was ist das?

Ein Geschrei wie von tausend gemarterten Kindern, ein Geheul wie von tausend gemarterten Hunden – nichts, nein, nichts, es ist nur eine Regimentskapelle, die in die Linden einbiegt. Sie spielt nicht erstklassig, Bucklige, Lahme, Greise – was willst du? – und eben feuert auch die Batterie aus dem Siebziger Krieg Viktoria.

Über den Linden brummt ein Riesenflugzeug, zehn Menschen sind an Bord. Wer sollte es ahnen? Es ist immerhin noch einiges im Lande, nicht viel, aber noch einiges: zum Beispiel die Haare der Frauen für Seile und Webwaren, das Gold in den Gebissen. Die Generale und Gamaschenträger werden nicht zögern.

 


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