Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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Drittes Buch

1.

Dampfwolken quollen aus der Halle, Rauchfetzen flatterten zwischen den Eisenträgern. Alles wehte. Die Vorortzüge liefen kreischend ein, keuchten kreischend hinaus. Mäntel, Hüte, Röcke wirbelten im Rauch und weißen Wasserdampf. Auch Klaras Kleider wirbelten. Sie fror an den dünnen Beinchen, aber sie liebte es, ganz leicht gekleidet zu gehen.

Der nach der Westfront abgehende Frühzug hatte Verspätung. Mochte er! Wie gerne wartete sie! Schon seit einer Stunde ging sie hier am Charlottenburger Bahnhof auf und ab. Drüben am Bahnhof Zoologischer Garten standen sie nun, die Damen Sterne-Dönhoff, Mutter und Schwestern, und plauderten noch mit ihm. Der Wind pfiff von allen Seiten in die Halle, und blendende Helligkeiten fegten draußen über die Dächer.

Plötzlich blieb Klaras Herz stehen:

Um die Ecke schnob ein pechschwarzes Ungeheuer, qualmend aus Schlot und Zylindern. Blitzschnell kam es auf Rauch herangewirbelt. Der Fernzug . . .

Der Kurfürstendamm, wimmelnde Menschen – sie und Heinz. Der Tiergarten, brausende Bäume – sie und Heinz. Die Stufen der Untergrundbahn, ein Menschenstrom, das kleine Café in der Kantstraße – sie und Heinz. Wie durch ein scharfes Glas sah sie sich neben ihm, immer neben seinem weiten grauen Feldmantel – nur die Szenerien änderten sich, blitzschnell, alle Straßen, Plätze, die sie zusammen besucht hatten. Der Tiergarten – gestern nachmittag, als sie Abschied nahmen, es dämmerte schon – sie gab ihm das Medaillon mit der Locke, das sie so oft und tausendfach küßte, bis sie einen Weinkrampf bekam – als Talisman sollte er es tragen – und plötzlich verschwindet alles 159 in einem Wirbel, nichts ist mehr vorhanden als ein leerer Raum, durch den die schwarze Lokomotive dahinstürmt.

Ihre Kleider flatterten, sie griff an die grasgrüne Mütze mit der grünen Seidenquaste, in der Rechten wehte das Taschentuch. Sie dachte an nichts, ihre Augen glitten erregt an dem fliegenden Zug entlang, und sie verging vor Angst, daß sie Heinz nicht mehr sehen würde.

Da, da, da, da war er! Seine Hand, sie erkannte sie sofort, winkte ihr zu. Ein Lachen in seinem geröteten Gesicht, ein Blitzen der Zähne, und die blonden Haare leuchten. Auf seiner Brust aber glänzte – wie ein heller Stern – durch den Mantel hindurch – das Medaillon aus Kristall: deutlich sah sie es. Groß und mächtig wie ein Stern, obgleich es ganz klein war.

Hunderttausende und abermals Hunderttausende waren schon auf diesen zwei Schienen fortgefahren, und alle trugen einen Talisman auf der Brust.

Fort war Heinz.

Der Zug war rasend schnell gefahren, aber die letzten Wagen rollten ganz langsam an Klara vorüber.

Der Wind riß ihre Kleider bis zu den schmalen Knien empor, aber sie bemerkte es nicht. Soldaten, die aus den letzten Wagen blickten, schnitten ihr Gesichter.

Da aber fing sie an zu laufen, und weinend stürzte sie die Treppe hinab. Wie ein Messer zerschneidet das Lebewohl ein junges Herz.

Alles war ja noch Geheimnis, niemand wußte etwas, niemand wußte von ihren Schwüren, ihren Versprechungen, ihren Plänen, ihren Träumen, niemand.

 

Schon war Klara zu Hause, und schon war die grüne Mütze mit der grünen Seidenquaste in ein Paketchen eingeschnürt, fertig zum Absenden. Er sollte sie haben. 160 Ach, und sie weinte und bedeckte die alte grüne Mütze mit Küssen und Tränen.

Schon aber hatte der Zug die nächste Station passiert, und Klara steckte die kleine Flagge auf der Karte um. Man muß wissen, daß Klara sich ein Kursbuch gekauft hatte, um den Zug verfolgen zu können.

Und schon war Klara wieder auf der Straße und lachte in Sonne und Wind, während auf ihrem Herzen noch die Tränen brannten. Auf zierlichen, raschen Beinchen schritt sie, die schmale Hüfte wippend, die Joachimsthaler Straße hinab. Sie war glücklich.

Klara ging einkaufen. Sie mußte ja nun an die Feldpaketchen denken, ganz wie Millionen andere Frauen. Kam sie zurück, so konnte sie die Flagge schon bis Hannover vorstecken.

Schon dachte sie an die Zeit, da sie die Flagge zurückstecken würde – wenn er zum ersten Male auf Urlaub kam.

Zwischen der Kindheit und der Welt der Erwachsenen liegt die Zone des Paradieses. Blendend von Träumen, Plänen, Visionen, Ahnungen und Wünschen. Wunderbar und erhaben liegt das Leben vor den Blicken, und mutig geht ihm der Schritt entgegen.

Durch dieses Paradies schritt Klara dahin, obschon sie nur die Joachimsthaler Straße hinabwanderte.

 


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