Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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7.

Leise schloß Ruth die Türe ihres Zimmers hinter sich. Sie war voller Unruhe.

Abermals hatte sie den großen, beobachtenden Blick Papas auf sich gefühlt. Wie schon seit Tagen. Gestern abend sah sie ihn im Spiegel: groß, hell, lauernd und drohend.

War er argwöhnisch geworden, Papa?

Vielleicht hatte die Zigarrenspitze, die sie neulich in ihrem Zimmer fand, doch etwas zu bedeuten?

Plötzlich errötete sie. Und der Brief? In einem Buch lag ja ein Brief von Karl! Schnell, wo ist er? Am Ende war er fort? Am Ende hatte Papa diesen Brief gefunden, gelesen. War er nicht einmal ganz plötzlich in ihr Zimmer gekommen, als Dora bei ihr Tee trank? Sie hatte diesem Vorfall ja nicht die geringste Bedeutung beigelegt, gar nicht weiter darüber nachgedacht. Ach, sie haßte Papa! Ja, wahrlich, sie haßte ihn! Man kannte nie seine Gedanken. Sein Blick prüfte, tadelte, sein Blick entmutigte, sein Blick erstickte jede harmlose Freude.

Nein, sie haßte Papa natürlich nicht, er hatte gewiß seine guten Eigenschaften, er war charaktervoll, wie wenige Menschen, pflichtgetreu, stolz, verschlossen, ehrenhaft vom Scheitel bis zur Sohle, nein, nein, sie wollte gar nichts sagen. Er war verbittert, unglücklich vielleicht, trug sein Leben ohne zu klagen. Nie hatte sie eine Klage von ihm gehört. Er schwieg. Aber wie gerne hätte sie doch Zutrauen zu ihm gehabt, volles Vertrauen, wie zu einem erfahrenen, erprobten Freund. Ja, so sollte es sein! Aber es war gerade umgekehrt: anstatt sich ihm anvertrauen zu können, mußte sie sich vor ihm verbergen. Es war natürlich auch sein Verhalten Mama gegenüber, das sie gegen ihn einnahm. Nie konnte sie ihm verzeihen, daß er jahrelang mit solcher Erbitterung gegen die Arme prozessierte. Aber sie war 350 ja jetzt reifer, sie verstand das Leben jetzt besser und wußte, daß es viele unglückliche Ehen gab, und doch beide Teile ehrenhafte und gütige Menschen sein konnten. Nicht das war es, es war – undefinierbar. Seine Nähe bedrückte, sie verwandelte, das Leben erschien plötzlich so schwer und ernst.

Sie fand es überaus häßlich, daß er in ihr Zimmer gekommen war, seinerzeit. Und die Zigarrenspitze? Papa rauchte die Zigarren in Papierspitzen mit Gänsekielen. Eines Tages hatte sie eine solche Papierspitze auf ihrem Schreibtisch gefunden. Sie hatte sie achtlos zum Fenster hinausgeworfen. Vielleicht war sie auch von einem der Burschen hereingebracht worden?

Aber hier war ja Karls Brief. Gottlob, sie atmete auf.

Er lag noch an derselben Stelle, zwischen denselben Seiten des Buches, unberührt. Sie las den Brief, sie drückte ihn an die Lippen.

Ja, Karl war einer von den Kommenden, nicht einer der Vergehenden. Er hatte Wille und Ziel. Und was er wollte, war gut. Alle Welt liebte ihn, seine Freunde beteten ihn an, er hatte keinen einzigen Feind. Sie, die sie selbst schwankte, klammerte sich an ihn, er gab ihr Halt. Glücklich würde sie mit ihm sein.

Aber weshalb war Papa in letzter Zeit so aufmerksam – fast zärtlich? Weshalb sagte er ihr so oft, daß sie bleich und nervös sei und nach Babenberg gehen solle? Einmal legte er sogar die Hand um ihre Taille – seit Jahren war es nicht mehr der Fall, oh, sie erinnerte sich deutlich dieser ihr (damals!) so schrecklich unangenehmen Liebkosung, sie lebte ganz dem Andenken Mamas. Er fragte, ob sie keine Wünsche habe, ob sie nicht etwa Lust zu einer Reise habe, vielleicht nach der Schweiz? Er habe eine gewisse Summe für sie bereitgelegt. Nein, sie brauchte nichts, gar nichts, hatte gar keine Wünsche.

Ach, wie häßlich sie doch war! Kümmerte Papa sich 351 nicht um sie, so nannte sie ihn kalt und herzlos – kümmerte er sich um sie, so war sie sogleich argwöhnisch.

Ja, ganz unmöglich, den großen prüfenden Blick des Generals zu ergründen!

Er atmete Haß in diesen Wochen, er atmete Liebe.

Ja, er haßte Ruth zuweilen mit einem furchtbaren und grundlosen Haß, der ihm unerklärlich war, und den er bereute. Ihre Mutter, ganz ihre Mutter! Die gleichen hysterischen Augen, wie sie voller Geheimnisse, in die niemand eindringen durfte, wie sie eingesponnen in eine sonderbare, unerforschliche Welt. Wie sie rasch und ohne Überlegung Impulsen folgend. Wie sollte sie anders sein? Man bedenke, eine Dame, die sich von einem Offizier, den sie erst wenige Tage kannte, von einem Ball entführen ließ, die sich soweit vergessen konnte – nun, gewiß, ein häßlicher und unwürdiger Gedanke, aber trotzdem . . .

Es war das Blut der Sommerstorf, und unergründlich waren die Rätsel eines Tropfen Blutes.

Beziehungen zu einem schwärmerisch veranlagten jungen Manne – gebildet, zugegeben, aber jedenfalls ohne Rang, ohne Familie, arm – mochten diese Beziehungen noch so unschuldig sein, wie man ihm versicherte – noch so unschuldig –

In Dunkelheiten, voller Schrecken, unklare, verworrene, drohende Dunkelheiten verloren sich seine Gefühle – und dann haßte er Ruth.

Reue, Reue! Er war kein Unhold. Ja, schon bereute er seine Heftigkeit.

Sie war jung, sie dachte selbständig, und das war immerhin anerkennenswert, sie lebte ihr eigenes Leben, war nicht eines jener törichten oberflächlichen Geschöpfe, die nur an Putz und Vergnügen denken. Es war natürlich übertrieben, töricht und im höchsten Maße ungerecht, sie hysterisch zu nennen. Eine Bekanntschaft aus dem Lazarett, etwas Romantik, weshalb urteilte er so streng? 352

Nun liebte er sie plötzlich wieder, und er grübelte darüber nach, wie er ihr Vertrauen gewinnen könnte. Leider, leider hatte ihm der Dienst zu wenig Muße gelassen, sich mit seinen Kindern beschäftigen zu können. Das rächte sich jetzt. Etwas Vertrauen, und alles wäre in Ordnung! Heute abend wollte er mit ihr nochmals über die Reise nach der Schweiz sprechen. Es war ja eine Leichtigkeit, den Paß zu besorgen . . .

Nein, unmöglich den prüfenden großen Blick Papas zu ergründen! Ruth versank in die Betrachtung des Bildes der Mutter an der Wand: auch sie hatte diesen Blick gewiß nie ergründen können, nein.

Da klopfte es, und man meldete ihr ein Fräulein Westphal.

Ruth warf das Kinn in die Höhe. »Ich bedaure.«

Seht an! Trotzdem sie ganz die Mutter war, wie der General dachte, wenn er Ruth haßte, trotzdem die Linie der Hecht-Babenberg bei Ruth nicht im mindesten zum Ausdruck kam – die gleiche Stimme in diesem Augenblick, die gleiche, etwas hochmütige Bewegung des Kinns. Trotz allem, trotz allem. Ach, sie bebte vor Unruhe und Erregung heute.

Aber da ging schon die Türe, und eine ihr unbekannte dichtverschleierte Dame, ein schmächtiges, zartes Persönchen trat ein.

»Ich bitte tausendmal –« flüsterte diese tiefverschleierte Dame.

War so etwas überhaupt möglich? Sie hatte, Ruth, deutlich genug bestellen lassen, daß sie heute nicht zu sprechen sei. »Sie wünschen?« fragte sie, kühl, ohne jede Anteilnahme, abweisend, herzlos.

Aber die dichtverschleierte Dame streckte ihre dünnen Arme aus. »Nicht Sie! Nicht auch Sie!« Und schon fiel sie in die Knie.

Sofort aber fand Ruth sich selbst zurück.

»Um Gottes willen!« rief sie aus und hob diese kleine weinende zuckende Person auf, die sie gar nicht kannte. 353 »Was tun Sie? Um Gottes willen! Ich bin sehr beunruhigt heute – ja, wer sind Sie eigentlich?« Und Ruth hob den Schleier der Dame hoch, sah ein blasses verweintes Kindergesicht mit hilflosen Augen – sie kannte es nicht – aber sie küßte es sofort. »Mein Liebling – mein Kleines – aber ich bitte Sie herzlich.«

Ja, nun begriff sie, wer der Besuch war, sie erinnerte sich.

Und Heinz? Sie hatte gehört davon. Ein lieber, frischer Junge.

»Herr v. Meerheim – sie flogen Sperre – er sah die Maschine taumeln – und dachte sich noch, was ist das? Und da stürzte die Maschine schon –«

Ruth preßte Klara an sich.

»Bleiben Sie hier bei mir! Erzählen Sie mir alles, alles. Wir sind Freundinnen. Geben Sie mir Ihre Hand.« Und Ruth führte diese kleine dünne Hand an die Lippen. »Ja, Freundinnen! Auch ich habe Sorgen, hören Sie! Gerade heute bin ich in schrecklicher Unruhe. Ich ertrage diese Stadt nicht mehr und gehe bald aufs Land. Haben Sie Lust mitzukommen, Sie sind eingeladen? Ja, in schrecklicher Unruhe bin ich, ich kann es Ihnen nicht sagen. Deshalb war ich auch so unhöflich! Verzeihen Sie – und nun plaudern Sie, plaudern Sie!«

 


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