Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

4.

Nein, gewiß, der General kannte seine Tochter nicht. Wäre er ein Beobachter, so würde er auf den ersten Blick gesehen haben, daß Ruth sich im Laufe des Sommers auffallend geändert hatte. Aber er war kein Beobachter: Sitzungen, Konferenzen, strategische Erwägungen – wie sollte er da ein Beobachter sein?

Ja, auffallend geändert!

Nicht mehr die schüchterne, scheue Ruth. Ihre Augen waren flammend und kühn, ihr Blick wich nicht mehr zurück. Fragend 381 und forschend ruhte ihr Auge bei Tisch auf dem Vater, und häufiger als früher begegneten sich auf Sekunden ihre Blicke.

Etwas war hier nicht in Ordnung! Nein! Als Papa sie bei ihrer Rückkehr begrüßte, war etwas Auffallendes geschehen – noch heute zitterte die Betroffenheit in ihr nach. Papa war errötet! Noch mehr, Papa hatte die Augen niedergeschlagen. Aber man bedenke doch: Papa schlägt die Augen nieder!

Weshalb? Weshalb nur? Sie kannte Papa ja so genau. Irgendein Geheimnis war zwischen ihm und ihr.

Weshalb Papa, so sprich doch!

Aber der General war tief in seine Gedanken versunken und blickte nicht mehr auf.

Ruth hatte völlig ihr träumerisches, zerstreutes Wesen verloren. Sie sprach sogar etwas rascher als früher und nicht mehr so unsicher. Sie sang nicht mehr, trällerte nicht mehr vor sich hin, wie sie es früher zu tun pflegte – um erschrocken abzubrechen, sobald sie sich belauscht wußte. Ihre Lippen waren bestimmter geformt und klarer geschwungen. Das unsichtbare Lächeln, das früher über ihnen schwebte – fort war es.

Wie eine Fremde bewegte sie sich im Hause, die gesonnen ist, nicht lange zu bleiben. Sie lächelte über diese ewig dienstbereiten Ordonnanzen, über dieses Exzellenz hin und Exzellenz her, bald würde sie es nicht mehr hören. Ach, dieser Papa, der sich so ungeheuer wichtig nahm, dieser Otto, diese Dora, diese ganze Gesellschaft, die in den Tag hineinlebte und glaubte, es müsse so sein – nun, bald würde sie sie nicht mehr sehen. Schon wagte es niemand mehr, sich mit ihr in ein Gespräch einzulassen, weil sie unumwunden ihre Meinung äußerte.

Vorläufig, bis dahin, verrichtete sie wie früher ihre Arbeit in der Küche. Die Gäste hatte sie nach diesen heißen, stickigen Sommerwochen noch bleicher und elender angetroffen. Sie waren alle müde, sanken erschöpft auf den 382 Stuhl, stützten den Kopf, während sie aßen. Alle Augenblicke gab es Differenzen, ihre Nerven flatterten. Die kleinen Schreibdamen flüsterten nur noch. Zuweilen kicherten sie leise, um sich rasch erschrocken umzusehen. Die Küche war auffallend still geworden.

Ruth war eifrig bei der Arbeit – aber so oft ein neuer Gast eintrat, blickte sie rasch nach der Türe. Offenbar, sie erwartete jemand, sie suchte jemand!

Sie suchte, um die Wahrheit zu sagen, jenen kleinen, alten Herrn im Havelock, ihn, der ihr auf der Treppe die schreckliche Nachricht mitgeteilt hatte. Tag für Tag erwartete sie ihn, sie hatte Geduld.

Aber er kam nicht. Augenscheinlich besuchte er diese Küche nicht mehr. Vielleicht war er auch tot? Schnell starben die Menschen in diesen Tagen. Die Erde verschluckte sie nur so.

Endlich ging sie in die Fabriciusstraße. Sie besaß sogar den Mut, das Leihhaus zu betreten. Mit welchen Gefühlen! Wie sie die Türe anstarrte! Aber sie weinte nicht.

Allein, hier wußte man nichts von dem Havelock. Er war ausgezogen, verschwunden.

Und doch, er war vielleicht der einzige, der ihr über jene Dinge Aufschluß geben konnte, die sie unbedingt wissen mußte. Klara, die mit ihr in Babenberg war, hatte ihr Hedis Erlebnis am Anhalter Platz erzählt – das war alles, was sie erfahren konnte. Seine Freunde, sein jüngerer Bruder, wie vom Erdboden verschwunden, niemand zu sehen; keine Nachricht mehr, man hatte offenbar alle verhaftet – nur sie ließ man in Ruhe.

Nach vielen Tagen, die sie durch das verwahrloste, übelriechende Stadtviertel streifte – ja, plötzlich sah sie ihn.

Das, das mußte er sein! Sie fühlte es augenblicklich.

Ein Rudel lachender und kreischender Kinder – und mitten darin ein Mensch. In diesem Augenblick geschah es, daß sie wie eine Seherin fühlte, er! Ja, er war es. 383

Er tanzte wie ein Hampelmann, und sobald die Kinder ihm zu nahe kamen, schlug er nach ihnen mit seinem steifen Hut.

Plötzlich fühlte er Ruths Blick. Es war dicht bei der Eisenbahnbrücke, die sich über die staubige Fabriciusstraße spannt.

Er hielt inne – gerade wollte er wieder mit dem Hut nach den Kindern schlagen – und suchte seinen Blick zu sammeln.

»Geht weg!« rief Ruth. Die Kinder drängten sich abseits zusammen. Eine Dame und der Betrunkene! Ungeheuer interessierte es sie. In der abenteuerlichen Vorstadt aufgewachsen, waren sie an die sonderbarsten Vorfälle gewöhnt.

»Ich möchte Sie einiges fragen!« begann Ruth.

»Gerne – stets bereit!« Herr Herbst schwang den Hut und schwankte erschrocken rückwärts. Er hatte Ruth sofort erkannt, und obschon er betrunken war, war ihm doch ihr verändertes Wesen aufgefallen. Ihre Stimme klang nicht mehr sanft und freundlich wie früher – hart, unbarmherzig. Ja, nun war sie also gekommen . . .

»Nein, nicht gesehen – nur gehört«, stammelte er erbleichend, während sein Blick flatterte. »Geschossen? Ja, geschossen! Ich hörte es. Weshalb, weiß ich nicht«

Ja, weshalb hatte man wohl geschossen? Der Soldat schoß, weil man auf ihn schoß, wenn er nicht schoß. Vom Höchsten bis zum Niedrigsten drohte hinter jedermann in dieser Zeit ein Gewehrlauf.

»Und Sie können mir nicht sagen –?«

Die Gruppe der Kinder stand immer noch neugierig abseits. Die Dame und der Betrunkene, der hin und her schwankte und wahrscheinlich bald einige Backpfeifen erhalten würde – es war ungeheuer interessant.

»Sie meinen?«

Der Havelock hob die kleinen, schmutzigen Hände gegen die Hutkrempe, einer Ohnmacht nahe. 384

»Es muß doch jemand die Polizei aufmerksam gemacht haben, nicht wahr?« Ruth schrie ganz laut.

Welch eine deutliche, furchtbare Frage!

Der Havelock taumelte. Er kratzte die grauen Bartstoppeln, sein kleines, bleiches Gesicht zuckt. Dann hob er den steifen Hut in die Höhe und machte eine Bewegung, als wolle er zu tanzen beginnen, und plötzlich – plötzlich fiel er in die Knie.

»Ich, ich!« rief er, krächzte er, den Hut in der Hand und nickte. »Ich!«

»Sie –?«

»Ja, ich! Ich!« Er rutschte auf den Knien näher und senkte voller Zerknirschung den kleinen, bleichen Kahlkopf. Die Kinder lachten.

»Ja, ich, Gott sei mir gnädig!«

»Sie –!? Weshalb nur –?«

»Weshalb? Ja, ja –.«

»Was hatte er Ihnen getan? Er?«

»Weshalb? Unerklärlich – wie alles in dieser Welt. Wie alles – völlig unerklärlich – ich liebe Sie ja, meine Dame, wie meine Tochter –.«

»Hüten Sie sich!« Nun wird sie ihn an den Ohren packen, dachten die Kinder erwartungsvoll.

»Wie meine Tochter – unerklärlich!« schluchzte Herr Herbst, und der Hut entfiel ihm. »Ich bin ein Verkommener.«

Die Kinder kreischten und klatschten in die Hände.

»Stehen Sie doch auf!« schrie Ruth. »Stehen Sie doch auf!« Und sie schrie so laut, daß Herr Herbst sich tatsächlich taumelnd aufrichtete. »Was Sie sind, das sehe ich ja. Ein Verkommener, sehr wahr, völlig verkommen –.«

»Ja, ja, ja!« Herr Herbst hob beschwörend die Hände. »Aber ich war nicht immer wie heute, meine Dame. Mein Sohn ist gefallen, seine Mutter . . .«

»Aber wissen Sie denn, was Sie getan haben?« unterbrach ihn Ruth außer sich. »Wissen Sie es denn? Wissen 385 Sie denn, wen Sie verraten haben? Sie Judas Ischarioth?«

Bei dieser Schmähung prallte Herbst zurück.

»Wissen Sie es denn? Er war Jesus Christus, der wiedergekommen war, um die Menschheit zu erlösen! Ja, das war er! Sie wußten es nicht!«

»Jesus Christus!«

»Und Sie – ein Säufer –!«

Namenloser Schreck spiegelte sich in den kleinen, halbblinden Trinkeraugen. Er glaubte, was Ruth, bleich und rasend, schrie – und auch Ruth glaubte es im Paroxysmus des Schmerzes.

Rasch wandte sie sich ab und eilte fort. Eingeschüchtert sah das Häuflein der zerlumpten Kinder ihr nach. Sie waren verstummt, weil sie sahen, daß die Dame, die mit diesem komischen Betrunkenen zankte, plötzlich weinte.

»Sie haben ihn getötet – aber er ist unsterblich! Ein Prophet, ein Seher, ein Heiliger war er!«

»Sie haben ihn getötet – aber er ist unsterblich!« rief Ruth vor sich hin, und die Tränen stürzten über ihr bleiches, verklärtes Gesicht.

Selbst als sie in belebtere Straßen kam, rief sie ganz laut und unaufhörlich die gleichen Worte.

Aber niemand beachtete sie sonderlich: man war es nachgerade gewöhnt, daß Menschen vor sich hin sprachen und weinten.

 


 << zurück weiter >>