Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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3.

Über dem Dunst des Räucherwerks, den wirbelnden Turbanen, Federn und Schleiern, auf der kleinen Empore, gerade über den Musikanten mit ihren grünspanfarbenen Gesichtsmasken, bewegte sich plötzlich ein massiger, breiter Schatten, der sich düster über die Decke reckte. Dann schrumpfte der Schatten zusammen, und über der Brüstung erschien ein breites, erdfarbenes, glanzloses Gesicht und blickte herab. Alle Blicke wandten sich nach oben. Der General war gekommen.

Der Räuber im durchlöcherten, billardgrünen Burnus deutete mit dem vermummten Gesicht zur Empore und raunte Hedi eine Bemerkung ins Ohr, die bei seiner Dame unbändige Heiterkeit auslöste. Sie fand ihren Kavalier schnurrig über alle Maßen. Und so etwas Keckes und Unverschämtes hatte sie überhaupt noch nicht erlebt!

»Fort, fort, er sieht her! Wie herrlich du doch lachen kannst!«

In der Tat, das erdfarbene Gesicht auf der Empore hatte die Brauen hochgezogen.

Der Räuber hielt die linke Hand mit dem gelblichen Brillanten wie zum Schwure in die Höhe, seine Rechte berührte Hedis Schulterblatt, schon tanzten sie. Obschon er sie kaum berührte, hielt er sie fest wie ein Schraubstock, 216 unentrinnbar. Und bei gewissen Figuren zog er sie unvermittelt dicht an sich – wie nur Räuber es vermögen.

Unterdessen irrte Klara mutterseelenallein und tief unglücklich in der labyrinthischen, farbenlohenden Höhle Ali Babas umher. Jeder Schlag der dumpfen Trommel traf ihr Herz, die Pfeifen schrillten Verzweiflung. Sobald aber das sonderbare Holzinstrument zu dudeln anfing, hielt sie sich die Ohren zu und entfloh in die fernsten Winkel. Aber überall waren diese verrückten Vermummten, in den entlegensten Winkeln. Aus allen Ecken und Dunkelheiten winkten weiße Arme und Hände, blendeten heiße Augen. In einem rotglühenden niedern Raum – Ali Babas Opiumhöhle – kauerten sie in Scharen auf dem Teppich. Das Herz der kleinen türkischen Witwe pochte gegen den Brief, den sie im Mieder trug – heute morgen war er gekommen.

Plötzlich sah sie aus einer Nische ein Paar Augen auf sich gerichtet, unendlich sanfte Augen voller Trauer, und sie versank angezogen in ihre Betrachtung. Sie hob die Hände, auch die Erscheinung in der Nische hob die Hände. Sie berührte Glas.

»Du bist es – Klara?« fragte sie, und die Erscheinung stellte die gleiche Frage.

Da aber griff plötzlich eine gespenstische, grüne Hand nach dem Spiegelbild, und sie schrak zusammen. Doch niemand war da. Eine Heiligenfigur, die ein Buch schwang, stand dem Spiegel gegenüber, und durch den wehenden Vorhang war ein Lichtstrahl auf die grüne Hand des Heiligen gefallen.

Wunderbar . . . Heinz hatte oben in der Luft ihr Gesicht im Äther dahinfliegen sehen. Es flog neben ihm her, genau so schnell wie die »Schwalbe«. So hieß seine Maschine.

Der Brief brannte auf ihrem Herzen.

»Wir sind ja jung! Vor uns liegt das Leben, vor uns liegt die Zukunft. Ich liebe dich, du Teuerster!« 217

Und der Brief glühte.

Schon taumelte sie wieder erschrocken zurück. Durch die Luft kam kopfüber ein Mensch geflogen, ein Mensch, merkwürdigerweise in Uniform, mit staubgrauem Gesicht und fiebrisch glänzenden Augen. »Feuerwalze, Feuerwalze!« schrie erschrocken ein Chor von Stimmen. »Er hat sich das Genick gebrochen!«

Die fiebrischen Augen wandten sich der kleinen, grauen Witwe zu. »Du weinst ja –« sagte der Uniformierte verwundert, und schon zuckte eine Hand nach ihr.

Aber schon floh Klara. Zwischen Vermummten hindurch, eine kleine Treppe hinauf. Plötzlich hielt sie inne: in einem Sessel saß der General. Auch für ihn gab es weder Tanz noch Musik. Zusammengesunken saß er, den Blick in sich zurückgezogen.

Düster brannten seine Augen.

Er hatte sich früher auf Festen gelangweilt, heute bedrückten sie ihn. Musik weckte Melancholien, fröhliches Gelächter Trauer. Er war ja nur hierhergekommen, um Dora nicht zu kränken – und um womöglich einige Worte mit einer hochstehenden Persönlichkeit zu wechseln, die ihr Erscheinen zugesagt hatte. Voller Verachtung blickte er auf diese Narren herab, die sich in bunte Lappen hüllten. Die Frauen begriff er noch zur Not – es war ihre Natur –, aber die Männer –? Während das Brüllen der Kanonen eine neue Epoche der Geschichte verkündete?

Durch eine schmale Tapetentür schlüpfte Klara ins Treppenhaus. Hier, zwischen alten Truhen und Schränken, atmete sie auf. Fern klangen Trommeln und Pfeifen. Plötzlich lächelte sie wieder.

Glücklicher war sie ja, als alle! Als alle!

Und plötzlich tanzte die kleine graue Witwe mit stillen, kleinen Schritten, für sich allein, zwischen den alten Truhen und Schränken. Sie hatte noch nicht das Meer gesehen und noch nicht das Hochgebirge. Zierlich hob sie die 218 Füßchen: all das würde sie sehen – mit ihm! Venedig und Paris, London und eine Stadt in Indien – zierlich wiegte sie die Hüfte – alles mit dir, mein Geliebter . . .

 

Weißbach? Sind Sie es, Weißbach? Retten Sie mich!« rief Hauptmann Falk und wischte sich den Schweiß vom grauen Gesicht. »Helfen Sie mir – Sie sehen mich in einem schrecklichen Zustand!«

Weißbach lachte.

»Ich bin behext, ein Weib hat mich total behext. Da – da – da – das ist sie! Sehen Sie diese Schwefelgelbe. Diese Hüfte – grundgütiger Himmel!«

»Aber, das ist ja Dora!« rief Weißbach aus.

»Dora? Wer ist Dora?«

»Das wissen Sie nicht? Die Baronin Dönhoff selbst!«

»Ah, ah – gut, einerlei, wer es ist. Jedenfalls, sie sehen mich in der fürchterlichsten Aufregung. Dieses Weib hat mich vollkommen verrückt gemacht. Sie kam zu mir und blinzelte mich an und berührte nur ein wenig meinen Arm, aber ich sage Ihnen – ein Strom! Jedenfalls – es muß etwas geschehen, und es wird etwas geschehen.«

»Halt, halt – Feuerwalze! Einen Augenblick! Nehmen Sie sich etwas in acht.«

»In acht, vor wem, vor ihr?«

»Nein, vor ihm.«

»Vor ihm? Er ist doch im Felde? In der Champagne!«

»Nein, er ist keineswegs im Felde. Er ist hier.«

»Hier? Hier –?«

Weißbach flüsterte Falk etwas ins Ohr – und Falk taumelte vor Verblüffung zurück.

»Wie sagen Sie –?«

»Pst!«

»Unmöglich!«

»Nun, Sie werden schweigen!«

»Ah, ah – aber hören Sie?« 219

»Sie sprechen nicht darüber? Ihr Wort!«

»Ich spreche nicht darüber. Nein, was Sie sagen? – Ich dachte, ich hörte – eine Königliche Hoheit?«

»Das war ja früher. Vor der Heirat.«

»Ah, ah! Ich verstehe! – Aber hier kommt sie wieder! Sehen Sie doch, diese Hüfte, diese Bewegung! Leben Sie wohl, Weißbach –.«

»Vorsicht!«

Schon tauchte Falk zwischen den Vermummten unter. –

Der junge, schlanke Neger, der nur ein kurzes, rotgelbes Röckchen anhatte, glitt mit Erfrischungen in das Zelt. Wohlgefällig folgten die Augen der Prinzessinnen, Haremsdamen und Odalisken dem hübschen Sklaven.

Hedi kühlte das fiebernde Gesicht, der süßliche Duft des Räucherwerks betäubte sie. Ihre Wangen glühten durch den Schleier, ihre Augen blinkten wie geschmolzenes Blei. Sie fühlte, wie eine Schweißperle über ihre Hüfte rann, gerade wo der dünne Schleier sie bedeckte. Dieser rinnende Schweißtropfen war wie eine wollüstige Berührung.

Da hörte sie zu ihrem Erstaunen Klaras Stimme.

Ihr Kavalier, ein steifer Beduine, in einer Kadettenschule erzogen, sagte mit gelangweilter, selbstgefälliger Stimme: »In sechs, acht Reihen griffen die Russen an, und wir warteten, bis sie ganz nahe heran waren, dann erst eröffneten wir das Feuer.«

»Wie schrecklich!« rief Klara aus.

»Fünfmal griffen die Russen auf diese Weise an, immer in dichten Haufen, und wir schossen sie zusammen. Sie schrien und stöhnten vor unseren Verhauen. In der Nacht aber sank die Temperatur plötzlich auf minus 10 Grad, da wurden sie still.«

»Oh, wie entsetzlich!« Und Klaras Stimme verklang.

»Also kein Freund von Generalen?« fragte Hedi. Hier in dem kleinen, leeren Zeltzimmer war es Gott sei Dank etwas kühler. 220

»Nein.« Der billardgrüne Räuber lachte, ein freches Räuberlachen. »Das kann ich wirklich nicht sagen! Mit ihren Federbüschen, Ordenssternen und Ritterschwertern wirken sie lächerlich auf mich, wie Gespenster aus dem Mittelalter. Leider aber sind sie alles andere denn komisch. Ich behaupte sogar, solange es Generale gibt, wird es Kriege geben.«

»Solange es Kriege gibt, meinst du –?«

»Keineswegs. Ich meine, was ich sagte. Solange man Leute zu dem einzigen Berufe anstellt, Kriege vorzubereiten und zu führen, solange werden Kriege unausbleiblich sein.« Der Räuber ringelte sich behaglich auf dem Diwan zusammen und sog mit einem Strohhalm Eiswasser aus dem Glase. Er schwatzte gern, tat gerne geistreich, Hedi hatte das längst herausgefunden. Aber er gefiel ihr, und selbst sein Geschwätz über alle möglichen Dinge hörte sie nicht ungern. Es wäre gänzlich falsch, anzunehmen, daß Hedi nur für Flirt, Tanz und fünfzigpferdige, dahinrasende Automobile Sinn hatte. Sie hatte auch Sinn für Gespräche – nur für Langeweile hatte sie nicht die geringste Verwendung.

»Ja, unbedingt!« fuhr der Räuber eifrig fort. »Während die Welt nichts Arges denkt, sitzen überall diese Generale und denken darüber nach, wie sie ihre Kanonen verbessern könnten. Oh nein, sie verbessern sie nicht selbst! Man kann in der ganzen Geschichte nachforschen, nie haben diese Generale etwas erfunden, dafür haben sie ihre Spezialisten. Aber sobald sie nun glauben, die besseren Geschütze zu haben, wird ihre Sprache schon etwas kühner. Sie sammeln die große internationale Gemeinde der Kanonenanbeter um sich, bestechen die Presse, stürzen Minister, die nicht an ihre Kanonen glauben – und schon ist das Unglück fertig. Nun aber treten die Generale, die sich bisher im Hintergrund hielten, zum großen Erstaunen der Mitwelt plötzlich in den Vordergrund. Keine Macht der Welt ist von diesem Augenblick an mehr imstande –« 221

»Ich höre, du bist nicht Soldat?«

Wieder strich die kleine graue Witwe mit ihrem Kavalier an dem Diwan vorüber. Der steife Beduine sagte: »– stehe also auf der Sturmleiter, die Uhr in der Hand. Mit der Sekunde springe ich aus dem Graben.«

»Was für ein entsetzlicher Augenblick muß das sein«, sagte Klara.

»Alles ist Gewohnheit. Der Mensch gewöhnt sich an alles, mein gnädiges Fräulein.«

Die glänzenden Pechaugen des Räubers lachten aus dem vermummten Gesicht. »Soldat? Auch ich war Soldat«, erwiderte er.

»War?«

»Ja. Jetzt bin ich es nicht mehr. Ich bin tot.«

Hedi brach in lautes Gelächter aus.

»Ja, ich bin tot, meine schöne Maske,« fuhr der Räuber fort, »ich bin gestorben im Lazarett zu Warschau. Meine Bestattung kostete mich tausend Mark. Der Feldwebel hat mich aus der Stammrolle des Regiments gestrichen, ich existiere nicht mehr. Neben meinem Namen steht: Gestorben am Typhus –.«

Nein, wie Hedi doch lachen konnte!

»Wie herrlich – wie wunderbar!« Sie konnte sich gar nicht beruhigen.

»Welch wunderbarer Einfall. Er ist tot! Wer bist du eigentlich? Kenne ich dich?«

»Wir sahen uns zuweilen im Kaiserhof«

Ah! Daß er sie solange täuschen konnte? Es war Ströbel.

 


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