Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

10.

Mit der Minute kehrte der General abends aus dem Amt zurück. Er plauderte wie gewöhnlich etwas mit Niki, dem Kanarienvogel; plötzlich aber brach er die Unterhaltung ab und zeigte ein ganz unbegreifliches Interesse für den Papierkorb. Zuerst blickte er in den Papierkorb hinein, dann wühlte er darin mit der Hand, endlich stülpte er den Korb über den Arbeitstisch. Nichts. Es war sonderbar, jeder unbedeutende Zettel fand sich wieder – zum Beispiel, sollte man es glauben, Schnitzel jenes Briefes, den er vor einer vollen Woche an den Chefredakteur einer großen, besonders im Ausland vielgelesenen Zeitung in einer Aufwallung geschrieben hatte, worin er diesem Chefredakteur – – auch dieser Prospekt – alles, jede Kleinigkeit.

»Sonderbar, höchst sonderbar!«

Nicht ein Fetzen, nicht einmal ein Eckchen jenes grünen Briefumschlages, er würde die Farbe ja sofort wieder erkennen. Doch hier – nein, ein Notizzettel zu seiner Denkschrift: Die Armee der Frauen – worin er empfahl, diese brachliegende ungeheure Armee zum Wohle des Vaterlandes systematisch zu mobilisieren – lächerlich, alles, jede Kleinigkeit, aber von diesem Briefe: nichts.

Schon schlugen die Uhren.

Der General hatte heute aus dienstlichen Rücksichten bei Frau v. Dönhoff abgesagt und sich erst nach Tisch angemeldet.

Der Lüster im Speisezimmer brannte.

Dieser Lüster war aus schneeigem Glas, Tulpen, Prismen, Perlen. Eine Grotte aus schimmerndem Schnee, die leuchtete ohne zu schmelzen. 139

Das Zimmer war leer. Ruth war noch nicht da.

Daß er auch gerade diesen Brief – da trat Ruth ins Zimmer. Heiter und gut gelaunt, mit einer jungenhaften Verbeugung, wünschte sie »Guten Abend«.

»Frau v. Dönhoff läßt grüßen, Papa«, sagte sie, indem sie Platz nahm.

»Hast du Besuch gemacht?«

»Nein, ich traf sie auf der Straße.«

Jakob stürzte hinter seinem Schrank hervor, um die Serviette aufzuheben, die dem General entglitten war.

»Otto geht es gut?«

»Ja, nur zwei, drei Wochen«, erwiderte der General.

Es hatte beinahe den Anschein, als wolle eine Unterhaltung in Gang kommen. So leicht gingen die Worte hin und her. Da aber runzelte der General die Stirn, irgendein Gedanke war ihm durch den Kopf gegangen.

Schweigen. Jakob wechselte die Teller. Die Miene des Generals drückte deutlich den Wunsch aus, nicht mehr gestört zu werden.

Plötzlich hob er das Gesicht vom Teller und richtete den Blick voll auf Ruth. Ohne Zweifel, sie sah verändert aus! Daß es ihm erst heute auffiel? Sie trug auch eine andere Frisur, einen einfachen Knoten, der ziemlich tief im Nacken lag. Es sah aus, als habe sie soeben die Haare gewaschen und die Frisur rasch aufgesteckt. Diese Frisur mißfiel dem General, sie verriet geringe Sorgfalt. Wie gewöhnlich war ein Lächeln über Ruths Gesicht gebreitet, und besonders die langen Brauen, die über den Wangen schwebten, lächelten. Oh, wie genau kannte der General dieses Gesicht und dieses Lächeln!

Es war das Gesicht ihrer Mutter und das Lächeln ihrer Mutter. Dies war einer der Gründe, weshalb der General es vermied, in das Gesicht seiner Tochter zu blicken.

Ruth hob den Blick, und für eine Sekunde waren ihre Augen auf ihn gerichtet. Auch diese Augen kannte er genau, 140 zu genau: sanft, schimmernd, schwärmerisch – aber, ein Nichts, und die Schwärmerei wandelte sich in Hysterie.

»Jakob!« Der General deutete mit dem Messer auf die leere Fachinger Flasche. Der Bursche stürzte zur Türe hinaus. Röte ergoß sich in das Gesicht des Generals.

Wo war sie?

Nun wäre der geeignetste Augenblick –

Es wäre ja das Natürlichste gewesen, Ruth ohne Umschweife zu fragen, wo sie in der vergangenen Nacht gewesen war. Vielleicht war sie bei Freunden und hatte dort übernachtet, weil sich kein Wagen auftreiben ließ? Möglich. Wahrscheinlich würde die Sache sich aufs Harmloseste aufklären. Aber diese Frage ließ die Tradition der Familie Hecht-Babenberg nicht zu, wo jeder eine kleine abgeschlossene Welt für sich bildete, die es vermied, die andere zu berühren. Eine Art luftleerer Raum trennte diese Welten, der die Worte verschlang und ihren Klang und Sinn entstellte.

Die Augen der Sommerstorf würden sich voller Staunen auf ihn richten, als ob er etwas völlig Unmögliches und Undenkbares ausgesprochen habe. Etwas, das der Welt der Sommerstorf völlig fern lag, das die Welt der Sommerstorf nie begriff und nie begreifen konnte. Ruth würde lächeln und die Brauen in die Höhe ziehen. Ja, auch dieses Flattern der Brauen liebte der General nicht und die leise Überheblichkeit, die im Lächeln der Sommerstorf lag.

Seine Gedanken verdichteten sich, ballten sich zusammen, die Stirn wurde düster.

Behutsam schob Jakob mit seinen großen, in weißen Wollhandschuhen steckenden Händen die neue Flasche Fachinger auf den Tisch.

»Der Wagen ist da?«

»Jawohl, Herr General!«

Und die Limousine zwitscherte die Tiergartenstraße hinunter zur Lessingallee. – 141

»Hoffentlich geben sie ihm bald ein Frontkommando!« dachte Ruth, die sofort hinter dem General das Haus verließ. Sie hatte sich am Kemperplatz, ganz in der Nähe, mit jemand verabredet.

Beim Rolandbrunnen am Kemperplatz stand schon dieser Jemand und wartete. Er hob sich fast ebenso deutlich ab wie der Roland auf dem Brunnen selbst. Ruth lief wie ein junges Mädchen – lief dem Jemand in die Arme.

»Papa kam heute unvermutet zu Tisch«, sprudelte sie hervor. »Seine Laune wird immer schlechter. Wollte Gott, daß er bald wieder an die Front käme –«

»Wollte Gott, daß es bald keine Front mehr gäbe –«

»Ein herrlicher Abend, aber etwas kühl!«

»Es ist immer herrlich, wenn Ruth da ist.« Und der Jemand hüllte Ruth in seinen Mantel.

 


 << zurück weiter >>