Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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10.

Schrecklich fiel das Geläute der Glocken in Ackermanns Herz. Die Luft, schimmernd über der Riesenstadt, heulte und stöhnte. Die Todesschreie von Tausenden, Jammern und Röcheln, Klagen der Witwen und Gewinsel der kleinen Waisen, die nicht wissen, weshalb sie schrein . . . Wie riesige Mäuler voll Blut schwangen die ehernen Glocken über der Stadt und erbrachen Entsetzen über die Dächer.

Wenn du noch an Gott glaubst, so knie nieder . . .

Er hatte sie gesehen – nicht sie – die die Hüte schwangen! – hatte sie gesehen – die Felder, über die der Sturm ging. Allmächtiger! Gnade, Gnade in deinem Zorn! Da liegt er – Ebenbild Gottes, Sohn einer Mutter, in Schmerzen geboren, in Sorgen großgezogen – er ist tot – er wird sterben – er stirbt –. Da liegt er wieder – – und hier, hier, Stücke, Fetzen – er ist dahin . . .

Grau war Ackermanns Gesicht. 300 Grüppchen von Verwundeten, Zerschossenen, die sich gegenseitig stützen, immer wieder fallen, und die furchtbare Bahn der Granate heult über sie hinweg – Unglückliche, die verkommen, wenn der Zufall ihnen nicht gnädig ist. Und die Verbandplätze, wo die Ärzte mit schweißigen, stieren Augen arbeiten – und die furchtbare Bahn der Granate heult über sie weg . . .

Sonderbarerweise fiel ihm in diesem Augenblick ein längst vergessenes Erlebnis ein. Das Regiment hatte gestürmt. Über einem zerschossenen englischen Graben lag, das Haupt zurückgebogen, ein toter Inder. Schön und edel, den Adel seiner tausendfach geschändeten und vergewaltigten Rasse in den Zügen. Und – was denkst du? – die schweißnassen, blutnassen, rauhen Hände der Kameraden, die rauhen Hände von Arbeitern und Bauern streichelten das Gesicht des toten Inders, während sie vorübergingen. Streichelten es, einer um den andern. Schön bist du! – Hast es gut jetzt, keine Sorgen mehr. – Nun, mein Junge, dich hat es gepackt! – Liebkosten ihn – den Bruder!

Den Bruder, den Bruder!

Wie Keulenschläge trieben die Glocken Ackermann vorwärts. Sein flatternder Mantel flog dahin.

Ja, ja, dreimal heiliges Ja! Gott weiß es!

Einer mußte den Anfang machen! Einer mußte sich den im Wahnsinn dahinjagenden Völkermassen entgegenwerfen – einer mußte das Signal geben, selbst Signal sein – einer, einerlei, ob man ihn niederschlug, in Stücke zerriß. Einer, andere würden folgen, mehr, immer mehr!

Einer, ja, einer –.

Der flatternde Mantel blieb stehen, Verzückung lag auf Ackermanns Antlitz.

»Nun wohl, ich bin bereit!« rief er.

Bereit, bereit? Wozu bereit?

»Nun bereit, einfach bereit!« 301

Es war beschlossen. Seit heute, seit gestern, seit Monaten, seit Jahren. Es war beschlossen, seit er 1914 bei Langemarck stürmte, und die Reihen der Kameraden auf rätselhafte Weise dahinsanken. Nun wußte er es. Gott hatte ihn geprüft und auserwählt.

Alles war vorbereitet. Die Broschüre war fertig. Richard, sein jüngerer Bruder, würde sie wie anderes früher in der Provinz drucken lassen – die Freunde würden sie vertreiben. Die Mutter? Sie mußte begreifen. Und Ruth? Ruth war tapfer. Es war alles in allem nicht die Zeit, an diese Dinge zu denken.

»Vorwärts! Vorwärts!« Die Glocken heulten es, die Todesschreie in der Luft, das Röcheln der Sterbenden, das Jammern der Witwen und Winseln der armen Waisen – die Kameraden riefen es ihm zu, über die jetzt, in dieser Minute, die furchtbare Bahn der Granate hinwegheulte, die Kameraden, die jetzt mit starren Augen lagen, Freund wie Feind, die jetzt verbluteten, Freund wie Feind – alle, alle: vorwärts!

»Ackermann! Ackermann!« riefen warnende Stimmen in der Luft.

Er blieb stehen und warf die Blicke empor zu den unbekannten Stimmen in der Luft.

»Ackermann! Ackermann!«

»Bereit – bereit!« rief Ackermann und eilte weiter.

 


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