Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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10.

Otto wickelte sich fröstelnd in den Mantel.

Es war schon das beste, sich mit den Tatsachen abzufinden, nicht wahr? Sein Zug würde fahren, das stand fest! Er würde fahren, einerlei, was passierte. Kühle Gesichter, steife Verbeugungen, laute Unterhaltungen mit erkünstelt ruhigen Stimmen. Dann aber kommt der 69 Augenblick, wo man plötzlich ein fernes Brummen hört. Die Front! Irgendwo in der Einöde hält der Zug, nur noch Männer, nur noch Soldaten. Autos, Wagen, Kommandostimmen, Dunkelheit, Schmutz, Regen, der Geruch einer öden Gegend. Geschütze poltern, Granaten winseln, es ist ganz wie früher. Die Kameraden kriechen aus den Unterständen, Hände strecken sich einem entgegen, man ist laut, man ist fröhlich, aber alles ist – Lüge.

Er wußte nicht einmal, ob er sie noch in der alten Stellung finden würde. Diese Stellung lag Tag und Nacht unter schwerem Feuer, aber doch war sie angenehm im Vergleich zu den flachen Gräben seinerzeit in Flandern, wo sie bis an die Brust im eisigen Wasser hockten und völlig gelähmt, an zwei Stöcken einherhumpelten.

Aber all das ist es nicht, nicht das Feuer, die Nässe, die Kälte, die Entbehrungen. Es ist das riesengroße Antlitz des Todes, das da draußen über den Trichterfeldern steht. Es ist nichts als die grauenhafte Furcht vor dem Tode, wenn man das Leben liebt, nichts sonst.

Das allein ist die Wahrheit! –

Ein freudiger Schreck lähmte seinen Schritt.

Stand nicht etwas Weißes am Fenster – das weiße Buch? Nein, nichts, der Reflex einer Gaslaterne. Finster das Haus. Das eiserne Gartentürchen war verschlossen. Otto berührte den Drücker, er war eisig kalt. Die kahlen Zweige der Büsche peitschten auf und ab, und Otto sah durch die brodelnde Efeuwand hindurch in Gängen und Zimmern die Heiligenfiguren in ihren grotesken Verrenkungen.

Sie schlief, fest und tief, aber ihr Blick glänzte über dem schwarzen Hause.

Quer durch den brausenden, finstern Tiergarten führte Ottos Weg. Ströbel wohnte bei den Zelten. Die Fröhlichkeit mußte jetzt in dieser Stunde ihren Höhepunkt erreicht haben – ja, schnell, schnell! Gierig erraffen von der Nacht, was noch zu erraffen ist. Fort! 70

Immer rascher ging er dahin, gepeitscht von Begierde und Qual. Die Zeit wanderte unter den Sohlen seiner Stiefel. Mit jedem Schritt wanderte ein Stückchen Zeit rückwärts, ein zertretenes Staubkorn Zeit floh mit rasender Schnelligkeit zurück in Nichts. Ja, Sand war die Zeit, rinnender Sand, rasend rinnender Sand, nichts sonst. Ein Meer, ein Sandmeer rinnt – und schon ist ein Jahrhundert vergangen – schon ein Jahrtausend. Ein Riesenkrater rinnt, und Städte, Völker, Kontinente kommen ins Gleiten und rinnen hinunter – ins Nichts. Zeit, welch entsetzlicher Begriff! Glücklich Tiere und Götter, die ihn nicht kennen.

In diesem Moment trat der Mond aus dem dunkeln Gewölk. Auch er raste dahin – wie alles auf dieser Welt, das vor dem sicheren Untergang floh – raste, obgleich einige Jahrtausende bei ihm keine Rolle spielten. Aber eines Tages würde seine langweilige Visage bersten und er, zusammen mit dem Staub dieser Erde, den Schwanzzipfel eines Kometen bilden, der zum großen Staunen der Astronomen plötzlich vor der Linse der Teleskope erscheint – irgendwo in undenkbarer Ferne.

Noch sieben Stunden! Rasend stürzte Otto vorwärts. Die Zweige des brausenden Parkes griffen nach ihm. Und plötzlich schrie Otto – wild, wie ein Tier. Er war jung und er liebte das Leben.

 


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