Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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5.

Den ganzen Nachmittag schon wanderte der kleine Herr Herbst in seinem Zylinder in der Tiergartenstraße auf und ab. Immer wieder zog er die Uhr, immer 180 wieder klopfte er die Schmutzflecke mit dem Taschentuch von den Stiefeln.

Es war eigentlich nicht mehr kalt. Die Luft des Tiergartens war von roten Sonnenkeilen getigert, es roch schon nach Frühling, und zuweilen hauchte es feucht und warm, aber Herr Herbst hüllte sich fest in den rostfarbenen Havelock.

Er fror.

In der verflossenen Nacht hatte er nicht geschlafen. Er hatte getrunken, in einer kleinen Spelunke, mit richtigen Spitzbuben, die Einbrecherwerkzeuge bei sich hatten – richtigen Spitzbuben, seht an. Deshalb also fror er. Auch war dieser Zylinder kalt. Er schmiegte sich nicht wie sein anderer Hut dicht an den Schädel, es gab Spalten, durch die die Kälte wie durch Schornsteine an seinem geschorenen Schädel in die Höhe stieg.

»Ja, so ist es, so ist es!« flüsterte Herr Herbst und träumte vor sich hin. »Er würde, zum Beispiel, meinen Gang haben. Er war mir ja so ähnlich! Er würde sogar die gleiche Art zu sprechen haben. Bei manchen Worten fällt es mir ja etwas schwer, wenn viele L und R zusammenkommen, zum Beispiel: Sell – nun: Sellerie. Auch er hatte ja denselben kleinen Sprachfehler, schon in der Schule. Er würde mit einem Wort ganz wie ich sein. Wenn ich nun einmal unter der Erde liege, so würde er leben und gehen und sprechen – und eigentlich wäre ich es! Eigentlich, bei rechtem Licht besehen, ja. Ich würde weiterleben, obschon ich tot bin. Auch er würde Kinder gehabt haben – und so würde ich immer weiter leben«

»Aber so?«

»Wie ist es so?«

»Nichts, nichts. Gar nichts. Ich sterbe, man begräbt mich, und alles ist zu Ende. Wir sind tot, die ganze Familie ist von der Erde verschwunden«

Wie klar er heute zu denken vermochte! Seit langer Zeit fügten sich die Gedanken nicht so spielend aneinander. 181 Ausgezeichnet war das! Herrlich! Es gab ja so viele Tage, da er nur stottern konnte, seine Gedanken sich fortwährend verwirrten, und das hätte einen schlechten Eindruck gemacht.

Wieder befand er sich dem grauen Hause gegenüber. Jakob, der immer noch den Messingknopf der Haustüre polierte, machte ihm ein Zeichen. Also noch nicht! Jakob war ja eingeweiht, hatte zehn Zigarren erhalten – und zehn weitere Zigarren sollte er bekommen – danach!

Ja, das also ist die Wahrheit: von der Erde verschwunden!

Der Zylinder verlor sich in der Tiefe des Parkes. Schon war Herr Herbst wieder in seine alten Gedanken versunken.

»Eigentlich, ja, wäre alles ganz genau, als ob ich noch lebte. Ich liege unter der Erde, und doch lebe ich weiter. Denn er ist eigentlich ich – oder ich eigentlich er – –! So aber – bin ich wie eine Pflanze, die man ausgerissen hat und auf den Weg warf. Und dann ist es zu Ende – zu Ende für immer . . .«

Herr Herbst blieb mitten auf dem Wege stehen. Er zitterte.

»Ja – trotz allem – unfaßbar!«

»Ich lebe, obschon ich alt bin, und er, jung, kaum neunzehn – ist tot. Ich gehe hier – und er, liegt unter der Erde. In unbekanntem Land, vielleicht nicht einmal eingesegnet, vielleicht nicht einmal ordentlich begraben. Ohne Ruhe –!«

»Ohne Ruhe –«

Plötzlich aber schrak Herr Herbst zusammen. Sein Herz blieb stehen. Voller Schrecken, voller Verwirrung schlug er die Hände vors Gesicht.

Die Marspfeife der Limousine trillerte. Er kannte sie ganz genau.

 


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