Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die lustigste Stadt.

(Aus »Doktor Hellmuts Donnerstage«.)

In welcher Himmelsgegend und unter welchem Breitegrade diese merkwürdige Stadt sich befindet, soll hier nicht verraten werden. Nicht einmal darüber will ich Aufschluß geben, wie ich dahin gelangt – ob übers Meer, ob mittels Luftballons, ob im Traume – nur den Eindruck maßlosen Staunens, den ich dort empfangen, möchte ich wiedergeben und es erreichen, daß andere gleichfalls kopfschütteln ...

Wir kamen an einem schönen Vormittage dort an und unternahmen sofort eine Rundfahrt. Mein Begleiter war ein Bürger von – sagen wir – Hilariopolis und daher geeignet, mir über die Merkwürdigkeiten, Sehenswürdigkeiten und Gepflogenheiten des Ortes sachkundige Auskunft zu geben. Was er denn auch bereitwilligst und mit sichtbar befriedigtem Stolze that. Nur über meine Begriffsstützigkeit mußte er sich einigermaßen ärgern: das wiederholte Kopfschütteln ging ihm, wie es schien, stark in die Nerven.

In der Bauart unterscheidet sich Hilariopolis nicht beträchtlich von anderen großen Städten; die Eigentümlichkeit beruht mehr auf den Sitten der Bewohner, auf den öffentlichen Einrichtungen. Davon fielen mir gleich zu Anfang die Anzeichen in die Augen. Kaum war unser Wagen eine kleine Strecke vorwärts gekommen, als er an einer Straßenkreuzung halten mußte, da eine lange Kolonne von Menschen vorbeikam. »Ah, ein Regiment wahrscheinlich,« dachte ich und beugte mich hinaus. Es waren aber keine marschierenden Soldaten. Es waren junge Männer in schwarzem Frack, mit weißer Halsbinde, und junge Mädchen in ausgeschnittenen Tüllkleidern, welche paarweise und eingehängt – je fünf oder sechs Paare in einer Reihe – in einer Art langsamen Mazurschrittes durch die Straße glitten. Mit fragendem Blick wandte ich mich an meinen Begleiter.

»Eine Abteilung unserer Tänzer und Tänzerinnen,« sagte er, als ob das etwas Selbstverständliches wäre.

»Von der großen Oper?«

»Nein, für Privatbälle.«

Ich nickte vergnüglich: das versprach ein fröhlicher Aufenthalt zu werden.

»Warten Sie ... Wir wollen gleich ein wenig zusehen, wie unsere Tänzerscharen sich ergehen,« und er gab dem Kutscher einen Befehl.

»Es wird doch jetzt um zehn Uhr vormittags kein Ball stattfinden?« frug ich erstaunt.

»Nein, nur Übungen.«

Richtig hielten wir jetzt am Rande eines großen freien Platzes, wo zahlreiche Paare unter den Befehlsrufen eines Quadrille-Generals – Chaine à droite! En avant deux! Ronde – allerlei Evolutionen aufführten.

»Sonderbar,« bemerkte ich, »bei uns sind die Tanzschulen nicht so öffentlich –«

»Ja, bei Euch ... da ist freilich alles sehr verschieden ... da steht das Ballwesen noch auf einer gar niederen Stufe ... In Hilariopolis herrscht überhaupt ein ganz anderer Geist.«

»O, wir sind dem geselligen Vergnügen auch nicht abhold,« verteidigte ich unsere Heimstätten.

»Das weiß ich nur zu gut: ihr seid schrecklich unterhaltungssüchtig ... ihr wißt das hohe Glück stiller Häuslichkeit nicht zu schätzen und zu schützen so wie wir.«

Der Sinn dieser Rede war mir dunkel und so schüttelte ich nur sachte den Kopf und schwieg.

Jetzt aber fiel mir auf, daß in der Tanzschule nicht nur verschiedene Schritte und Figuren aufgeführt wurden, sondern auch andere Übungen stattfanden; livréebekleidete Diener trugen Tassen mit falschen Erfrischungen umher; an stellenweise angebrachte Bretterwände nagelten Tapezierer Draperien und Blumengewinde auf; große Buffets wurden mit Schüsseln und Flaschen und Theekesseln besetzt, um grüne Tischchen herum saßen ältere Leute und spielten Karten; kurz, was da eingeübt zu werden schien, war nicht allein die Kunst des Tanzens als vielmehr die Kunst des Ballgebens. Diese Bemerkung machte ich laut und auf meines Begleiters Bejahung fügte ich, nicht ohne leisen Spott, die Frage hinzu: »Wird da auch das Kurmachen geübt?«

Mit weihevollem Ernste ward auch diese Frage bejaht: »Gewiß! Das Kurmachen ist ja die Seele eines jeden Balles. Der verliebte Geist ist der eigentliche Ballgeist. Darum muß er in die Gemüter eingepflanzt und gepflegt und gestärkt werden. Je durchglühter von der Liebesleidenschaft unsere Tänzer und je geschickter sie in allen Verführungskünsten sind, und je sentimentaler und koketter die Tänzerinnen, desto interessanter gestalten sich die Bälle. Diese Neigungen – dem Menschen ohnehin angeboren – werden bei uns auf das eifrigste großgezogen.«

»Da muß es ja in Hilariopolis allenthalben ungeheuer – wie soll ich sagen? – ›flott‹ zugehen?«

»Gott bewahre! Wir sind die züchtigsten Leute – in dieser Hinsicht von unnachsichtiger Strenge! Außerhalb des Ballsaales ist alles, was Kurmachen heißt, verpönt und geächtet ... kommt überhaupt nicht vor. Da schützen uns die Gesetze: ein Verführer wird gehängt – eine Kokette von der Gesellschaft ausgestoßen – unbarmherzig.«

»Ja – aber auf den Bällen ...«

»Das ist ja doch etwas ganz anderes: da ist es Würze, da ist es sine qua non – da ist es Pflicht. Verstehen Sie denn das nicht?«

Ich verstand nicht. Aber um nicht noch dümmer zu scheinen, als ich ohnehin schon aussehen mußte, sagte ich einlenkend:

»Nun ja ... eigentlich ... wie man's nimmt, alles hat zwei Seiten –«

»Das ist's ja eben: darum sind ja die Bälle etwas gar so Furchtbares – Entsittlichendes,« versetzte der andere mit einem tiefen Seufzer und frommen Aufblick.

»Ah, Sie sind also kein Freund von –«

»Ich? Niemand hier zu Lande. Ausgenommen ein paar Terpsichoristen –«

»Was ist denn das?«

»So nennen wir die fanatischen Menschen, welche Bälle entweder an und für sich lieben oder wegen der dabei zu erlangenden persönlichen Vorteile; aber das ist Gottlob nur eine kleine Partei.«

Ich konnte mich nicht enthalten, den Kopf wieder ein wenig von rechts nach links zu neigen.

Wir fuhren weiter. Wenn wir an Monumentalbauten vorbeikamen, so gab mein Begleiter, wie das so Ciceronebrauch, auch ungefragt Bescheid:

»Das ist die städtische Ballakademie ... dort der Bau mit den zehn Rauchfängen ist die bedeutendste Kotillonordenfabrik ... die riesigen, einförmigen Häuserkarrés – das sind die Tänzerquartiere ... jener Marmorpalast – das Schnellpolkainstitut; hier ein Fächerdepot, dort ein Tanzordnungsmagazin; das Erzstandbild drüben: dem berühmten Quadrillevortänzer N. N. geweiht; diese Säule schließlich der Erinnerung an das große Ballfest bei X. errichtet.«

Auf alle diese Mitteilungen erwiderte ich nur das bei herumgeführten Fremden obligate, erbaut klingende »Ah!«

Immer deutlicher erhielt ich den Eindruck, daß ich in die lebenslustigste Stadt der Welt geraten war. Auch in den Schaufenstern der Läden fand ich diese Annahme bestärkt: Balltoiletten in den Modehandlungen, tanzende Puppen und eingerichtete Puppenballsäle bei den Spielereiwarenhändlern, gemalte Ballszenen in den Kunstläden und bei den Buchhändlern Bücher mit Titeln, wie: »Tanzreglement«, »Geschichtliche Übersicht der Bälle von Hilariopolis« und dergl.

Den überraschendsten Einblick in die herrschende Vergnügungswut gewann ich erst, als mich mein Begleiter auf eine Besuchsrunde zu verschiedenen Familien – den bedeutendsten des Ortes – mitnahm. Überall die großartigsten und, wie es schien, fieberhaft eiligsten Festvorbereitungen: die Stiegen wurden mit Blumen dekoriert, die Kron- und Armleuchter mit Kerzen besteckt, die Möbel ausgeräumt, um Platz zum Tanzen zu schaffen ... kurz, kein wohnliches und stilles Plätzchen im ganzen Hause.

Als ich mit meinem Cicerone wieder allein war, drückte ich mein Staunen darüber aus, daß überall gleichzeitig so enorme Anstalten getroffen wurden – es konnte doch nicht jeder am selben Tage einen Ball geben. »Haben denn die Leute für gar nichts anderes Sinn?« frug ich. »Bei uns finden auch mitunter gesellige Feste statt, wir tanzen recht gern, aber solche Dimensionen nimmt unsere Unterhaltungssucht niemals an, wir –«

»Wir sind nicht unterhaltungssüchtig,« unterbrach mich der andere in strengem Tone. »Das ist der große Unterschied zwischen Euch und uns. Ihr seid noch Anbeter der weltlichen Freuden – ihr ergötzt Euch an der unsinnigen, unwürdigen Sitte des Tanzes – wir sind zu höherer Gesittung gelangt, wir lieben nur die Häuslichkeit, nur die ruhevolle beschauliche Existenz im Familienkreise. Das gesundheit- und moraluntergrabende Treiben, dem ihr Euch in Euren Faschingsnarrheiten – ein Überrest der barbarischen Bacchanalien und Saturnalien – hingebt, das haben wir verachten gelernt – darüber sind wir hinaus.«

»Und so reden Sie, der Bewohner einer Stadt, in welcher allem Anschein nach noch heute an hundert Bälle stattfinden werden, von gestern sicherlich –«

»Weder heute noch gestern. Zwanzig Jahre sind seit dem letzten Ball vergangen, und so die Vorsehung will, so wir in unseren Bestrebungen ausharren, wird uns auch der nächste noch lange, hoffentlich recht lange, erspart bleiben.«

Ich riß immer erstaunter die Augen auf.

»Das verstehen Sie nicht? Sie fragen vielleicht: Wozu denn diese riesigen Vorbereitungen, an welchen wir unser Vermögen zusetzen – denn wir scheuen keine Ausgabe ... In allem schränken wir uns ein, nur für neue Kotillonrequisiten geben wir auch den letzten Groschen her. Nicht wahr, Sie fragen: wozu? warum? ... Sehen Sie – das ist ganz einfach: Jeder will seinen Ball erst ansagen, bis er die Sicherheit hat, daß derselbe der glänzendste der Saison sein wird ... Hört man nun, daß in einem anderen Hause reichere Dekorationen angelegt, üppigere Soupervorräte angeschafft, überraschendere Kotillonfiguren geplant werden, so trachtet man seinerseits, es den anderen mindestens gleich zu thun, wobei man sie jedoch überbietet, was sie veranlaßt, ihre Kräfte neuerdings anzuspannen, und so wird – begreifen Sie jetzt? – dem Losgehen des Balles auf die einzig praktische Art vorgebeugt. Freilich arbeiten wir alle dem Ruin entgegen, die Grenzen unserer Leistungsfähigkeit werden bald überschritten sein – aber was thut man nicht, um sich die Segnungen stiller Häuslichkeit zu erhalten, ohne die es kein echtes Familienglück gibt?«

»Verzeihen Sie,« wandte ich schüchtern ein, »ist diese Häuslichkeit nicht eine etwas – ungesunde?«

»Mag sein – aber immerhin noch besser als der rasende Festtaumel, der uns droht und der heute oder morgen –«

»Also doch? So wird Ihr wunderkluges System den kommenden Ball nicht verhindern? Es scheint dies auch niemand recht zu hoffen, denn in jedem Hause hörte ich von dem bevorstehenden Feste ganz geläufig sprechen.«

»Keiner wird sich trauen, es zu geben, solange die Gefahr besteht, daß das Fest des Nachbars schöner ausfallen könnte. Daher ist es – im Namen unserer begeisterten Häuslichkeitsliebe – unabweisbare Pflicht, auf dem eingeschlagenen Wege auszuharren. So habe ich erst gestern mit – ach! wie schwer und mühselig erworbenem Gelde meiner Frau ein Diamanthalsband gekauft, welches so kostbar ist, daß den andern Frauen wohl die Lust vergehen wird, ihre Halsbänder zur Schau zu tragen: Nur der Schmuck hält den Schmuck im Etui.«

Mein Gesicht nahm schon einen etwas verständnisvolleren Ausdruck an. Solche mit Sicherheit vorgebrachte und gewissermaßen geflügelt klingende Worte imponierten mir. Dennoch versuchte ich noch eine kleine Einwendung:

»Wäre es nicht vielleicht einfacher – dem bekannten Gesetze des kürzesten Weges, des geringsten Kraftverbrauches entsprechender, ein Übereinkommen zu treffen, das Ballwesen überhaupt abzuschaffen? Ich würde –«

Der andere blickte mich nach der Seite an: »Etwa ein Buch schreiben: ›Die Walzer nieder!‹« sagte er mißtrauisch. »Das sind Phantastereien! Bälle hat es immer gegeben und wird es immer geben.«

»Warum strengt Ihr Euch dann so an, dieselben zu verhindern?«

»Weil wir die Häuslichkeit über alles lieben.«

»Warum werden dann die Kinder zur Liebe der geselligen Vergnügungen aufgezogen, warum die ganze Stadtbevölkerung dazu ermuntert – gezwungen? So richte man doch lieber Erziehung und Leben gleich zur Häuslichkeit ein.«

»Das wäre ja eine jämmerliche Versumpfung! Was gibt es für die Jugend heilsameres, als den Geist schöner Geselligkeit? Was für die Gesundheit, für die Grazie Zuträglicheres als den Tanz? Unsere Ballinstitute, in welcher alle, alle Einwohner einige Zeit freiwillig zubringen müssen, sind ja die reinen Ferienkolonien.«

»So seid Ihr – das ist doch schließlich die Hauptsache – mit Euren Zuständen und Einrichtungen zufrieden?«

»Das könnte ich gerade nicht behaupten ... Überall wird gejammert, gezittert – überall heißt es: So kann es nicht fortgehen – die Opfer sind nicht mehr zu erschwingen!«

»Nun also?«

»Nun also?« Er warf stolz den Kopf zurück. »Wir erschwingen sie doch. Wir wollen, wir müssen häusliche Ruhe haben und ein altes, weises Wort zeigt uns den einzig möglichen Weg dahin: Si vis quietem –«

»Dann bereite den Ball,« ergänzte ich und sah vollständig überzeugt aus.

Berta v. Suttner.


 << zurück weiter >>