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Bruchstücke.

(Aus dem Napoleon-Roman » The Shadow of the sword« übertragen von Leopold Katscher.)

I. Vor der Konskription.

(Am Dorfbrunnen.)

»O mein Gott!« seufzte eines der Weiber. »Es ist nur zu wahr, gar manche von uns wird es zu ihrem Leidwesen bald genug erfahren.«

»Das wird für Kromlaix wieder ein trauriger Tag werden,« meinte eine andere. »Das letzte Mal wurde unser Piarik genommen und er ist noch nicht heimgekehrt.«

»Aber er lebt,« mischte sich eine Greisin ein, »während meine beiden Söhne ohne Priestersegen oder Freundesgebet gefallen sind«. Dabei war ihr Gesicht schmerzverzerrt.

»Ja, die Nachricht von einer neuen Konskription ist wahr«, bemerkte jetzt ein lahmes junges Mädchen namens Joan, »aber die Zeit steht noch nicht fest; es kann auch noch ein oder zwei Jahre dauern, denn es heißt, daß der Kaiser noch keine bestimmten Entschlüsse gefaßt hat. Da Mutter wegen meiner Brüder ängstlich ist, fragte sie heute den Pfarrer und er sagte ihr, die Listen hätten nicht viel zu bedeuten; die Leute würden vielleicht noch lange nicht einberufen werden; auch könne Frieden geschlossen werden und diesfalls brauche niemand zu marschieren«.

»Es ist unbegreiflich, warum der Kaiser nicht Frieden macht. Er ist doch Herr der Lage, und als solchem müßte es ihm leicht fallen, Frieden zu schaffen.«

Jeanne Penvenn lachte wild auf. »Der Kaiser?! Sage ›der Teufel‹ und alles ist gesagt. Macht der Teufel je Frieden?«

»Schweigen Sie!« rief Marcelle, die Geduld verlierend. »Sie haben nicht das Recht, so zu sprechen. Und was Ihre auf dem Schlachtfeld gefallenen Söhne betrifft, so ist ihnen jetzt wohler als einst im Wirtshaus, wo sie zu raufen und zu fluchen pflegten. Es sind die Engländer, die den Kaiser verhindern, Frieden zu machen. Mein Onkel, der Korporal, sagt, daß der Kaiser sich gern Ruhe gönnen würde, wenn die Engländer es zuließen, die alle Könige mit Gold erkauft haben. Die Wespen von Preußen und Engländern, die den Kaiser umsummen, können ihm nichts anhaben, aber sie können ihn belästigen und am Friedensschluß verhindern.«

Einige stimmten Marcelle bei, während andere heftig widersprachen; das richtete sich nach dem Einsatz, den jede Mutter oder Schwester im Kriegsspiel hatte.

»Wozu stellt der Sergeant die Listen so eilig zusammen?« fragte eine junge Frau. »Wenn die Losung garnicht oder erst nach Jahr und Tag stattfinden soll, warum diese Hast mit den Vorbereitungen? Offenbar führt der Kaiser wieder etwas im Sinne und wir werden gewiß noch vor der Ernte erfahren: was.«

Ein allgemeines Seufzen folgte dieser unangenehmen Weissagung. Ein sehr altes Weib, das eben mit ihrem Krug an einer Krücke heranhumpelte, »Mutter Goron« genannt, sah die Sprecherin mit einem seltsamen Blick an.

»Komme, was da kommen muß«, nahm Joan das Wort. »Wenigstens bleibt uns der eine Trost, daß der Kaiser nicht Alle braucht, und es steht bei Gott, wessen Name aus der Urne gezogen wird und wessen nicht.«

»Auch kann man der Heiligen Jungfrau eine Kerze opfern«, warf eine junge Mutter ein, deren Kinder noch ganz klein waren und die bei der Konskription nicht einmal für ihren Mann zu fürchten brauchte, der in Neufundland dem Stockfischfang oblag.

»Als unser armer Antonin im Herbst starb, weinte ich«, sagte ein junges Mädchen, das den Krug der Mutter Goron gefüllt hatte. »Aber jetzt ist es mir lieber, daß der liebe Gott ihn genommen als die Konskription.«

»Wir unserseits sind sicher!« rief Joan. »Ich habe nur Einen Bruder, und einzige Söhne von Witwen nimmt der Kaiser nicht.«

Diese Äußerung verdroß die Kaiser-Anbeterin Marcelle. »Da ist es doch besser« bemerkte sie, höhnisch lachend, »drei diensttaugliche Brüder zu haben, wie ich, von denen kein einziger ein Feigling ist. Mindestens einer von ihnen wird dem Kaiser dienen. Schade, daß ich kein Mann bin und daher nicht mitthun darf.« (Zwei Mädchen stimmten zu; wie leicht, mutig zu sein, wenn man weiß, daß man nichts zu verlieren hat!) »Allein diesmal werden auch die einzigen Söhne nicht verschont. Jeder taugliche Mann steht auf den Listen; wenn der Kaiser will, muß jeder gehen, nur die Blinden und Blöden nicht. Vive l'Empereur!«

Keine einzige Stimme wiederholte diesen Ausruf. Die alte Goron stieß einen Schmerzensschrei aus, humpelte zur Sprecherin hin, faßte sie beim Arm und schrie:

»Das ist falsch, Marcelle!«

»Was ist falsch, Mutter Goron?«

»Daß die einzigen Söhne gezogen werden. Der Sergeant behauptet es zwar, aber es ist falsch. Es kann ja gar nicht wahr sein, o Gott! Der Sergeant sagt, daß absolut niemand befreit bleibt, aber es kann unmöglich wahr sein. Ich habe mit dem Sergeant gesprochen; er meinte, der Kaiser brauche Tausende, ja Millionen Soldaten, um die Deutschen zu züchtigen. Das ist ja ganz in Ordnung, aber meinen Jungen soll er nicht haben. Ich habe für den Kaiser gebetet, damit er siege; und ich werde für ihn beten, solange er mir meinem Sohn läßt; meine andern sind tot und ich habe nur noch Jean.«

»Beruhigen Sie sich, Mutter Goron,« sagte Marcelle ergriffen. »Der Sergeant weiß all dies und wird Ihren Jean nicht auf die Liste stellen; und würde sein Name selbst gezogen, so würde er nicht zu marschieren brauchen.«

»Mein Fluch auf alle! Jean ist groß und kräftig, und die Großen und Kräftigen werden stets gezogen. Man betrügt bei der Ziehung und nimmt immer die Besten. Aber meinen Jean wird der Kaiser nicht bekommen; so wahr es im Himmel einen Gott gibt, er soll Jean nicht haben!«

II. Der rote Engel.

»Denn ich will in dieser Nacht durch Egyptenland gehen und alle Erstgeburten schlagen ... Und das Blut soll euer Zeichen sein an den Häusern, darin ihr seid, daß, wenn ich das Blut sehe, vor euch übergehe ...«

Diese Worte flüsterte Jehova in Egypten vor langer Zeit Moses und Aron zu, und die Osterlämmer wurden geschlachtet, und der Engel des Herrn überging die Häuser, auf denen das Blutzeichen zu sehen war. So wurden die Auserwählten des Herrn gerettet und die Scharen des Herrn verließen das Land Egypten.

So geschehen in Egypten vor langer Zeit. Dort waren wenigstens jene, die der Herr liebte, in Sicherheit. Anders in Frankreich am Anfang dieses Jahrhunderts; der Herr war fern und verhielt sich schweigend, auch gab's keinen Moses und keinen Aron, die seine Erwählten aus dem sündigen Lande geführt hätten.

Statt Gottes Passah und statt des Blutes von Lämmern an den Häusern des Volkes herrschte eine große Finsternis. Wohl funkelte auf fast jeder Schwelle ein rotes Zeichen, aber es war nicht ein Gottes-, sondern ein Kainszeichen, keines der Befreiung, sondern eines der Verurteilung.

Wie ein erschöpfter Sturm über die Erde flieht, war Napoleon von Moskau nach Paris geeilt, durch den Verlust einer halben Million Menschen wenig entmutigt, das Wehgeschrei und die Thränen zahlloser Witwen und Waisen kaum beachtend. Wie war er von den Völkern seines Reichs begrüßt worden? Mit Flüchen und Seufzern, mit leidenschaftlichen Bitten und Beschwörungen? Nein, mit Segnungen und begeisterten Zurufen. Die großen Städte seines Reichs – Rom, Florenz, Mailand, Hamburg, Mainz, Amsterdam – legten ihr schönstes Festkleid an und trugen Lilien im Haar. Die hohen Beamten überboten einander in Beglückwünschungen. Der Präfekt von Paris rief aus: »Was sind Menschenleben im Vergleich zu den ungeheueren Interessen, die auf dem geheiligten Haupt des Erben des Reichs ruhen!« Und der Universitätsgroßmeister sagte: »Der Verstand hält inne vor dem Geheimnis der Macht und des Gehorsams und überläßt dessen Erforschung jener Religion, die die Personen der Könige nach dem Ebenbilde Gottes geheiligt hat.« So und noch scheußlicher klang die Musik, nach welcher die gesalbten Erzpriester des kaiserlichen Baals tanzten und lästerten.

Inzwischen öffneten sich die Schleußen des Himmels und begruben die grande armée immer tiefer unter verschwiegenem Schnee. In jedem Heim gab's einen leeren Platz, in jedem Haus ein blutendes Herz, und allenthalben stieg der bittere Schrei auf:

»Wir flehen dich an, uns zu erhören, o Herr!«

Aber der Herr, den die Leute anflehten, war nicht Jehova, nicht ein unsichtbarer Allerbarmer, kein Gott des Himmels, von dem der die Toten bedeckende Schnee herabfiel. Der Herr der gebrochenen Herzen war Napoleon, der den Thron Gottes an sich gerissen hatte und sein furchtbares »Es werde!« über eine verwüstete Welt hinrief.

»Wir flehen dich an, uns zu erhören, o Herr!«

Er brütete inmitten seiner Hauptstadt und seine Augen überblickten die stille Erde. Wie eine Spinne im Herzen ihres Gewebes, lag er und lauerte im Herzen seiner Hauptstadt. Das von Paris unter Revolutionswehen geborene Geschöpf, das Kind jenes weltbewegenden Aufstandes, der mit dem Aufschrei befreiter Seelen begann und mit dem Geklirr gefesselter Seelen endete, der aus Feuer geformte Soldat, der Vernichter und Befreier von Königen – er war jetzt als das bekannt, was er wirklich war: ein Avatar, der Beherrscher Europas, der Meisterer und Diktator der Erde. Kein Wunder, daß Verrückte in ihrem Wahnsinn vor ihm wie vor Gott betend niedersanken.

»Wir flehen dich an, uns zu erhören, o Herr!«

Wenn er hörte, lächelte er. Wenn er verstand, lächelte er ebenfalls. Aber wir dürfen annehmen, daß er weder verstand noch hörte. Ein Avatar kann nicht verstehen, denn er hat keinen Verstand; er kann nicht hören, denn er hat keine Ohren. Er besitzt auch keine Augen und kein Herz. Er blickt nicht nach oben, denn er kann Gott nicht begreifen; er sieht nicht nach unten, denn er kann die Menschheit nicht wahrnehmen. Blind, taub, vernunftlos, unbarmherzig, furchtbar ist er, ein Götze, tötlich und sterblich.

Man wird vielleicht einwenden, daß Napoleon das war, was sonderbare Schwärmer zu allen Zeiten einen »großen Mann« genannt haben, und daß er als solcher, wie ja in der That manche seiner Äußerungen und Handlungen zu zeigen scheinen, eminent menschlich gewesen sein muß. Die Erklärung für diese Ansicht ist einfach. Große Männer einer gewissen Gattung sind lediglich infolge ihres Mangels an einzelnen menschlichen Eigenschaften groß. Wie Rousseau groß war, weil er der Scham unfähig war, galt Napoleon für groß, weil er sich als Herrscher unfähig erwies, die Folgen seiner Handlungen zu ermessen, mit anderen Worten: weil er weniger als die gewöhnlichen »kleinen« Menschen imstande war, diese Folgen zu unterscheiden. Wenn er Leiden sah, empfand er Mitleid; er konnte physische Schmerzen in keiner Form mit ansehen, und darum vermied er, gleich Goethe, ihren Anblick sorgfältig. Als ein menschliches Wesen hatte er menschliche Anwandlungen. Als ein »großer Mann« jedoch, als der Eroberer Europas, war er lediglich eine unwissende, unverantwortliche Macht ohne Augen und Ohren, ohne Herz und Vernunft, ein durch einen blinden erbarmungslosen Willen zu düsteren Plänen und verhängnisvollen Thaten gedrängter Automat.

Somit hatten jene nicht ganz Unrecht, die von ihm behaupteten, er sei stets von einer gewissen, rotgekleideten Person begleitet gewesen, die sein Vertrauter war. Nur war dieser geheime Vertraute seine eigene wunderbare Erfindung. Thatsächlich war Napoleon der Frankenstein des von ihm selber geschaffenen Kriegsungeheuers, das ihn seit seiner Erschaffung niemals in Frieden schlafen ließ. Dem Volke mochte er ein Gott dünken – dem Ungeheuer gegenüber war er ein Sklave.

»Du hast mich aus dem Chaos geschaffen«, schrie das Ungeheuer, »jetzt füttere mich auch! Meine Nahrung ist: Menschenleben. Du hast mich aus den mächtigen demokratischen Elementen heraufbeschworen – kleide mich! Mein Gewand soll von vaterlosen Kindern gewebt werden. Du hast mich in Gottes Namen geformt – verschaffe mir eine Braut, damit mein Geschlecht sich vermehre und die Erde bevölkere.« Und die Braut hieß – Tod.

»Wir flehen dich an, uns zu erhören, o Gott!«

Vielleicht hätte er diese Bitten vernehmen können, vielleicht vernahm er sie wirklich und zögerte; aber das Ungeheuer ließ ihm nicht Zeit, sondern fuhr fort:

»Rasch! Mehr Futter, denn ich bin hungrig! Mehr Gewänder, denn ich habe nur Lumpen auf dem Leib! Eine andere Braut, denn die erste ist mir zu kalt! Weigerst du dich, so verschlinge ich dich mitsamt deinen Nachkommen, deinem Reich und deinen Hoffnungen!«

So antwortete denn der Kaiser dem Ungeheuer (es war 1813): »Sei ruhig und ich will dir zu Willen sein.« Den roten Vertrauten im Dunkel der geheimen Kammer zurücklassend, begab er sich, von seinen Kreaturen angebetet, hinaus und Blumen wurden vor ihm her gestreut, während Musik an sein Ohr drang. Bald war mehr Futter bereit, ein neues Gewand gewebt, eine andre schreckliche Braut herbeigeschafft: Gemetzel, die jüngste von drei Schwestern; die zwei anderen hießen Hungersnot und Feuer. Napoleon kehrte zu dem Monstrum zurück und rief:

»Sei mein roter Engel und eile im Dunkel der Nacht durch das Land! Versieh jedes Haus mit einem blutroten Zeichen und jedes Haus soll seine Geliebtesten dir und deiner Braut überlassen. Denn ich bin Napoleon! Und das Blut sei als ein Zeichen auf den Häusern, wo unsere Opfer sind!«

»Wir flehen dich an, uns zu erhören, o Herr!«

Der Schrei stieg auf, aber vergebens. Der rote Engel war über das Land hingeflogen und am Morgen befanden sich seine blutigen Zeichen an den Thüren. Zweimalhundertundzehntausend Kinder Frankreichs waren auserwählt und folgten dem Rufe. Wohl wurden keine Osterlämmer geschlachtet, aber jedes der zweimalhundertundzehntausend Kinder des Landes stellte sich selber als Opferlamm.

III. Gespräche.

»Als ich mich in einem gewissen Dorf des Ostens aufhielt,« erzählte der Wanderlehrer Arfoll mit leiser Stimme, »betrat ich das Haus eines Weibes, das ihre beiden Söhne im letzten Feldzuge verloren und vor einer Woche ihren Gatten begraben hatte. Sie saß auf einer Bank, starrte ins Feuer und ihr Blick glich dem einer Wahnsinnigen. Ich klopfte ihr auf die Schulter, aber sie rührte sich nicht; ich sprach sie an, aber sie hörte mich nicht. Nur langsam konnte ich sie aus ihrer Lethargie erwecken. Sie stand mechanisch auf, setzte mir Speise und Trank vor und ließ sich dann wieder vor dem Feuer nieder. Obgleich nicht alt, hatte sie weißes Haar ... Ich sagte ihr, daß ich ein Schulmeister sei und Schüler suche. »Was können Sie lehren?« fragte sie plötzlich. Ich antwortete, daß ich ihren Kindern schreiben und lesen lehren könne. »Gehen Sie und suchen Sie meine Kinder!« rief sie, ein entsetzliches Lachen ausstoßend. »Und wenn Sie sie in ihren Schneegräbern gefunden haben, kehren Sie zurück und lehren Sie mich, der Hand fluchen, die sie getötet und dort verscharrt hat. Lehren Sie mich den Kaiser verfluchen! Lehren Sie mich einen Fluch, der ihn niederschmettern könnte! Lehren Sie mich ihn töten und in die Hölle befördern! O, meine armen Jungen! André! Jacques! Meine armen Jungen!« Sie stieß ein Wehgeschrei aus, fiel auf die Kniee und zerbiß das eigene Haar. Meine Qual war groß und da ich nicht helfen konnte, schlich ich mich davon.«

»Das ist ja ein schrecklicher Fall, Meister Arfoll!«

»Jawohl, aber es ist nur einer von vielen Tausenden. Die Flüche steigen zum Himmel auf. Werden sie nicht erhört werden? ... Der Kaiser mag ein großer Taktiker und Soldat sein, aber ein großer Mann ist er nicht, denn er hat kein Herz ... Als er letzthin durch die Straßen von Paris ritt, flehte das Volk ihn um den Frieden an, Frieden um jeden Preis. Man hätte ebenso gut jenen großen Stein anflehen können. Er blieb schweigsam wie Marmor und hörte das Flehen nicht.«

»Der Krieg ist etwas Furchtbares«, sagte Arfoll, das Neue Testament, aus dem er dem Korporal die ruhigen, friedlichen Parabeln Jesu vorgelesen hatte, zuklappend, »und der Friede ist das beste.«

»Das ist ganz richtig,« antwortete der Ex-Korporal, »aber der Krieg ist eine Notwendigkeit.«

»Er würde es nicht sein, wenn die Menschen einander liebten.«

»Donnerwetter! Wie kann man seine Feinde lieben?! ... Diese Preußen! Diese Engländer!«

*

Es war ein Krieg zwischen Teufeln. Beide Seiten fochten wie Satane und das zwischen ihnen liegende Land verwandelte sich in eine Einöde. Die armen Bauern flohen in die Wälder und verbargen sich in Höhlen, die Kirchen waren mit Weibern und Kindern gefüllt. Tag und Nacht konnte man brennende Städte und Dörfer sehen. Niemand zeigte seinem Nachbar Erbarmen und die französischen Konskribierten behandelten ihre Landsleute wie Kosaken. Felder und Gehöfte, die Aufenthaltsorte der Menschen und der Tiere waren verödet, und Nachts kamen große Rudel hungriger Wölfe herbei, um die Toten zu fressen.

»Ja, das ist eben der Krieg,« sagte der alte Korporal und nickte phlegmatisch mit dem Kopf, denn er war derlei »kleine Zwischenfälle« gewöhnt.

»Und welche Schreckenszeit erlebte ich erst in der belagerten Hauptstadt! Während die Verteidiger kämpften, krochen die Parias aus ihren finsteren Löchern hervor und erfüllten die Straßen, nach Brot schreiend. Sie glichen eklem Gewürm, das auf Aas herumkriecht. Erhielten sie kein Brot, so begingen sie oft Morde. O Gott, sie waren wahnsinnig! Ich habe eine vom Hunger zur Verzweiflung getriebene Mutter ihr Baby auf das Pflaster schleudern sehen, daß das Hirn nur so spritzte!«

*

»Sie sind ein Gelehrter, aber Sie verstehen nichts vom Krieg. Ein großer General fragt nicht nach solchen Dingen. Ob bei Leipzig fünfzig oder fünfzigtausend Mann gefallen sind, ist einerlei. Und wenn's hunderttausend wären, es würde sich gleich bleiben.«

»Aber Ihre zwei Neffen? Die befinden sich doch wohl?«

»Sie stehen in Gottes Hand und Gott wird sie erhalten. Sie thun, wie wackere Männer, ihre Pflicht im Dienste einer ruhmreichen Sache und Gott wird sie nicht verlassen.«

»Wenn jeder dies von seinen Angehörigen denkt, so ist es denn doch nicht ganz einerlei, ob bei Leipzig fünfzig oder fünfzigtausend gefallen sind. Stehen nicht alle in Gottes Hand? Und warum sollte er so viele, die ja ebenfalls ihre Pflicht thun, eher verlassen als Ihre Neffen?«

*

»Was lesen Sie da?« fragte Arfoll.

Rohan zeigte ihm das Buch; es war eine während der Revolution gedruckte Tacitus-Übersetzung.

»Darin«, bemerkte der Wanderlehrer, »ist kaum von etwas anderem zu lesen als von Blut, von Schlachten, vom Ächzen der Völker unter dem Druck der Throne. O Gott, es ist allzu schrecklich! Selbst in der Bibel, die »Gottes eigenes Buch« genannt wird, lesen wir dieselbe blutige Geschichte, hören wir denselben wahnsinnigen Aufschrei gepeinigter Menschen. Gottes Buch ist blutig wie Gottes Erde ... Wie furchtbar ist die Sucht nach Krieg und Waffenruhm! Wenn es auf mich ankäme, ich würde jeden kriegsdürstigen Tyrannen versteinern, dann gäbe es keinen Krieg mehr, denn dann wäre kein Kain mehr vorhanden, der Krieg führen und die Leute verrückt machen könnte.«

*

»Hat die alte Barbaik nicht einen Sohn?«

»Ja, er heißt Jannick, ist lahm, hat einen großen Höker und an der rechten Hand fehlen ihm zwei Finger – er kam so zur Welt.«

»Gott hat sich ihm also sehr gnädig gezeigt.«

»Gnädig?! Wieso?«

»Ja, ihm und seiner Mutter gnädig, denn es ist besser, krumm und lahm zu sein, als Soldat zu werden. Der glückliche Jannick kann nie in den Krieg ziehen und seine Mutter darf ihn behalten.« – – –

*

»Mein Name steht diesmal, obgleich ich der einzige Sohn einer armen Wittwe bin, auf der Konskriptionsliste und ich kann gezogen werden.«

»Vielleicht, aber Gott verhüte es!«

»Gott verhüte es? Was verhütet Gott? Verhütet er etwa Grausamkeit, Schlächterei, Gemetzel? Nein! Er überläßt seine Welt Teufeln.«

»Nicht Gott, sondern der Mensch ist des Menschen Geißel. Er hat die Welt schön gemacht. Freilich, mein Gott ist nicht der Gott der Priester, auch nicht der Schlachtengott.«

»Sie haben Recht. Und wenn ich je unter die Fahnen gerufen werde, wenn je die blutige Hand sich auf meine Schulter legen und der blutige Finger mich vorwärts weisen sollte, dann will ich bis zum letzten Blutstropfen, bis zum letzten Athemzug widerstehen. Und wenn alle Welt gegen mich sein sollte, ich würde standhaft bleiben. Man kann mich töten, aber man kann mich nicht zwingen, andere zu töten.«

»Gott verhüte, daß ihn das Loos treffe,« dachte Arfoll bei sich. »Jetzt ist er noch ein Lamm, denn er kennt nur grüne Gefilde und den Hauch des Friedens. Aber er ist auch ein Feuergeist und das erste Schlachtenblut würde ihn in ein wildes Tier verwandeln.«

Und das Loos traf ihn. Er fühlte, gegen welche Macht er anzukämpfen haben werde; er wußte, daß seine ganze Heimat, seine Mitbürger, seine Verwandten und vielleicht sogar seine geliebte Marcelle gegen ihn sein werden, aber sein Entschluß blieb unerschütterlich. Er wollte lieber sterben, als dem verabscheuten Ungeheuer dienen ... Er haßte das Blutvergießen in jeder Form und ersehnte täglich den Frieden: Frieden dem guten Gott im Himmel, Frieden den Menschen, Frieden dem Gevögel der Felsen und den schwarzen Seehunden, die ihn mit menschenähnlichen Augen anblickten. Seine riesige Körperkraft und sein Wagemut hatten noch nie zu bösen Zwecken Verwendung gefunden ... Von Jahr zu Jahr hatte er mit eigenen Augen den roten Engel der Konskription über sein Heimatsdorf dahinschreiten und die Häuser mit blutigen Zeichen versehen gesehen. Jahrein jahraus hatte er mit eigenen Ohren die Witwen Gefallener jammern und deren Kinder weinen hören. Er hatte immer klarer den großen Eroberer als eine verabscheuenswerte Macht erkannt und immer inbrünstiger für die Märtyrer des Kaisers gebetet.

Er ging zum Pfarrer. – – –

»Sie sind erstaunt, Pater? Sie scheinen mich nicht zu verstehen? Nun denn, ich will mich deutlich ausdrücken. Ich mag kein Soldat werden – das ist so sicher wie der Tod ... Der Kaiser will mich nicht verschonen, meine Landsleute wollen mir nicht helfen und so komme ich denn zu Ihnen, Pater Rolland! Sie sind ein Priester, der Absolution erteilt, die Seelen der Sterbenden auf den Himmel vorbereitet und Gott auf Erden vertritt. Ich appelliere an Ihren Gott gegen unsern Kaiser. Ich behaupte vor Gott und vor Ihnen, daß der Kaiser ein Teufel und Frankreich ein Fleischscharren ist. Ich will Gottes Gebot befolgen und nicht morden, kann daher dem Kaiser nicht gehorchen. Ich widerstehe der Sündenversuchung, in die mich der Teufel führt. Ihr Gott ist ein Gott des Friedens; Christus starb lieber, als daß er die Hand gegen seine Feinde erhob. Ich komme zu Ihnen, um mir von Gott helfen zu lassen ... Sie, mein Pater, sind ein guter Mensch und haben ein Herz für die Armen. Sagen Sie mir, ob es in Ordnung ist, daß diese vielen Kriege stattfinden. Ist es billig, eine halbe Million Menschen ums Leben zu bringen, wie es in Rußland geschah? Halten Sie es für recht, daß jetzt wieder viermalhunderttausend Mann einberufen werden? Und dann: Sind die Menschen nicht Brüder? Dürfen Brüder einander morden, martern, blutvergießend gegenüber treten? Wenn all dies in Ordnung ist und wenn Brüder dies dürfen, dann ist Christus im Unrecht und für Ihren Gott kein Raum auf dieser Welt.«

»Lästere nicht, Rohan! Du verstehst nichts von solchen Dingen. In der Hauptsache bist du ja im Recht, aber es hat immer Kriege gegeben. Die Menschen sind streitsüchtig und dasselbe gilt von den Völkern. Wenn dich jemand schlüge, mein Sohn, würdest du nicht zurückschlagen? Damit würdest du nur dein Recht verteidigen, und auch eine Nation hat Rechte.«

»So hat Christus nicht gesprochen; er sagte vielmehr, man müsse, wenn auf die eine Wange geschlagen, die andere hinhalten, – nicht wahr?«

Der Pfarrer war verwirrt und hustete verlegen; dann erwiderte er:

»Das ist der Buchstabe, wir müssen aber auf den Geist sehen ... Auch muß man, wie es in der Bibel heißt, dem Kaiser geben, was des Kaisers ist. Deine Seele gehört Gott, dein vergänglicher Leib dem Kaiser.«

»Ich liebe mein Leben, meine Mutter, meine Braut und den Frieden. Sie nennen meinen Leib vergänglich, mir aber kommt er wertvoll vor, und da auch jeder andere Mensch sein eigen Leben hochhält, so habe ich geschworen, unter keinen Umständen und auf Niemandes Befehl zu morden. Ich sehe schon, Sie und Ihr Gott können mir nicht helfen. Dieser ist längst gestorben und wird niemals wiederkehren; nicht er, sondern Kaiser Napoleon beherrscht die Welt.«

Robert Buchanan.


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