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Unter der Friedenspalme.

Ein Märchen für »Große«.

Es war einmal – so müssen ja alle Märchen beginnen – eine Prinzessin. Das Reich, über welches sie herrschte, findet ihr auf keiner Landkarte und doch ist es wohlbekannt, aber ich will euch ja kein Rätsel aufgeben, sondern ein Märchen erzählen. Also: Unsere holdselige Prinzessin war aus Genieland. Als sie geboren wurde, legten ihr gute Feen allerlei Gaben in die Wiege – Schönheit, Klugheit, Fleiß, Anmut, Güte und noch viele andere Vorzüge. Was Wunder, daß alle Welt die Prinzessin liebte und verehrte und daß ihre Untertanen sich freudig in ihren Dienst stellten? In Hütte und Palast war sie stets ein gern gesehener Gast. Und doch fühlte sie sich nicht glücklich. Warum? Das will ich Euch bald sagen.

Als nach ihrer Geburt all' die lieblichen Feen Gaben in die Wiege gelegt und sich entfernt hatten, trat ein unscheinbares Mütterchen vor; es war ganz in Grau gekleidet und wären nicht die unergründlichen klugen Augen gewesen, die einen merkwürdig hellen Glanz ausstrahlten, man hätte sich vor der tiefernsten Erscheinung fürchten müssen. Sie neigte sich über die schlummernde Prinzessin und sagte:

»Mein Kind, du bist mit Gaben ausgestattet worden, die dir das Leben im rosigen Lichte erscheinen lassen werden. Du wirst schön, klug, gut und mildherzig sein, die Menschen werden dich lieben, dir schmeicheln und dich verwöhnen, dadurch könnten sie aber deine Tugenden in Fehler verwandeln, wenn ich dir nicht den kostbaren Schatz schenke, dessen du bedarfst, um dich davor zu schützen. Ich bin die gesunde Vernunft; wenn du mich besitzest, wirst du stets das Gute vom Bösen, das Schöne vom Häßlichen unterscheiden können. Freilich wird dir die Welt dann nicht mehr so rosig erscheinen, aber dafür wirst du auch das höchste Gut anstreben: die Wahrheit.« Sie küßte das Kind und verschwand.

Unsere Prinzessin hätte das schönste Leben auf der Welt führen können, würde sie nicht die verhängnißvolle Gabe der gesunden Vernunft besessen haben. Bei jedem Fest, das man ihr gab, bei jeder Huldigung, die man ihr darbrachte, lispelte ihr die Vernunft allerlei Dinge ins Ohr, so daß sie die Freude an nichtssagenden Vergnügungen verlor. Sie erkannte gar bald, wie selbstsüchtig, eitel und ungerecht die meisten Menschen sind und fühlte sich darob unglücklich. In solcher Stimmung eilte sie stets in den Palmenwald, warf sich unter den prächtigsten Baum – den sie ihre »Friedenspalme« nannte – und träumte, wie sie die Welt besser und klüger machen, ihr den Frieden bringen könne. Ja, den Frieden, das war's was die Welt brauchte. Die kleinen und großen Kämpfe verrohten die Menschen, pflanzten Selbstsucht und Ehrgeiz in ihre Herzen. Wenn erst Friede, ewiger Friede herrschte, dann ließe sich's herrlich leben! Die gesunde Vernunft zeigte der Prinzessin, was der Welt notthat, aber was nützte das, wenn nicht alle Menschen es wußten!

Eines Tages lag sie wieder unter ihrer »Friedenspalme«, grübelte und grübelte und hielt mit der Vernunft Zwiesprache, bis sie müde die Augen schloß. Und da geschah etwas Seltsames. Eine wundersam weiche, liebliche, leise Stimme, wie sie sie nie zuvor gehört, schlug an ihr Ohr.

»Ei, Mutter Gaea, warum verhüllst du dein Antlitz und weinst, während alles um dich her lacht? Na, warte nur, ich, deine alte Freundin, werde sofort alle deine Thränen mit meinen Strahlen aufküssen und dann kannst du nicht mehr weinen!«

»Ach, meine liebe Sonne, du hast gut reden,« entgegnete jetzt Gaea, zu ihrer Freundin emporblickend. »In deinen luftigen Höhen wohnt die Sorge nicht, aber in meinem Reich schleicht sie in den verschiedensten Gestalten umher und zerstört in einer Stunde, wozu ich Jahre gebraucht, um es zu errichten. Gar oft schon schaltest du mich ob meiner ›thörichten‹ Liebe zu dem Menschengeschlecht – aber ich kann es nicht aus meinem Herzen reißen, dieses mein Schmerzenskind!«

»Dachte ich's doch, daß das undankbare Geschlecht, welches Gott in seinem Zorne geschaffen, dir wieder Kummer bereitet! Gute, arme Gaea, gerade dir mußte das herbe Los zufallen, solche Geschöpfe zu Bewohnern zu haben! Oft schon hatte ich mir vorgenommen, in anderen Bahnen zu kreisen, um all die Erbärmlichkeit, Ungerechtigkeit und Niedertracht nicht länger mit ansehen zu müssen, deren deine Menschen, die sich selber die ›Krone der Schöpfung‹ nennen, sich schuldig machen. Aber wenn ich dann deine Trauer sehe, vermag ich nicht, mein Antlitz von dir zu wenden. Du dauerst mich von Herzen und ich senke meine goldigsten Strahlen auf dich hinab, damit wenigstens dein zweites Kind, die freie Natur, sprieße, gedeihe und dir Freude bereite!«

»Ohne deine treue Freundschaft und Hilfe wäre ich ja längst nicht mehr! Deine belebenden Strahlen richten mich auf, sind Balsam für meine Leiden. Sieh, du bist niemals Mutter gewesen, und kannst daher nicht begreifen, daß ich gerade mein ungeratenes Kind am meisten liebe. Übrigens hast du stets zu hart und unnachsichtig über dasselbe geurteilt. Gar so erbärmlich und schlecht, wie du glaubst, ist es auch nicht; viele Tugenden schlummern in seinem Busen, die nur der Auferstehung harren. Blicke um dich und du mußt bewundernd anerkennen, was der menschliche Geist geschaffen ...«

»Aber, Gaea, Gaea, wie blind macht dich dein Mutterstolz! Ich sage dir, der menschliche Geist wandelt auf Irrwegen. Was haben all die großen Errungenschaften der letzten Jahrhunderte zu bedeuten? Man hat Pulver und Kanonen erfunden, um sich gegenseitig besser töten zu können! Erfindungen verdrängen Erfindungen, sind jedoch die Menschen deshalb besser? Nein, tausendmal nein! Auf den täglichen Wanderungen deines Erdballs um mich sehe ich gar manches, was dir entgeht! Millionen Thränen werden vergossen, Klagen ausgestoßen, Flüche steigen zum Himmel empor, der Stärkere unterdrückt den Schwächeren. Wohl haben die Menschen die Kultur auf eine hohe Stufe erhoben, aber die Verbreitung von Mitleid und Liebe hat damit nicht gleichen Schritt gehalten ... Wohin ich mich wende, überall sehe ich nur Kämpfe und blutige Kriege. Ja, meine liebe Gaea, der Geist deiner ›geliebten Menschen‹ entwickelt sich auf Kosten des Herzens.«

Gaea senkte traurig das Haupt und wieder rieselten einzelne Tropfen über ihre abgehärmten Wangen.

»Das ist's ja, was mich so betrübt!« flüsterte sie bewegt. »Die Welt könnte so schön, so unübertrefflich schön sein, wollten die Menschen mehr der Stimme des Herzens folgen, den ungesunden Ehrgeiz, der Groß und Klein verzehrt und zu den ungeheuerlichsten Ausschreitungen treibt, verbannen und an seine Stelle wahre Brüderlichkeit setzen ... Hörst du das seltsame Rollen, das meinen Leib erzittern macht und das Knattern, welches die Luft erschüttert? Das sind die von Menschen abgehaltenen Übungen, um sich bei gegebenem Signal gegenseitig kunstgerecht ermorden zu können. ›Krieg‹ nennen sie einen solchen Massenmord! O, wenn sie wüßten, welche Schmerzen sie ihrer Mutter Gaea mit einem solchen bereiten! Aus tausend Wunden blute ich, und wärst du nicht, die mit deinem belebenden Licht Balsam in dieselben träufelte, wie wär's mit mir bestellt?! Wunderst du dich noch, daß ich traurig bin und mein Antlitz verhülle? Solange das Gespenst des Krieges mich umdräut, kann ich mein Haupt nicht frei erheben! Erst wenn jenes aus der Welt geschafft ist, werde ich wieder aufatmen, denn dann wird auch mein Schmerzenskind aus dem wüsten Traum, der es gefangen hält, zu neuem, zu freudigem und friedlichem Leben erwachen. Aber wie werde ich dieses Gespenst los ...?«

Die Sonne hatte ruhig und ernst zugehört, der Schmerz ihrer ältesten und liebsten Freundin ging ihr sehr nahe und sie wollte ihr gerne helfen. Nachdenklich heftete sie ihr strahlendes Auge zu Boden und dieses streifte die schlummernde Prinzessin aus Genieland.

»Merkwürdig,« sagte die Sonne jetzt und ihr ganzes Gesicht lachte vor Freude, »daß wir nicht schon längst auf diese Idee gekommen sind! Die hier soll uns helfen. Sieh dir doch das prächtige Weib an! Schönheit, Güte, Klugheit, Energie und vor allem gesunde Vernunft sind ihr zu eigen. Sie ist ein Kind aus Genieland und hat daher die Macht, auf die Herzen und Geister der Menschen zu wirken. Bis jetzt schlummert der Drang, das Gute zu wollen, das Böse und Niedrige zu verabscheuen, unbewußt in ihr. Dieser Drang ihres Herzens soll unter meinem Kuß zur That erwachen. Was weder deinen stummen Klagen, noch meinem bittern Groll gelungen, dieses holde Wesen soll uns durch den Zauber und die Macht ihres Geistes und ihrer Zunge das böse Gespenst ›Krieg‹ aus der Welt schaffen!«

»Ich glaube nicht, daß ihr das gelingen wird,« meinte Gaea kleinlaut. »Bedenke doch, sie ist nur ein schwaches Weib.«

»Ei wirklich? Nur ein schwaches Weib?! So schlecht kennst du deine Menschen, daß du nicht weißt, wie stark gerade ein Weib sein kann, wenn es ein bestimmtes Ziel vor Augen hat, das es erreichen will? Ich sage dir, nur ein Weib vermag uns von dem Gespenst zu befreien! Nur ein Weib ist imstande, durch zähes Festhalten an den einmal gefaßten Ideen Feinde aus dem Felde zu schlagen und all den Hohn und Spott auf sich zu nehmen, den die verblendeten Menschen anfangs auf sie schleudern werden. Das mutige Beispiel dieses Weibes wird auch die anderen Weiber anspornen, für eine Sache zu kämpfen, zu deren Trägerinnen sie in erster Reihe berufen sind. Wenn Frauen die Friedensfahne erheben und Rekruten für sie werben, ist die Sache so gut wie gewonnen! Gaea, blicke froh in die Zukunft! Dein Traum – der ewige Friede – wird in Erfüllung gehen ... Doch ich habe schon zu lange mit dir geplaudert, ich darf nicht länger säumen, und auch du mußt nach deinen Geschäften sehen!«

*

Die Prinzessin aus Genieland schlug die Augen auf. Eine angenehme Dämmerung umhüllte sie, die Sonne sank eben im fernen Westen unter. Die Prinzessin blickte verwundert um sich. Hatte sie geträumt und das Gespräch zwischen Sonne und Erde im Traume gehört? Aber wenn es nur ein Traum war, weshalb fühlte sie jenes eigentümliche Drängen in ihrem Herzen, das böse Gespenst »Krieg« zu bezwingen? Nein, nein, es war kein Traum! Und leise flüsterte sie:

»Ich werde nimmer ruhen und rasten können, bis« – da raschelte etwas in ihrem Baum und ein frisches Palmblatt fiel ihr in den Schoß – »ja, bis ich die Friedenspalme zum Lieblingsbaum der ganzen Welt gemacht haben werde!«

Berta Katscher.


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