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Der Zeitgeist.

Abseits bisher von den schroffen Ufern,
Dem steilen Bett, in welchem das Leben
Unaufhörlich und unaufhaltsam
Seine schäumenden Wogen wälzt,
Hab' ich kühleren Mutes gestanden.
Ungern sah mein Auge nur,
Und von betrübender Scham umflort,
Zu dem tückischen Spiel der Wogen,
Und wenn je ihr Rauschen ans Ohr
Mir gedrungen, erbebte mein Herz.
Abseits stand ich, und Wolken des Unmuts
Lagerten finster um Stirn und Haupt,
Wenn ich freien und klaren Geistes
Still bedachte den Geist der Zeit.

Wie schreitet er so stolzen Schrittes,
Erhabnen Hauptes seinen Weg dahin,
Sich selbst mit immer frischem Lorbeer
Bekränzend seine königliche Stirn.
Und ist er nicht König? Hat er nicht machtvoll
Erde und Himmel sich unterworfen?
Hat er nicht in Empörung rasende
Elemente gezähmt, und ihre Naturkraft,
Ist sie nicht die Sklavin seines Willens?
Wer darf hier zweifeln? Steht der Geist der Zeit
Nicht auf der höchsten Stufe? Ist das finstre
Barbarentum vergangner Jahrhunderte
Nicht abgestreift? Ist er nicht ganz Kultur?
Ist er nicht König? Hat er uneingeschränkt
Nicht Macht und Freiheit?

So hört' ich täglich tausend Rufe
Laut und begeistert durcheinanderjubeln,
Allein – – mitjubeln konnt' ich nicht.
Wenn ich die Macht des Zeitgeists auch gebührlich
Bewunderte, die Freiheit sah ich nie.
Gefesselt sah ich ihn mit hundert Ketten,
Die finstrer Vorurteile dunkle Macht,
Der Hölle Ausgeburt, die Lüge,
Die wilde Roheit »überwundner« Zeiten,
Die sich in fein moderne Formen hüllt,
Unkenntlich sich zu machen, schmiedeten.
Ja selbst die gräßlichste von allen Ketten:
Der Völker-fressend' mörderische Krieg,
Hält unzerreißbar noch den Geist der Zeit
Gefesselt, und er rühmt sich, frei zu sein!

Erlogner Ruhm! O, wär' er nicht erlogen!
O, wär' er wahr und wären jene Ketten
Ein Trugbild nur! Wie gern dann möcht' ich mit
Dem Lorbeer, den ich jetzt dem Geist der Zeit
Versagen muß, ihm seine Stirne kränzen!
So dacht' ich noch jüngst, und Wolken des Unmuts
Lagerten um mein betrübtes Haupt;
Und bekümmert ließ ich mein Auge schweifen
Hinüber zum tobenden Lärm des Lebens.
O, Wunder! Was sah ich? Wohl sah ich die Ketten,
Die sklavisch fesseln den Geist der Zeit.
Aber auch regen sah ich sich Kräfte,
Die mächtig an diesen Ketten rütteln;
Gewalt'ge Kräfte, Kräfte des Geistes,
Erheben den Kampf für Wahrheit und Recht,
Fürs Gute und Schöne und reißen die Larven
Dem Häßlichen, Schlechten rücksichtslos ab. –

Doch was für wunderbare Stimmen
Dringen besel'gend nun an mein Ohr?
Ist es Wahrheit? Ist es ein Traum?
Was längst im Busen ich still gehegt,
Es ist kein Traum, es ist wirklich, es lebt!
Stimmen des Friedens, wunderbare
Klänge, die sonst mir im Traume nur tönten,
Läuten mit lieblichem Glockenton
Schon das neue Jahrhundert ein.
Völkerfrieden! Es seien gesegnet
Die Geister, welche den hohen Gedanken
Auf das Banner ihres Strebens
Schrieben mit leuchtender Flammenschrift.

Mein stillstes Ahnen, mein schönster Traum
Beseelt schon tausend gleichfühlende Herzen,
Und nicht mehr lagern Wolken des Unmuts
Mir um die Stirne; Rosen der Freude
Duften mir holde Begeist'rung zu.
Nicht mehr abseits brauch' ich zu wandeln,
Fern von den stürzenden Wogen der Zeit.
Hindrängt eine geheime Macht
Mich zur Schar der edelsten Geister
Und begeistert erschallt mein Ruf:
»Euer bin ich, und niemals erlahmen
Mögen die Schwingen eures Strebens!
Wer für den Frieden kämpft, hilft retten
Des Jahrhunderts Ehre und Würde

Magnus Neumann.


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