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Gegen den Lehrplan

Ein sonderbarer Heiliger! Wenn er so in die Klasse trat – Naturkunde war sein Fach –, ganz Falten und Brille das Gesicht, da schwang sich keiner von uns zu einem höhern, hellern Gefühl für ihn auf, als dem linder, achtungsvoller Scheu. »Dragoner« nannten wir ihn und bildeten uns was darauf ein. Sei es, daß einmal einer von uns, da in unserer Stadt Dragoner nicht standen, des alten Gellert schwarzgrauen Schnauz- und Schloßbart seinem Phantasiegebilde eines Dragonerkopfes als am nächsten kommend befunden hatte, oder sei es, daß dieses Epitheton ihm nur darum angehängt wurde, weil, wie er in dämmrigen Nachmittagsstunden uns anvertraut, seine beiden Söhne Offiziere jener Truppe gewesen – beide waren, einer 66, der andere 70, den »ruhmvollen« Schlachtentod gestorben –: gleichviel, ganzen Generationen war und blieb er der »Dragoner«. So konnte es denn geschehen, daß ein Neuling der untern Klassen ihm eines Tages in gutem Glauben mit »Jawohl, Herr Dragoner!« antwortete. Offenbar zum erstenmal kam so der stets für sich lebende Alte hinter seinen Spitznamen, zum erstenmal erfuhr er von dem betrübenden Resultat seiner gelegentlichen scheuen Herzensergießungen. Zur Verwunderung der ganzen Klasse aber hatte er den Übelthäter nur mit einem langen starren Blicke bedacht und war dann grimmigen Lächelns darüber hinweggegangen.

An dem nämlichen Tage leitete er die Stunde bei uns von der obern Sekunda mit einer kurzen kernigen Abhandlung über » Grausamkeit, die nichts denkt«, ein. Noch heut seh' ich das Blitzen seiner Brillengläser, hör' ich den gedämpft knorrigen Ton seiner Stimme. – Wir waren just bei der Lehre vom Blut des Menschen. Sonst gewöhnt, davon mit einem Gleichmut zu reden, der dem eines Konfektionärs hinsichtlich einer halben Elle Band gleichkam, hatten wir seit zwei Stunden gelernt, jenem Artikel ein Maß von Ehrfurcht zuzuwenden, wie es der Kostbarkeit desselben billiger Weise entsprach. Ich glaube, in diesen Tagen hätte keiner dem andern auch nur einen Nadelstich versetzen mögen, konnte er doch ein Tröpflein Blut kosten!

»Jene unbedachte Grausamkeit angeboren oder anerzogen?« – Eingedenk der ewigen Warnungen von Eltern und Lehrern vor Keilerei und Tierquälerei, erklärten wir uns einstimmig für »angeboren«. Wir sollten glänzend widerlegt werden. Es ist wahr, kaum ein anderer Naturgeschichtslehrer hätte das gethan, und sicher kein Lehrer der vaterländischen Geschichte! Aus letzterm Fach nämlich holte der alte Querkopf seine Waffen, mit denen er uns jetzt schlug.

»Apropos, Ihr habt wohl neueste Geschichte jetzt? Wieviel Tote setzte es doch bei – Königgrätz? – Fiedler!« Fiedler, verwirrt durch diese Abschweifung ins Historische, stotterte was von einigen 20 000. Ein allgemeines humoristisches Auflachen ging durch die Klasse.

Ich, stets fest in Zahlen, meldete mich sofort.

»Nun? Stimmt's nicht?« knurrte der »Dragoner«.

»Bewahre! Da sind zum mindesten die etwa 15 000 Verwundeten eingerechnet. 6000 Tote waren's.«

»Mit den Vermißten?« Er lächelte ironisch.

»Nein; das ist doch ganz was anderes!«

»Richtig – das ist ja ganz was anderes.« Etwas stechendes lag in dem Aufblitzen seiner Brillengläser. – »Mein Ältester gilt als vermißt – das ist jetzt an die fünfzehn Jahre – – und ich alter Dummkopf betrauere ihn als tot! –«

Ich bin überzeugt, wär' ich in diesem Moment einem augenblicklichen Impulse gefolgt und hätte dem alten einsamen Mann leise die Hand geküßt, nicht viele hätten sich verwundert.

Die schwüle Stille unterbrach mein Nachbar zur Linken kraß genug:

»Eigentlich waren es doch 6665.«

Ich ahnte, der Racker hatte es noch von neulich auf seiner Manschette stehn und so fuhr es denn ziemlich giftig aus mir heraus: »Ach, auf die paar wird's wohl nicht ankommen! – So genau kann man's auch nie wissen.«

»Man kann doch zählen,« gegenredete mein Nachbar.

»Und sich verzählen!«

»Ganz recht,« unterbrach jetzt der Alte, »ob eine Handvoll mehr oder weniger, meine Herren! ... Na, seien wir christlich, einigen wir uns auf 6500 Stück.«

Es gab einige Unbesonnene unter uns, welche glaubten, diese Wendung mit einem beifälligen Gelächter begleiten zu müssen. Diese können so bald nicht den Donnerton vergessen haben, in dem sein Ruhe gebietendes »Still!« ihnen in die Kinnladen fuhr.

Dann fragte er plötzlich völlig sachlich wieder:

»Wieviel Blut hat doch ein normaler Mensch so in sich, Lehmann?«

»Cirka 5000 Gramm.«

»Hm! – Wir sind spendabel, wir schenken uns das verzettelte Blut jener beregten 15 000, um uns das der 6500 voll zu wahren. Ein Gramm ist einem Kubikcentimeter gleich; Blut ist wie Wasser dem spezifischen Gewichte nach, kann man sagen. Dies in Beziehung gebracht zu den 6500 von Königgrätz, ergibt –?«

Das kam alles mit einer verwirrenden Trockenheit heraus. Eifrig rechneten wir. Einmal blickte ich nach dem Katheder hin und zum erstenmal ward ich gewahr, daß hinter jenen glatten kalten Brillengläsern auch Augen saßen, und was für Augen! Mit einem Schimmer unsagbaren Wehs lagen sie auf uns, in das sich doch etwas wie gespanntes Erwarten mischte. – »Das macht ja 'ne Unmenge! – Was soll's nur mit dieser Schlächterrechnung?!« grunzte plötzlich einer der Vorlautesten von uns. Augenblicklich begann die ganze Klasse gleich einem gereizten Hornissenschwarm zu summen. Über Grund und Zweck ihres Murrens waren sicher die meisten Köpfe sich unklar.

Der Alte blieb stumm. – Da ertönte die Glocke. Mit einem Wink bannte er uns.

»Das Resultat?«

»32 Millionen fünfmalhunderttausend Kubikzentimeter macht's,« kam es unwillig zurück.

»32 Millionen fünfmalhunderttausend Kubikcentimeter resp. Tropfen vergossenen Menschenblutes in einer Schlacht: das klingt allerdings horrend,« versetzte der »Dragoner« ruhig. »So was gibt man besser in Kubikmetern. Macht? –«

»32½«.

»Nun, sehn Sie, so fällt's kaum mehr auf.«

»Aber, Herr Gellert,« riefen jetzt empörte Stimmen durcheinander, »das ist doch pure Sophisterei! Es handelt sich doch nun mal um Blut! Eine Schlacht ist doch mehr als ein Rechenexempel!« u. s. f.

Er schwieg eine Weile, aber seine Augen leuchteten uns an. Endlich sprach er: »Ich gratuliere Ihnen, meine Herren, zu der Entrüstung; möge sie Ihnen stets zu Gebote stehen! – Sie müssen übrigens bezüglich meiner Frage zugeben: nicht durchaus angeboren das!! – Adieu!«

Wir standen da und unsern Augen war plötzlich nach einer Richtung hin ein ganz neues Sehen eingepflanzt. Es gab welche unter uns, die sich einbildeten, von dem alten »Dragoner« in einer Stunde mehr fürs Leben gelernt zu haben, als von andern in Jahren. Das waren freilich dieselben, die später nie begreifen lernten, daß es eine spezielle Kgl. preußische Ethik gäbe, die unter anderm da aufhörte, wo die K. K. österreichische begänne, und so fort bis an die Grenzen Freilands, des gesegneten, aber leider noch zu begründenden.

Jenes »Adieu!« war nahezu des alten »Dragoners« letztes an uns gewesen. Er ward pensioniert. Er werde unzuverlässig, hieß es, und beginne zu faseln.

Oskar Kreutzberger.


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