Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Feind?

Bei Tagesgrauen brach meine Kompagnie zur Feldwache auf.

Totmüde taumelten die versprengten Mobilen und Franctireurs, denen wir begegneten, an uns vorüber.

Es ging weiter, und wir stießen auf das Korpskommando. Der General, von seinem Stab umgeben, überwachte die Manöver der Artillerie. Er hielt die Karte auf dem Halse seines Pferdes ausgebreitet und suchte vergeblich die Mühle von Saussaie. Während er sich über die Karte bückte, welche die Kopfbewegungen des Pferdes jeden Augenblick aus der Lage brachte, schrie er:

»Wo ist nur diese verdammte Mühle? ... Pongoin ... Courville ... Courville ... Glauben die, ich müsse alle ihre verwünschten Mühlen kennen?«

Er gebot uns Halt und fragte:

»Ist einer von euch aus der Gegend? ... Weiß einer von euch, wo die Mühle Saussaie liegt?«

Keine Antwort.

»Nein? ... Nun, so hol's der Teufel!« und er warf seine Karte dem Ordonnanzoffizier hin, der sie sorgfältig zusammenfaltete. Wir setzten unsern Marsch fort.

Die Kompagnie wurde in einem Pachthofe untergebracht und mich stellte man auf den Posten, ganz nahe an der Straße, an den Ausgang einer kleinen Schlucht, von wo man die Ebene übersah, eine Ebene weit und flach wie das Meer. Hier und da tauchten kleine Waldbestände gleich Inseln aus diesem Landozean empor; helle Glockentürme und Häusermauern, durch die aufsteigenden Dünste halb verwischt, glichen fernen Segeln.

Eine große Stille lag über dieser endlosen Fläche, eine große Stille und Einsamkeit, in welcher der geringste Laut, die geringste Bewegung etwas eigentümlich unheimliches hatten, das einem das Herz ganz bange schaudern machte. Dort oben, jene schwarzen Punkte, gleich Fleckchen am Himmel, das waren Raben; dort unten, auf der Erde, jene schwarzen Punkte, die momentan größer wurden, dann dahinglitten und verschwanden, das waren flüchtige Mobilen, und von Zeit zu Zeit ließ sich das ferne Bellen von Hunden vernehmen, von West nach Ost, von Nord nach Süd hallend – es war wie das Wehklagen der verlassenen, verödeten Landschaft ...

Die Posten sollten alle vier Stunden abgelöst werden, aber Stunde um Stunde zog dahin, langsam, wie Ewigkeiten, und niemand kam, meinen Platz einzunehmen.

Gewiß hatte man mich vergessen! Beklommenen Herzens stand ich da und durchforschte bald den Horizont nach der Richtung der Preußen, bald den Horizont nach der Richtung der Franzosen. Ich sah nichts, nichts als eine harte, starre Linie, welche den grauen Himmel ringsum abgrenzte. Längst schon hatten die Raben zu kreisen, die Mobilen zu fliehen aufgehört.

Einen Augenblick bemerkte ich einen Karren, der sich dem Wäldchen näherte, wo ich stand, aber er schlug einen Seitenweg ein und zerschmolz bald im Grau des Hintergrundes.

Warum verließ man mich so? Ich hatte Hunger und mir war kalt; der Magen knurrte, die Finger wurden steif ... Ich wagte mich einige Schritte auf der Straße vor, und von Zeit zu Zeit ließ ich einen Ruf erschallen, ... kein lebendes Wesen antwortete, nichts rührte noch regte sich ... Ich war allein, allein, ganz allein auf dieser verlassenen, leeren Ebene ... Ein Schauer lief durch meine Adern und unwillkürlich stiegen mir Thränen in die Augen ... Ich rief wieder, und wieder ... Nichts!

Da zog ich mich denn in das Wäldchen zurück und setzte mich unter eine Eiche, die Flinte quer über die Schenkel gelegt, gespannt horchend, wartend ... vergeblich! Der Tag ging nach und nach zur Neige; der Himmel ward gelb, überzog sich leicht mit Purpur, dann erlosch er in der Totenstille der Umgebung. Und die Nacht sank herab über die Gefilde, eine Nacht ohne Sterne, ohne Mond, während ein eisiger Nebel aus dem Waldesdickicht emporstieg.

Die Dunkelheit war undurchdringlich; in tiefster Schwärze lagen die Felder unter dem drückenden Himmelsgewölbe, nur in weiter Ferne schwebten hellere Flecken, lange Nebelfetzen über dem unsichtbaren Boden, aus welchen die Umrisse der Bäume in noch tieferer Schwärze emporragten.

Ich hatte mich nicht von der Stelle gerührt, wo ich saß, und vor Kälte begannen mir die Glieder zu erstarren, die Lippen zu springen. Mühsam erhob ich mich, um das Wäldchen zu umgehen. Meine Schritte hallten auf dem gefrorenen Boden in unheimlicher Weise; es schien mir immer, wie wenn jemand hinter mir einherginge. Vorsichtig schlich ich weiter, auf den Zehen, als ob ich gefürchtet hätte, die schlafende Erde zu wecken, und ich horchte und suchte die Finsternis zu durchdringen, denn trotz allem hatte ich noch nicht die Hoffnung verloren, daß man mich ablösen werde.

Kein Laut, kein Atemzug, kein Licht, nichts, das bestimmte Gestalt angenommen hätte, in dieser toten Nacht. Aber doch vernahm ich zweimal ein Geräusch wie von Schritten, und das Herz schlug heftig in meiner Brust. Allein das Geräusch entfernte sich, verhallte allmälig, und die Stille wurde drückender, unheimlicher, zum Verzweifeln ... Ein Zweig streifte mir das Gesicht, ich fuhr, von Entsetzen gepackt, zurück. Etwas weiter schien mir plötzlich eine kleine Erderhöhung der Rücken eines Menschen, der gegen mich herangekrochen kam – und ich spannte in fiebriger Hast den Hahn ... Ein verlassener Pflug, dessen Handhaben zum Himmel emporragten wie das drohende Gehörn eines Ungeheuers, benahm mir den Atem, und die Knie begannen zu zittern ... Mich hatte da einmal die Furcht gepackt, die Furcht vor dem Schatten, vor der Stille, vor dem nächstbesten Gegenstande, der über die Linie des Horizonts hinausragte, und den meine erregte Einbildungskraft zu etwas Unheimlichem, Schrecklichem belebte ... Trotz der Kälte perlten mir die großen Schweißtropfen über die Stirn.

Da kam mir der Einfall, den Posten zu verlassen, zum Lager zurückzukehren, indem ich mir eine Menge schlauer und feiger Vernunftsgründe einzureden suchte, daß mich die Kameraden vergessen hätten, und daß sie sehr froh sein würden, mich wieder zu sehen. Ohne Zweifel, da ich nicht abgelöst worden, da keine einzige Patrouille in die Nähe gekommen, ohne Zweifel waren sie abgezogen! ... Aber wenn ich mich in meiner Voraussetzung irrte, wie mich entschuldigen und welcher Empfang erwartete mich dort? ... Immerhin konnte ich aber doch zum Pachthof gehen, den eine Kompagnie heute morgens besetzt hatte, und dort Erkundigungen einziehen! ... Ich begann ernstlich zu erwägen ... aber in meiner Aufregung hatte ich das Orientierungsgefühl verloren, und ich hätte mich unfehlbar in dieser ungeheuren schwarzen Ebene verirrt ...

Dann wieder zuckte mir ein erbärmlicher Gedanke durch den Kopf ... Und warum nicht? Warum nicht einen Schuß in den Arm abgeben, und dann blutend, verwundet fliehen und erzählen, daß ich von den Preußen überfallen worden sei? ...

Es kostete eine heftige Anstrengung, meine Vernunft zu erhaschen, die flüchtig geworden; ich nahm alles zu Hilfe, was in mir an moralischer Kraft übrig geblieben, um mich dieser feigen, schändlichen Suggestion zu entwinden, diesem verdammten Rausche der Furcht, und ich gab mir übermenschliche Mühe, Erinnerungen von einst wieder zu finden, süße und heitere Bilder heraufzubeschwören. Sie kamen wohl, die Bilder und Erinnerungen, aber so wie in einem schönen Traume, auseinander gerissen, gestaltlos, wahnsinnig durcheinander geworfen, und ein erneuertes Schreckgefühl jagte sie auch alsbald wieder in die Flucht.

Herrgott! War ich denn im Begriffe, irrsinnig zu werden? Ich betastete den Hals, die Brust, die Hüften, die Beine ... Ich mußte blaß wie eine Leiche sein und ich fühlte, wie es mir eisig vom Herzen zum Gehirn emporstieg. »Aber, aber!« sagte ich zu mir ganz laut, um mich zu versichern, daß ich nicht schlafe, daß ich lebe. »Munter! Munter!« Ich leerte den kleinen Rest Branntwein aus meiner Feldflasche und begann rasch auf- und abzuschreiten, mit einer Art Wut, die Erdschollen unter meinen Füßen zerstampfend, ein Soldatenlied pfeifend, das wir immer im Chor gesungen, um die Einförmigkeit der Märsche zu unterbrechen.

Etwas beruhigt, gelangte ich wieder zu meiner Eiche zurück und schlug mit heftiger Bewegung die dicken Stiefelsohlen gegen den Stamm. Dieses Geräusch und diese Bewegung waren mir Bedürfnis ... Und jetzt kam mir plötzlich der Gedanke an meinen Vater, diesen verlassenen, einsamen Alten in der verödeten Prieuré ...

Warum schrieb er mir nicht mehr? Hatte er wohl auch meine Briefe alle erhalten? ... Ich machte mir Vorwürfe, bis jetzt in diesen Schreiben so trocken gewesen zu sein, und ich nahm mir vor, mich morgen, sobald ich dazu käme, an einen langen, liebevollen Brief zu machen, in dem ich mein ganzes Herz übersprudeln lassen wollte ...

Drüben erhellte sich der Himmel am Horizont, dessen Grenze sich in einem bläulichen Lichte deutlicher abzuzeichnen begann. Wohl war es noch Nacht, die Felder lagen in tiefer Dunkelheit, aber man fühlte, daß der Tagesanbruch nahte. Der Frost war schärfer, die Erde knisterte unter den Schritten, der Nebel kristallisierte sich an den Baumästen. Und allmählig erhellte sich das Firmament in einem blaßgoldenen Lichte, das sich über das ganze Gewölbe auszubreiten begann. Langsam tauchte die Umgebung aus dem Schatten hervor, aber sie war noch nebelumhüllt, noch verschwommen; das tiefe Dunkel der Ebene ging in ein gedämpftes Blaugrün über, das hier und da von hellen Strichen unterbrochen ward ...

Plötzlich drang ein Geräusch herüber, erst schwach, wie das ferne Rollen von Trommelschlägen ... Ich horchte klopfenden Herzens ... Einen Augenblick verstummte das Geräusch, und Hahnengekrähe ließ sich statt dessen vernehmen ... Nach zehn Minuten etwa nahm der Lärm zu, stärker, deutlicher, näher kommend, es war der Galopp von Pferdehufen, auf der Straße von Chartres!

Instinktiv warf ich meinen Tornister über den Rücken und überzeugte mich, daß die Flinte schußbereit war ... Eine starke Aufregung hatte sich meiner bemächtigt. Die Adern an den Schläfen schwollen an; wieder klapp, klapp – es mußte nun in unmittelbarer Nähe sein, denn es war mir, wie wenn ich das Schnauben des Pferdes und das helle Klimpern von Stahl deutlich vernähme ... Klapp! klapp! ... Kaum hatte ich Zeit gehabt, mich hinter der Eiche zusammenzukauern, als unversehens schon ein großer Schatten aufgetaucht war und plötzlich regungslos dastand, wie ein Reiterstandbild aus Erz.

Dieser Schatten, der sich beinahe über den ganzen Lichtstreif des östlichen Himmels abhob, riesig, ungeheuer, war schrecklich! Der Mann schien mir übermenschlich, über alle Maßen vergrößert! ... Er trug den flachen Helm der Preußen, einen langen schwarzen Mantel, unter dem die Brust sich wölbte.

War er ein Offizier, ein einfacher Soldat? Ich wußte es nicht, denn ich konnte kein Abzeichen auf der dunklen Uniform erkennen ... Die Gesichtszüge, die anfangs verschwommen gewesen, traten immer deutlicher hervor; er hatte helle Augen, sehr hell und klar, einen blonden Bart und die Haltung kraftstrotzender Jugend; in seinem Antlitze spiegelten sich Kraftbewußtsein und Güte und nebenbei etwas Edles, Kühnes und – Trauriges, das mich fesselte, wieder. Die eine Hand flach auf den Schenkel gedrückt, durchforschte er die Gegend, die vor ihm lag und von Zeit zu Zeit scharrte das Pferd mit dem Huf auf dem Boden und blies durch die bebenden Nüstern den gefrorenen Hauch in die Luft.

Offenbar gehörte dieser Preuße dort zur Vorhut: er war da herangesprengt, um etwas von unserer Stellung zu entdecken, um sich von der Beschaffenheit des Terrains zu überzeugen; sicherlich wimmelte eine ganze Armee hinter ihm, nur eines Zeichens von diesem Manne gewärtig, um sich über die Ebene zu ergießen!

Gut versteckt hinter meinem Stamm, unbeweglich, das Gewehr schußbereit, ließ ich ihn nicht aus den Augen ... In der That, er war eine stattliche, schöne Erscheinung; eine warme Lebensfülle lag in diesem wohlgebauten Körper, wie schade! ... Er betrachtete fortwährend die Landschaft, und ich glaubte zu bemerken, daß er ihr mehr als Dichter denn als Soldat seine Aufmerksamkeit schenkte. Ich entdeckte in seinen Blicken etwas wie Bewegung ... Vielleicht vergaß er, aus welchem Grunde er hier war, vielleicht ließ er sich durch die Schönheit dieses jungen, jungfräulichen, strahlenden Morgens bezaubern.

Der Himmel hatte sich ganz mit Rot überzogen: er glühte in einer großartigen Flammenpracht; die Felder, gleichsam aus dem Schlummer geweckt, schienen sich zu strecken und zu dehnen, wie sie eben eines nach dem andern hinter den rosigen Dunstschleiern emportauchten, die gleich langen Schärpen, durch unsichtbare Hände leicht bewegt, im bläulichen Äther dahinschwebten. Blattlose Bäume, kleine Strohhütten traten aus diesem farbenschillernden Hintergrund hervor; das Taubenhaus eines großen Pachthofes, dessen neue Ziegeldächer im Sonnenlichte zu blitzen begannen, reckte seine helle Kugelbedachung in den feurigen Purpur des östlichen Himmels hinaus ... Ja, dieser Preuße, der mit Vernichtungsgedanken aufgebrochen, war da festgeblieben, geblendet und fromm bewegt von der Pracht des erwachenden Tages, und seine Seele war für einige Minuten der Liebe gewonnen.

»Er ist ein Dichter vielleicht« – sage ich mir – »ein Künstler; er muß gut sein, da er weich zu werden vermag.«

Und auf seinem Antlitz verfolgte ich alle die Empfindungen eines wackeren Mannes, die ihn beseelten – den leisen Wonneschauer, alle die zarten Spiegelungen seines fühlenden und entzückten Herzens ... Er flößte mir keine Furcht mehr ein. Im Gegenteil, etwas wie ein Schwindel zog mich zu ihm hin, und ich mußte mich an meinen Baum festklammern, um nicht auf den Mann zuzustürzen. Ich verspürte den Drang, mit ihm zu reden, ihm zu sagen, daß das recht sei, den Himmel in dieser Weise zu betrachten und daß er mir seines Entzückens halber liebwert erschien ...

Aber jetzt verfinsterte sich seine Miene, ein schmerzlicher Ausdruck trübte seine Augen ... Ach, der Horizont, den sie umfaßten, war so fern, so fern! Und hinter diesem Horizont ein anderer, und hinter diesem anderen noch einer! ... All das war zu erobern! ... Wann war er denn damit zu Ende, immer sein Roß vorwärts zu treiben über diese fremden Gefilde, sich immerfort einen Weg zu bahnen über die Trümmer der Bauten und die Leichen der Menschen, immerfort zu töten, immerfort fluchbeladen zu sein! ...

Und dabei gedachte er ohne Zweifel dessen, was er verlassen: seines Hauses, das helles Kinderlachen erfüllte; seiner Gefährtin, die ihn unter Gebeten erwartete ... Würde er sie je wiedersehen? ... Ich bin überzeugt, daß er in dieser selben Minute sich die kleinsten Einzelheiten ins Gedächtnis zurückrief, die süßesten, kindischesten Begebenheiten aus seinem Leben dort drüben ... eine Rose, die er eines Abends nach der Mahlzeit vom Strauch gebrochen und mit der er die Haare seines Weibes geschmückt, – das Kleid das sie am Abschiedstage getragen, – die blaue Schleife am Hut des Töchterchens, – das hölzerne Pferd, – ein Baum, – ein stiller Winkel an der Flußbiegung, – ein Papiermesser, – alle die Erinnerungen gesegneter Freudentage kamen ihm ins Gedächtnis, und mit jener Kraft der Vision, welche die Verbannten besitzen, umfaßte er mit einem einzigen, mutlosen Blick alles, alles, durch das er bis jetzt glücklich gewesen ...

Und die Sonne stieg empor, die Ebene noch weiter ausdehnend und den fernen Horizont noch mehr in die Weite rückend ... Dieser Mann, er erbarmte mir und – ich liebte ihn, ja, ich schwöre es, ich liebte ihn! ...

Da, wie war das nur geschehen? ... der Knall eines Schusses, und im selben Augenblick, da ich durch einen Kreis von Pulverdampf einen Stiefel in der Luft gesehen, einen wehenden Lappen vom Mantel, eine flatternde Mähne, die über die Straße dahinjagte, – dann nichts – in diesem Augenblick hatte ich auch das Klirren eines Säbels, den dumpfen Fall eines Körpers, das Klappern eines wütenden Galopps vernommen ... und dann wieder nichts ...

Der Lauf meiner Flinte war warm, und ein Rauchwölkchen kräuselte aus demselben hervor ... Ich schleuderte die Waffe zu Boden ... War ich das Spielzeug einer Hallucination? ... Aber nein! ... Vom riesigen Schatten, der sich eben noch inmitten der Straße wie ein Reiterbild aus Erz erhoben, blieb nichts übrig als ein kleiner Leichnam, wie ein schwarzer Klumpen hingestreckt, das Gesicht gegen den Boden, die Arme im Kreuz auseinandergespreizt ... Mir blitzte die Erinnerung auf, wie mein Vater eine arme Katze getötet, eben da sie mit gebanntem Blick den Flug des Schmetterlings in den Äther verfolgte ... und ich, blöde, unbewußt, willenlos, ich hatte einen Mann getötet, einen Mann, den ich liebte, einen Mann, in dessen Seele die meine eben aufgegangen war, einen Mann, der in der Herrlichkeit des aufsteigenden Tagesgestirns den reinsten Träumen seines Lebens gefolgt! ... Ich hatte ihn vielleicht in demselben Augenblick getötet, da er murmelte: »Und wenn ich wieder heimgekehrt bin« – – – Was? Warum? ... Da ich ihn doch liebte, da ich ihn, wenn er von anderen bedroht worden wäre, verteidigt hätte, ihn – ihn, den ich gemordet! ...

Mit zwei Sprüngen war ich an seiner Seite, ich rief ihn an: er rührte sich nicht. Meine Kugel hatte ihm den Hals durchbohrt, unterhalb des Ohres: das Blut träufelte aus einer geborstenen Ader über den Bart zu Boden, wo es eine dunkle Lache bildete ...

Mit zitternden Händen suche ich ihn aufzurichten; der Kopf wankte und fiel schwer zurück. Ich fühlte nach seiner Brust, der Stelle seines Herzens, aber das Herz schlug nicht mehr ...

Da richtete ich ihn noch mehr auf, bettete sein Haupt auf meine Knie, und plötzlich sah ich seine Augen, seine beiden hellen Augen, die mich traurig anblickten, ohne Haß, ohne jeden Vorwurf, – seine beiden Augen, die allein lebend schienen! ...

Ich glaubte, die Besinnung verlieren zu müssen; aber ich nahm alle meine Kraft zusammen; ich umklammerte die Leiche des Preußen, ich preßte ihn krampfhaft gegen mich, und leidenschaftlich, außer mir, drückte ich einen Kuß auf das bleiche, blutbefleckte Antlitz des Toten! ...

Octave Mirbeau.
(Deutsch von A. G. v. Suttner)


 << zurück weiter >>