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An die Nationen!

Vernehmt mich, groß und klein, Nationen,
Die ihr geharnischt tretet auf den Plan:
Ihr fragt umsonst nach Eigenruhmes Kronen:
Der Einzelvölker Arbeit ist gethan.
Die an der Seine, am Belt, am Ister wohnen,
Begegnen fortan sich auf neuer Bahn,
Was ihr getrennt erstrebt, getrennt begründet,
Vollendet ihr vereint nur und verbündet.
In dieser Zeit, wo Draht und Schiene spotten
Der Alpen, und ein Kabeltelegramm
Den Morgengruß des Yankee bringt dem Schotten –
Wo ziehn von Land zu Land, von Stamm zu Stamm
Die Zeitungsblätter als Erob'rerflotten –
In dieser Zeit baut Zwietracht Wehr und Damm?
Wenn Völkergeister ineinander zittern,
Da soll das Herz der Menschheit sich zersplittern?
Weltbürgertum – vermögt ihr's auszutreiben,
Wenn es zutiefst euch schon im Blute sitzt?
Wer lernte nichts von andern? Wegzureiben,
Wie Rost vom Stahl, vermeint ihr's? Wie geritzt
Mit Demantgriffeln in Krystall und Scheiben
Bleibt es – und wächst, wie in den Baum geschnitzt!
Was Vätern einst von außen angeflogen,
Ihr habt es mit der Muttermilch gesogen!
Noch Großes, Einzelvölker, mögt ihr schaffen,
Ureigenes zu schaffen, ist zu spät!
Noch manchen schönen Kranz mögt ihr erraffen,
Der And'rer Stirnen länger schon umweht!
Reich mögt ihr werden, blühend stark in Waffen,
Und klug auch – mögt, durch Mut und Kraft erhöht,
Zum Gipfel klimmen auf des Ruhmes Skale –
Nur eins könnt ihr nicht sein: Originale!
Und ihr, die lang voran, mit rascher'm Schritte,
Den anderen gewandelt auf der Bahn
Der Menschlichkeit, der Bildung und der Sitte,
Zum niemals ganz erreichten Ziel hinan:
Bedenkt, heut wandelt ihr in ihrer Mitte,
Heut ringen sie mit euch auf eb'nem Plan:
Des Geistes Hort ward allgemeinsam – eigen,
Kein Paria ist mehr im Völkerreigen!
Ob klein, ob groß, ihr habt ein Recht, zu leben!
So schreibt euch mutvoll ein in Klios Buch;
Ein heilig Recht ist allen euch gegeben.
Nur sei nicht Haß mehr euer Bannerspruch!
Seid nicht bemüht zu trennen, nein, zu weben:
War Trennung Segen einst, nun ist sie Fluch!
Daß sie das Werk der Weltgeschichte kröne,
Versammelt Mutter Erde ihre Söhne.
So lange tausendfältig Kain den Abel
Unblutig oder blutig noch erschlägt,
Und nicht der Streit, den einst erregt zu Babel
Des Sprachenkampfs Erinnys, beigelegt –
So lang nicht Poesie als Taub' im Schnabel
Des ew'gen Völkerfriedens Ölzweig trägt –
So lange, sag' ich euch, trotz der Fanfaren
Des Fortschrittjubels, sind wir auch Barbaren.

Robert Hamerling.


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