François Rabelais
Gargantua und Pantagruel
François Rabelais

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Siebzehntes Kapitel

Wie Gargantua beim Ponokrates solcher Lehrzucht teilhaft ward, daß ihm nicht eine Stund vom Tag verlorenging

Als Ponokrates die falsche Lebensart des Gargantua erkannt, beschloß er, ihn in seinen Studien anders zu führen: doch übersah er's ihm noch die ersten Tag, da die Natur nicht ohn große Gewalt eine plötzliche Ändrung erleiden mag. Um also desto reiflicher sein Werk zu beginnen, ersucht' er einen gelehrten Arzt derselben Zeit, mit Namen Meister Theodor, darauf zu denken, wie man den Gargantua auf bessern Weg geleiten möchte. Selbiger purgiert' ihn kanonisch mit Nieswurz von Anticyra und reinigt' ihm durch solche Arznei das Hirn von aller Alteration und bösen Gewohnheit. Auch bracht' ihm Ponokrates durch dies nämliche Mittel alles in Vergessenheit, was er unter seinen alten Lehrern erlernt hatt'. Solches besser ins Werk zu richten, führt' er ihn in die Versammlungen der gelehrten Leut ein, die es dort gab, aus deren Nachahmung ihm der Geist und das Verlangen wuchsen, auf eine andere Art zu studieren und sich besser herfürzutun.

Darnach half er ihm dergestalt ins Gleis der Studien, daß er auch nicht eine Stund vom Tag verlor, vielmehr sein' ganze Zeit mit edler Kunst und Wissenschaft zubrachte. Es erwacht' demnach Gargantua gegen vier Uhr des Morgens. Während man ihn abrieb, ward ihm eine Seite aus der Heiligen Schrift laut und vernehmlich hergelesen mit jeden Kapitels schicklichem Vortrag, und war dazu ein junger Knab angestellt, namens Anagnostes. Auf Anlaß und Inhalt selbiger Lektion erging er sich öfters im Gebet, Lobpreis und Danksagungen gegen den guten Gott, des Majestät und wunderbares Gericht ihm die Schrift offenbaret hätt'. Dann begab er sich auf den heimlichen Ort, um sich der natürlichen Verdauungsmaterie zu entladen. Da wiederholet' ihm sein Präzeptor, was gelesen worden war, und legt' ihm die schwerverständlichsten Punkte aus. Kamen sie dann wieder zurück, so beschauten sie sich den Stand des Himmels, ob er noch war, wie sie ihn abends zuvor gemerkt, in welche Zeichen die Sonn am selbigen Tag einträt, desgleichen der Mond. Wenn dies vollbracht war, ward er gekleidet, gestrählt, geputzt und parfümieret, währenddes man mit ihm die Lektiones des vorigen Tages repetiert'. Die sagt er selbst auswendig her und gab dazu allerlei praktische Fäll und Exempel aus dem Weltlauf an, welches mitunter an zwei, drei Stunden währt'; hörten jedoch meist auf damit, sobald er fertig gekleidet war. Darauf ward drei volle Stunden lang mit ihm Lektion gehalten. Hierauf gingen sie aus und sprachen dabei vom Inhalt der Lektür, ergötzten sich im Ballhaus oder auf den Wiesen mit Ballspiel, dem Handball oder Dreiball, übten ebenso weidlich nun den Leib, als sie zuvor die Seelen geübt. Ihr ganz Spiel war nach Lust und Freiheit, denn sie ließen davon ab, wann es ihnen wohlgefiel, und hörten gemeinlich zu spielen auf, wann sie am Leib von Schweiße trieften oder sonst ermüdet waren. Da wurden sie aufs beste getrocknet und abgerieben, zogen frische Hemden an und schlenderten sacht davon, zu sehen, ob der Imbiß gargekocht wär'. Während sie nun darauf warteten, sagten sie deutlich und beredsam etliche Sprüche her, so sie aus der Lektion behalten. Inzwischen kam Herr Appetit, und sie setzten sich mit guter Ordnung zu Tisch. Da ward zu Anfang des Essens etwa eine feine Geschichte von alten Heldentaten verlesen, bis man erst einen Trunk getan hätt'. Dann, wenn es gefällig, fuhr man in der Lektüre fort, oder sie fingen auch miteinander lustig zu diskurrieren an, handelten zuvörderst von Tugend, Kraft, Eigenschaften und Natur alles dessen, was ihnen bei Tisch servieret ward: vom Brot, Wein, Wasser, Salz, Fleisch, Fischen Früchten, Kräutern, Wurzeln und deren Zubereitung. Durch welch Verfahren er in kurzem alle hierauf bezügliche Stellen im Plinius, im Athenäus, Dioskorides, Julius Pollux, Galen, Porphyrius, Oppianus, Polybius, Aristoteles, Heliodorus, Aelianus und vielen andern kennen lernt'. Ließen auch öfters noch solchen Gesprächen zur größeren Vergewisserung Bücher an die Tafel bringen: dadurch er die gedachten Stücke so fein und tief ins Gedächtnis prägt', daß dazumal kein Arzt war, der nur halb so viel davon als er verstanden hätt'. Dann sprachen sie von den früh gelesenen Lektionen und endeten ihre Mahlzeit mit einem Quittenkonfekt; da stochert' er sich die Zähn mit einem Mastixstengel, wusch Händ und Augen in schönem frischem Wasser, und sie brachten Gott in etlichen guten, zum Lobe göttlicher Huld und Milde verfaßten Liedern ihren Dank dar. Wenn dies vorüber, trug man Karten auf, nicht um zu spielen, sondern daraus viel tausend kleine neue Fündlein und Artigkeiten zu erlernen, die all in die Rechenkunst einschlugen, wodurch er selbige Zahlenweisheit sehr liebgewann und sich alle Tag die Zeit nach Mittag- und Abendessen damit so angenehm vertrieb, als weiland mit den Würfeln und Karten.

Und nicht allein hierin, sondern auch in den andern mathematischen Scienzien, als Geometrie, Astronomie und Musik. Denn während sie die Verdauung ihrer Speisen abwarteten, machten sie tausend kleine zierliche geometrische Instrumente und Figürlein, praktizierten auch die astronomischen Kanones. Nach diesem verlustierten sie sich musikalisch zu vier, fünf Stimmen, oder über ein Thema zu singen, was nur zum Hals heraus wollt'. Und von musikalischen Instrumenten lernt' er spielen das Spinett, die Laut, die Harf, die deutsche Zwergpfeif und die neunlöchrige, die Viola und die Baßposaun.

Nachdem man diese Stund also verwandt und die Verdauung vollbracht hatt', purgiert' er sich des natürlichen Überlastes und ging darnach drei Stunden oder länger wieder an sein hauptsächliches Studium, teils die Morgenlektion zu wiederholen, sein vorgenommen Buch und Materie auszuführen, teils auch schreibend die alten römischen Lettern zu zeichnen und formieren zu lernen. Wenn er damit fertig, gingen sie aus ihrem Quartier nebst einem jungen Edelmann aus Touraine mit Namen Gymnastes, seinem Waffenträger, der lehrt' ihm die Reitkunst. Da wechselt' er die Kleider und bestieg ein Rennroß, einen Spanier, Holsteiner, Berber, ein leichtes Pferd. Dem gab er hundert Karrieren, ließ es in die Luft springen, über Pfähl und Gräben setzen, kurz im Kreis traben, links und rechts. Da brach er nicht etwa die Lanz, sondern sprengt' mit seiner starken stählernen Waffe ein Tor auf, zerspellt' einen Panzer, stutzt' einen Baum, spießt' einen Ring, entführt' einen Rüstsattel, einen Halsberg, einen Handschuh, und dies Getänzel und ritterliche Spielen zu Roß verstund kein Mensch so gut als er. Vornehmlich war er wohl geübt, von einem Pferd schnell auf das andre überzuspringen, ohne die Erd zu streifen; die Lanz in der Faust von beiden Seiten aufzusitzen, ohn Stegreif; ohn Zaum nach seinem Willen das Roß zu lenken. Denn solche Wagstück dienen zur Kriegszucht. Einen andern Tag übt' er sich mit der Streitaxt, die er so wacker ansetzt', so kräftig nach einem jeden Stoß wieder einholt', so geschmeidig im Rundhieb schwenkt', daß er im Feld und allen Proben für einen geschlagenen Ritter galt.

Dann schwang er die Piken, focht mit dem breiten zweihandigen Schwert, mit dem Bastardschwert, dem spanischen, mit dem kurzen Degen, dem Dolch, mit und ohn Harnisch, mit Schild, im Mantel, und mit dem Rundschild.

Hetzt' den Hirschen, den Rehbock, den Bären, den Damhirsch, den Eber, den Hasen, das Rebhuhn, den Fasan, den Trappen. Schlug den großen Ball und prellt' ihn in die Höh, sowohl mit Füßen als mit Fäusten.

Schwamm in vollem Strom, grad, rücklings, auf der Seit, mit ganzem Leib, mit den Füßen allein, eine Hand in der Luft, darin er ein Buch hielt; so rudert' er, ohn daß dies naß ward, über den ganzen Seinefluß und zog seinen Mantel in den Zähnen nach, wie Julius Cäsar. Drauf schwang er sich auf einer Hand mit großer Gewalt in einen Kahn, stürzt' sich daraus von neuem ins Wasser, den Kopf voran, sondiert' den Grund, durchforscht' die Klippen, taucht' in die Strudel und Abgründ unter, dreht' dann den Kahn, und steuert', fuhr jählings, langsam, stromauf, stromunter, hielt ihn an im vollen Schuß, lenkt' ihn mit einer Hand, mit der andern tummelt' er ein mächtiges Ruder, strafft' das Segel, stieg auf den Stricken zum Mast hinan, lief aufs Gestäng, richtet' den Kompaß, bracht' die Bolinen untern Wind, spannt' den Helmstock.

Wenn er dann aus dem Wasser kam, lief er mit Macht den Berg hinauf und gleichen Sprunges wieder hinunter, erklettert' die Bäum wie ein Katz, sprang wie ein Eichhorn von einem zum andern, stieg mit zwei wohlgestählten Dolchen und zween probrechten Reiterböcken auf den First eines Hauses wie ein Ratz hinan und wieder herunter mit so geschickt verschränkten Gliedern, daß ihm kein Fall ein Leids tun konnt'.

Man band ihm ein Tau an einen hohen Turm, das bis zur Erden reichte: an selbem haspelt' er mit beiden Händen hinan, dann fuhr er wieder so stramm und sicher daran herunter, daß ihr's auf gleicher Weisen nicht besser könntet. Man steift' ihm einen starken Balken zwischen zwei Bäum, daran hing er sich mit den Händen und ruscht' so flink dran hin und wider, ohn mit den Füßen wo anzustoßen, daß man ihn in gestrecktem Lauf nicht ereilt hätt'. Auch um sich die Lung und den Thorax zu üben, brüllt' er so laut wie tausend Teufel. Ich hab' ihn einmal den Eudämon von Sankt Viktorspforten her bis zu Montmartre rufen hören. Stentor im Treffen vor Troja hatt' fürwahr noch lang kein solche Stimm.

Und um die Flechsen zu kräftigen, hatt' man ihm ein Paar große Bleimulden gegossen, eine jede 8700 Zentner schwer, die er Hanteln nannt'. Dieselben nahm er von der Erd auf, in jede Hand eine, und hub sie über den Kopf in die Höh: hielt sie also unverwandt dreiviertel Stunden und länger empor, was eine unnachahmliche Stärke war.

Wann er nun also die Zeit verbracht und sich getrocknet, abgerieben, gewischt und mit neuen Kleidern erfrischt hatt', zog man ganz langsam wieder heim, und da nahmen sie ihren Weg etwa über die Wiesen oder Örter, wo Kraut und Gras wuchs; da beschauten sie sich die Bäum und Kräuter und hielten sie gegen die Bücher der Alten, so davon geschrieben haben, und brachten alle Händ voll mit nach Haus davon, wo es ein junger Edelknecht namens Rhizotomus aufbewahrte. Sobald sie nun nach Haus gekommen, wiederholten sie, derweil man das Nachtbrot rüstet', etliche Punkte von dem, was sie gelesen hatten, und saßen damit bei Tisch. Hie merket, daß sein Imbiß nüchtern und mäßig bestellt war, denn er aß allein nur so viel, um das Bellen des Magens zu beschwichtigen. Aber sein Nachtmahl war vollauf und reichlich, denn er nahm dann ein, soviel ihm zu seiner Leibesnahrung und Unterhalt vonnöten war. Welches auch die wahre Diät nach guter und zuverlässiger Vorschrift der Arzeneikunst ist, soviel auch ein Troß mauläffischer Ärzte, in der Sophisten Werkstatt versauert, dawider meinen und belfern mögen. Während der Mahlzeit ward die Lektüre vom Morgenimbiß fortgesetzt, so lang es ihnen gefällig war, und die übrige Zeit mit guten, gelehrten und nützlichen Reden verbracht. Drauf nach verrichtetem Dankgebet fing man wiederum musikalisch zu singen und auf wohlgestimmten Instrumenten zu spielen an, oder die kleinen Zeitvertreib mit den Karten, Würfeln und Bechern. Blieben dabei im vollen Jubel zusammen und unterhielten sich zu Zeiten damit bis Schlafengehn. Bisweilen auch besuchten sie die Versammlungen gelehrter Leut und solcher, die fremde Länder gesehen.

Um Mitternacht, bevor sie sich zur Ruh begaben, stiegen sie auf den freiesten und höchsten Söller ihres Hauses, des Himmels Antlitz zu beschauen; und gaben da auf die Kometen acht, wann's ihrer hatt', auf die Figuren, Aspekten, Stellungen, Oppositionen und Konjunktionen der Gestirne.

Dann rekapituliert' er kurz nach der Pythagoräer Art mit seinem Lehrer alles, was er im Lauf des Tags gehört, verkehrt, getan und gelesen hatt'. Und sie riefen Gott den Schöpfer im Gebet an, stärkten ihren Glauben zu ihm, lobpriesen seine unendliche Güte, und gleich wie sie ihm Dank für alles Vergangene sagten, so befahlen sie sich auch in alle Zukunft seiner göttlichen Gnad und Huld. Wann dies vollbracht war, gingen sie schlafen.


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