François Rabelais
Gargantua und Pantagruel
François Rabelais

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Einführung

»Sehr treffliche Zecher und ihr, meine kostbaren Venusbrüder – denn euch und sonst niemandem sind meine Bücher zugeschrieben ...« Mit diesen Worten wendet sich Maistre Alcofribas Nasier (Anagramm von François Rabelais) im Vorwort zu seinem Höchst erstaunlichen Leben des großen Gargantua (1534) an seine Zeitgenossen. Eine Anrede von zweifelhafter Herzlichkeit! Die »sehr trefflichen Zecher« von 1534 aber waren weniger zimperlich. Lockere Sitten in Liebesangelegenheiten waren in den besten Familien an der Tagesordnung, und was das Zechen betrifft, so hat es noch nie als ehrenrührig gegolten, ein trinkfester Saufbruder zu sein. Nein, die damaligen Leser der unerhörten Heldentaten des Gargantua und Pantagruel waren entzückt. Da war endlich jemand, der ihre Sprache redete – eine Sprache, die die Dinge beim Namen nannte, so unverhohlen und eindeutig, daß die gelehrten ›Abstraktoren‹ jener Zeit es mit der Angst bekamen: »Euch aber soll Antonius' Feuer brennen, soll fallende Sucht zu Boden werfen, Krebs fressen, Blutfluß abzapfen, Aussatz, fein wie Kuhhaar, mit Quecksilber verfeuert, in den Hintern fahren, und ihr sollt wie Sodom und Gomorrha in Schwefel, Feuersglut und Höllengestank umkommen, wenn ihr nicht getreulich alles glauben werdet, was ich euch in dieser gegenwärtigen Chronik berichten tue.«

Das war ein ganz neuer Ton, ein Stil, der sich den Teufel scherte um jede erzieherische oder bildende Absicht einer Ars Poetica. Die Gebildeten, die echten wie die falschen, fühlten sich vor den Kopf gestoßen. Der Sorbonne, der allmächtigen Regentin über Wissen und Gewissen, fiel es nicht schwer, schockiert zu sein. Ihr genügten die Freiheiten des Pantagruel (1532), um das Buch in Grund und Boden zu verdammen. Doch auch die Humanisten sahen zunächst in Pantagruel nicht viel mehr als einen groben, unanständigen Ulk. »Was fällt dir ein, Rabelais?« schreibt 1533 der Dichter Nicolas Bourbon, ein Freund Rabelais'. »Immer mehr lenkst du unsere Scholaren von ihren Pflichten ab, vom Studium der Literatur und von der Liebe zu den heiligen Büchern. Willst du denn zusehen, wie sie ihre schöne Jugend ... in deinen frivolen und finsteren Volksmären ... in unwürdigen Gemeinheiten, im Mist, im Schlamm verlieren? « Erst zwei Jahre, später, nach der Veröffentlichung des Gargantua, entdeckte man »la sustantificque mouelle«, das »substantialische Mark« dieser anscheinend so groben Knochen. Die hochgelehrte Welt der Sorbonnisten und Scholastiker verdarb sich daran gründlich den Magen. Die Humanisten und Reformatoren aber wußten den Nährwert zu schätzen.

Und was empfindet der unbefangene Leser von heute? Mehr an Ordnung gewöhnt, wird ihn die wild wuchernde Sprache, die Unförmigkeit des Ganzen verwirren. Geschult am pointierten Stil, an der diskreten Formulierung, die mehr andeutet als ausspricht, wird es ihm manchmal schwerfallen, über Rabelais' grobkörnigen Witz zu lachen. Andererseits entschädigt ihn die Fülle für die mangelnde Form. Dies ist kein Spaziergang durch den wohlproportionierten Park von Versailles – dazu ist es noch ein Jahrhundert zu früh –, sondern ein rauher Marsch durch die Wildnis, voller Überraschungen und nicht immer angenehm. Denn daß in der freien Natur nicht alles nach Eau de Cologne riecht, weiß jeder Naturfreund, und dem Philosophen ist klar, daß dies eben in der Freiheit der Natur begründet ist. Mit anderen Worten: es geht – um das Ärgernis gleich vorwegzunehmen – nicht darum, Rabelais' berühmte Unanständigkeit zu entschuldigen. Es geht darum, sie zu verstehen, aus der Zeit, aus der Anlage des Gesamtwerkes.

Man hat Rabelais' gesunde Schamlosigkeit mit der eines großen, nackten Babys verglichen. Damit ist im Grunde nicht viel gesagt. Urwüchsigkeit und Infantilität sind ja hier nicht Gegenstand, sondern Form der Auseinandersetzung. Man vergißt über den Spaßmacher zu leicht den Gelehrten. Der gleiche Rabelais, der über »Gargantua, Pantagruel, Saufaus, die Würdigkeit des Hosenlatzes, Speckerbsen cum commento etc.« schrieb und zu schreiben sich vornahm, hat Galenus ex cathedra gelehrt und die Aphorismen des Hippokrates nach dem griechischen Urtext kommentiert. In seinen fünf Büchern ist ein Wissen von enzyklopädischer Breite aufgespeichert. Die zahllosen Zitate, Anspielungen, Reminiszenzen aus der Antike und dem Mittelalter, geschöpft aus allen Wissensbereichen, vermag heute kaum noch jemand ohne einen wissenschaftlichen Kommentar zu verstehen. Rabelais' Gelehrsamkeit will ernst genommen sein. Sie ist nicht, wie etwa das romantische Rittertum des Don Quichotte, sich selbst ein Gegenstand überlegener Ironie. Trotz der Angriffe auf Pseudo-Wissen und Pro-forma-Bildung, trotz der Versuche, die Zwangsjacke der Scholastik zu sprengen, hat Rabelais seine eigene scholastische Erziehung so wenig verleugnen wie verwinden können. Es ist übereilt, aus ihm einen Pionier der Neuzeit zu machen, ihn als den ersten großen Realisten zu feiern oder ihn gar für sozialistische Ideologien in Anspruch zu nehmen. Rabelais hat noch an einem großen Packen kritiklos übernommenen Bildungsballastes zu schleppen. Wie schwer ihn diese Last drückte, mag man an der Grobheit seiner Ausfälle ablesen.

Rabelais' Zweideutigkeit ist die Zweideutigkeit seiner Zeit. Diese Zeit läßt sich nicht in eine Formel bringen. Die französische Renaissance im 16. Jh. ist Bewegung, Gärung, nicht Ruhe im Zustand. Die Vergangenheit ist noch nicht überwunden, und die Gegenwart, unendlich bereichert durch die Entdeckung der Alten und der Neuen Welt, ist noch nicht verarbeitet. Die Wissenschaft gerät in Widersprüche, resultierend aus dem Bemühen, die Entdeckungen mit der Überlieferung in Einklang zu bringen. Das ganze Leben jener Zeit, deren Friedensjahre man an den Fingern abzählen kann, macht den Eindruck eines riesigen Bauplatzes: Neubauten schießen aus dem Boden, baufällige Ruinen brechen zusammen, andere, solidere Bauten werden gestützt und ausgebessert. Geistesgeschichtlich ist dies der Prozeß der reifenden Autonomie des Individuums. Die Emanzipation des Geistes, die man als das entscheidende Kriterium der Neuzeit ansieht, beginnt im späten Mittelalter und verwirklicht sich zum erstenmal in Shakespeare. Rabelais liegt in der Mitte – nicht zeitlich, aber entwicklungsmäßig. Aus seinen Büchern spürt man eine der stärksten Regungen des Neuen im Schoß des Alten, des autonomen Geistes in der mittelalterlichen Geborgenheit. Ob man die Neuzeit mit ihm beginnen läßt oder schon mit ihren verborgenen Ansätzen im Spätmittelalter oder erst mit dem Auftreten Shakespeares, ist lediglich eine Frage der Größenordnung, für das Ereignis selbst aber ohne Belang.

Diese ungeordnete Zeit spiegelt sich wider in den Schicksalen der Menschen, die in ihr lebten. Das 16. Jh. kennt wenige Persönlichkeiten, deren Leben in klaren, geordneten Bahnen verlaufen wäre. Vieles an ihnen erscheint uns heute ungereimt. Etienne Dolet, später gefeiert als ›Märtyrer der Renaissance‹, verschrieb sich gestern dem Geist der Reformation, verfaßte heute ein Gedicht zu Ehren der heiligen Jungfrau, machte sich morgen über die Wallfahrten lustig und endigte schließlich auf dem Scheiterhaufen. Clément Marot, Dichter am Hofe Franz I., saß unter der Anklage, während der Fastenzeit Speck gegessen zu haben, im Gefängnis und schrieb dort einige seiner geistvollsten Gedichte. Das Leben François Rabelais' war nicht weniger bunt und abenteuerlich. »Wundersames Leben und unerhörte Taten des Meisters Rabelais, Franziskaner, Benediktiner und abtrünniger Mönch, fahrender Scholast, Doktor der Medizin und Dichter, Humanist, Weltbürger, Evangelist und Pfarrgeistlicher« – nicht lang und barock genug könnte ein solcher Titel über seiner Lebenschronik sein. Tatsächlich weiß man über seine Person nicht allzu viel. Manches liegt im Dunkel, verbirgt sich hinter der Vielfalt der Erscheinungen. Anderes ist Legende oder unsichere Anekdotenüberlieferung, zu der gerade Rabelais ideale Anlässe bietet. Trotzdem bleibt eine Fülle von Tatsachen. Nur in groben Umrissen kann an dieser Stelle auf das Wichtigste eingegangen werden.

François Rabelais (geb. wahrscheinlich 1494) stammt aus Chinon in der Touraine, dem ›Garten Frankreichs‹, der von Ronsard über Descartes zu Balzac so viele große Genies hervorgebracht hat. Über seine Jugend weiß man am wenigsten. Vermutlich wurde er in einem Franziskanerkloster bei Angers erzogen und dort für den Priesterberuf vorbereitet. Die scholastische Philosophie und Theologie des Duns Scotus, in die er damals eingeweiht wurde – nicht nach dem Urtext, sondern nach den Schriften der Kommentatoren –, hat er später nicht genug verspotten können. Mit dem Jahr 1521 beginnt in dem Franziskanerkloster Fontenay-le-Comte in Poitou Rabelais' Mönchsleben, das fünfzehn Jahre dauern sollte. Für seine Bildung und Formung waren es die entscheidendsten. Zwei Erfahrungen bestimmten seine ganze spätere Haltung: die Mißstände im Klosterleben und der Humanismus. Gegen den geistigen und religiösen Verfall der Klöster, gegen die Heuchelei und Zügellosigkeit der Mönche richtete Rabelais später seine schärfste Satire. Dem Kontakt mit einigen großen Humanisten seiner Zeit, u.a. mit Guillaume Budé, verdankte er seine humanistische Bildung, vor allem die Kenntnis des Griechischen. Darauf beginnt die unruhige Zeit seines Lebens. Rabelais wird Weltgeistlicher, bereist Frankreich und studiert in Montpellier Medizin. 1537 treffen wir ihn in Lyon, wo er bei einer öffentlichen anatomischen Demonstration die Leiche eines Gehenkten seziert, ein nicht ganz ungefährliches Unterfangen; denn damals waren die Leichen nicht so geduldig wie heute. Sie sträubten sich noch hartnäckig gegen die Anatomie, aus Furcht, womöglich ihre spätere Auferstehung zu komplizieren. ›Citra adustionem et incisionem‹ – nur ohne Brennen und Schneiden, also nur ohne die eigentliche ärztliche Praxis war es kirchlicherseits Doktor Rabelais erlaubt, die Medizin auszuüben – nach unserer modernen Auffassung eine Absurdität. Aber es sollte noch lange dauern, bis die Medizin sich dazu bequemte, vom Katheder herunterzusteigen. Noch ein Jahrhundert später lieferten die Herren Mediziner von der Fakultät, die ihre Kranken mit Latein zu kurieren pflegten, einem Molière den dankbarsten Komödienstoff.

Inzwischen hatte Rabelais Pantagruel (1532) und Gargantua (1534) publiziert und im Gefolge seines großen Protektors, des Kardinals Du Bellay, zwei Romreisen unternommen. Das Dritte Buch (1546), nach Ansicht der Theologen »vollgestopft mit den verschiedensten Häresien«, trug seinem Verfasser zwei Exiljahre in Metz ein. Nach einer dritten Romreise und der Veröffentlichung des Vierten Buches (1552) verlieren sich Rabelais' Spuren. 1553 war er nominell Pfarrer in Meudon bei Paris, und er starb vermutlich Anfang April des gleichen Jahres in Paris. Erst nach seinem Tode, 1564, erschien das Fünfte Buch. Man ist sich noch immer nicht einig, ob und wieweit Rabelais der Verfasser ist. Vermutlich wird sich diese Frage nie eindeutig entscheiden lassen.

Kaum ein dichterisches Werk hat so sehr die literarische Forschung strapaziert wie diese fünf Bücher Rabelais'. Phantasie und Scharfsinn interpretierten um die Wette, für alles suchte und fand der philologische Eifer eine Erklärung. Indessen wurden die Unklarheiten nicht beseitigt – im Gegenteil, sie vermehrten sich proportional der einander oft widersprechenden Deutungen. Die Forschung wurde zum Selbstzweck, verlor sich in Einzelheiten und übersah oder leugnete den Zusammenhang. Kommentar gelungen – Dichtung tot. Erst seit kurzem verzichtet man ein wenig auf die Detailinterpretation zugunsten einer großzügigeren Gesamtanalyse. – Es ist nicht leicht, über Gargantua und Pantagruel summarisch etwas auszusagen. Der Stoff ist so reich und vieldeutig, daß die Entscheidung über die Auswahl genauso schwerfällt wie die über die Art der Darstellung. Letztlich ist es Sache des Lesers, ob er das »substantialische Mark« heraussaugen und darin »einen anderen Schmack und tief verborgenere Lehre« finden wird.

Was veranlaßte Rabelais zu seinen burlesken Erzählungen? Soll man seiner treuherzigen Versicherung glauben, daß er sie allein zur »Erheiterung der Kranken, Siechen und Gichtbrüchigen« geschrieben habe? Wohl kaum! Seine »Naivität« ist ja die Tarnung, hinter der sich die Satire verbirgt. Für Rabelais' Zwecke eignete sich besonders gut die Chronik eines Riesengeschlechtes; denn es kursierte bereits zu seiner Zeit mit großem Erfolg ein harmloses Volksbuch, anonym erschienen unter dem Titel Die große und unschätzbare Chronik vom großen und gewaltigen Riesen Gargantua. Was lag näher, als dieses beliebte Sujet auszubeuten? So wurde Rabelais' Riesenchronik – riesig in jeder Hinsicht: in der Unzahl der Ereignisse, der Anspielungen, in der Breite des Wissens, im Ausmaß der sprachlichen und stilistischen Formen – zu einer riesigen Zeit- und Gesellschaftskritik.

Rabelais' schärfste Satire richtet sich gegen das Mönchswesen. Die langen Jahre im Kloster hatten in ihm einen Haß geschürt, den er zeit seines Lebens nicht verwinden konnte. Kein Ausdruck ist ihm zu unflätig, kein Tier abscheulich genug zur Bezeichnung der Kuttenträger, der feigen, geilen und verlogenen Parasiten der menschlichen Gesellschaft. Rabelais bleibt jedoch nicht in der Beschimpfung stecken; seine Satire dringt tiefer als die übliche Mönchspolemik des Mittelalters. Sie trifft die Wurzel des Übels, nämlich jene mönchische Haltung, die jede geistige und religiöse Regung einem ebenso starren wie bequemen Formalismus unterordnet und auf Kosten Gottes und der Mitmenschen zu einem tatenlosen Opportunismus einlädt. Die Mönche der Abtei von Seuillé (Gargantua, Kap. 21) greifen angesichts der bevorstehenden Plünderung nicht etwa zu den Waffen: sie flüchten sich wie scheue Hasen in die Kirche, empfehlen sich der Güte Gottes und intonieren ihr »Impetum inimicorum«. Rabelais läßt es aber nicht bei der negativen Kritik bewenden. Der prächtige Bruder Jahn, ebenso hochherzig wie seine Mitbrüder duckmäuserisch, weiß nicht, was er lieber tut: ob mit dem Kreuzholz auf die Feinde dreschen oder mit einem Humpen Wein seinen ewigen Durst löschen. Die Abtei von Thélème, mit der er von Gargantua für seine Taten belohnt wird, ist Rabelais' ›Sozialutopie‹. »Tu, was du willst« – das ist die einzige Ordensregel der Thélèmiten, die Formel für jedes menschliche Zusammenleben; denn nur im Klima der Freiheit – der richtig verstandenen Freiheit – können Kunst, Wissenschaft, Tugend und auch die Liebe gedeihen. Man hat viel über die Abtei von Thélème geschrieben, hat in ihr die Quintessenz des ganzen Werkes und darüber hinaus »das Gedicht der Renaissance« sehen wollen. Vielleicht geht das zu weit. Thélème ist wohl in der Hauptsache ein antiklösterliches Pamphlet, die Rache eines abtrünnigen Mönches, der sich, wie Bruder Jahn, »seine Religion im Gegensatz zu allen anderen einrichtete«. Daß der Ex-Franziskaner Rabelais nicht als einziger am Klosterwesen Anstoß nahm, beweisen die Schriften des Ex-Augustiners Erasmus. Rabelais hat Erasmus nicht nur bewundert und als den »unbesiegbaren Champion der Wahrheit« gepriesen; er verdankt ihm auch allerlei, wenn nicht das Wesentliche.

Parallel der Auflehnung gegen die klösterlich-scholastische Enge erhebt sich in den Werken Rabelais' ein Protest, den man als »Protest des Fleisches« bezeichnen könnte. Sein wichtigster Repräsentant ist Panurge, Konglomerat aus Intelligenz, Feigheit, Nonchalance, Treue und Unsittlichkeit. Panurges Worte und Werke sind nicht geeignet zur Wiedergabe in Damengesellschaft; mit ihm stellt sich das Problem der berüchtigten Rabelaisschen Obszönität – ein Problem, das seine unverdiente Stellung wohl nur der Tatsache verdankt, daß es lange unter falschen Voraussetzungen angegangen wurde. Man unterstellte dem Unanständigen eine unanständige Absicht, nahm es mit großem Bedauern in Kauf und formulierte Entschuldigungen oder Aggressionen, je nach dem offiziellen Grade der Schamhaftigkeit und der mutmaßlichen Empörung des Lesers. Anstatt es einfach als das zu erklären, was es ist: eine Reaktion. Ob und wieweit diese Reaktion übers Ziel hinausschießt, darüber zu urteilen ist nicht Sache der Nachwelt; denn die Maßstäbe liegen im 16. Jh., nicht im 20. Es ist dies das Jahrhundert des Pseudogeistes und der Scheinmoral auf trügerischem religiösem Goldgrunde, das Jahrhundert gleichzeitig der fanatischen Askese und der päpstlichen Ehebruchskinder. Rabelais protestiert nicht gegen den Geist an sich, vielmehr gegen die widernatürliche Verachtung des Fleisches auf Kosten beider, gegen die Zerlegung des Menschen in edle und gemeine Bestandteile. »Ich werde dir die Kehrseite dieser hochmütigen Demut zeigen. Du wirst sehen, wohin die Vergewaltigung der Naturgesetze führt. Schau nur auf dich selbst. Deine Gelüste bringen dein Büßerhemd zum Platzen. Dein Unschuldskleid paßt dir nicht mehr: aus allen Löchern verrät es dein wollüstiges Fleisch. Zwischen zwei Litaneien oder zwei Sophismen stopfst du dich voll mit Essen bis zum Platzen. Da siehst du, was man erreicht, wenn man unsere erste Heimat, die Erde, verachtet. Wer sich zum Engel erhöhen will, der wird zum Tier erniedrigt.« Mit diesem Zitat ist über das heikle Thema eigentlich alles gesagt. Auch Rabelais' vieldiskutierte Geringschätzung des weiblichen Geschlechts ist im Grunde eine Reaktion auf den saft- und kraftlosen, in äußeren Formen erstarrten Frauenkult seiner Zeit. Dagegen halte man Panurges unzweideutige Liebeswerbung: »Madame, dem Staat wär es ersprießlich, Euch ergötzlich, Euerm Stammbaum zur Ehre gereichend und mir notwendig, wenn Ihr Euch mit meiner Rasse belegen ließet.« Dies und alles andere, was sich unterhalb des Gürtels abspielt, wird so ohne jede unanständige Verschleierung beim Namen genannt, daß die polemische Absicht viel zu deutlich ist, als daß die Gefühle des Lesers ernstlich verletzt werden könnten – es sei denn, er leide unter der gleichen scholastischen Verdrängung.

Mit der gleichen Treffsicherheit polemisiert Rabelais gegen das Erziehungswesen, gegen die Rechtsmißbräuche, die Dummheit und Eitelkeit der Gelehrten und vieles andere mehr. Unmöglich, das alles anzuführen. Doch es stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang, nach einem roten Faden innerhalb des Ganzen. Auf den ersten Blick entsteht der Eindruck eines ungeordneten Panoptikums, ohne tiefere Organisation. Bis heute wird zum großen Teil an dieser Meinung festgehalten. Vielleicht macht man es sich damit zu leicht. Denn schließlich hat jedes dichterische Werk seine eigene, manchmal verborgene Kohärenz, seinen Ausgangspunkt und sein Ziel.

In Gargantua und Pantagruel wird nach dem Muster der mittelalterlichen Ritterromane über Jugend, Ausbildung und kriegerische Taten der Helden berichtet. Das Dritte Buch behandelt im wesentlichen die Frage, ob sich Panurge verheiraten soll. Sieht man von den Personen ab, so ist diese Episode nicht so willkürlich an diese Stelle gesetzt, wie es den Anschein hat. Die Heirat ist für jeden Mann eine gewichtige Angelegenheit, ein entscheidender Schritt ins Leben; geht es doch auch – und sogar vor allem – dabei um Nachkommenschaft, – Erhaltung der Rasse usw. (Rabelais selbst hatte mindestens drei uneheliche Kinder) – also um ernste und dringliche Fragen. Das Risiko allerdings, das jede Heirat mit sich bringt, läßt sich nicht durch Ratschläge Fremder beseitigen. Auf Panurges Frage, ob seine zukünftige Frau ihm Hörner aufsetzen wird, gibt es seitens der Wissenschaft keine beruhigende Antwort. Die vielen Konsultationen im Dritten Buch bleiben ohne Ergebnis und motivieren das Vierte und Fünfte Buch, nämlich die lange Reise zum Orakel der Göttlichen Flasche.

Man muß den Sinngehalt all dieser Episoden und Bilder begreifen, um die in ihnen verborgene Wahrheit aufzuspüren. Zu Anfang des Dritten Buches entwirft Rabelais im »Lob der Schulden« eine harmonische Welt, ein Ideal. Die Harmonie der Ehe ist auch ein Ideal. Die beschwerliche Suche nach dem Ideal können dem Suchenden die anerkannten Ratgeber der Welt weder ersparen noch erleichtern. Das institutionelle Wissen muß abdanken und den Weg freigeben für die höchstpersönliche Fahrt zur Göttlichen Flasche – ein langer und gefährlicher Weg. Aber selbst die Göttliche Flasche orakelt keine Patentlösung, im Gegenteil: ihre Antwort »Trink« ist die Aufforderung zum eigenen aktiven Handeln. In vino veritas – allerdings. Aber trinken muß man selbst. Man hätte Rabelais vergessen, wäre sein Werk nichts weiter als eine zeitgebundene Satire. Aber »... die guten Leute, die mit toten Steinen bauen, stehen im Buch meines Lebens überhaupt nicht verzeichnet, denn ich baue nur Lebendiges, d.h. Menschen«. Und dieses Lebendige hat die Jahrhunderte überdauert. Es ist heute so frisch und aktuell wie vor 400 Jahren. Oder wäre etwa der Eroberungswahn eines Diktators vom Schlage Pikrochols heute ein Anachronismus, die Demagogie seiner Hauptleute etwas uns völlig Fremdes? Gibt es heute keine volksverdummenden Disputationen mehr, wo der Publikumsbeifall proportional der Anzahl der leeren Worte steigt? Die Menschen haben sich weniger geändert, als es die Geschichte wahrhaben möchte. Nicht nur ist alles schon einmal dagewesen: es kommt offenbar alles auch einmal wieder. Jedenfalls liefert uns Rabelais dafür einen ergötzlichen Beweis, und eben das garantiert die Wahrheit und den Fortbestand seiner Dichtung.

Die vorliegende Ausgabe beruht auf einer späteren Bearbeitung (von Ulrich Rauscher, 1913) der ältesten deutschen Gesamtübertragung von Gottlob Regis (1832-41). Der Umfang des Stoffes machte eine Auswahl notwendig. Gekürzt wurden aber lediglich die weitschweifigen Exkurse, zahllosen Belege und Zitate von antiken Schriftstellern u.ä. Selbstverständlich gehört zu einem genauen Studium Rabelais' die Kenntnis seines Gesamtwerkes. Dessen Übersichtlichkeit und flüssigere Lektüre aber werden durch eine solche Einbuße eher gefördert. Die von Regis in bewußt altertümlichem Deutsch gehaltene Übersetzung wurde nur dort geändert, wo sie in Wortgebrauch und Formulierung dem modernen Leser unverständlich erschienen wäre.

Helmut Müller


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