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Erläuterungen und Anmerkungen

Das Antlitz der Legende ist drei verschiedenen Gebieten zugewandt: der Geschichte, der Erbauung und der Poesie. In dieser Vielseitigkeit oder Mehrseitigkeit liegt ihre Vollkommenheit. Sie wendet sich an den ganzen Menschen: an seinen Verstand, an seinen Willen, an sein Gefühl. Sie stellt ihm das höchste Ideal nach allen seinen drei Seiten dar: als Wahrheit, als Güte, als Schönheit.

Von der Wirklichkeit geht die Legende aus, von ihr nimmt sie den Stoff. Ihre Helden stehen alle im vollen Licht der Geschichte. Ihre Namen, ihre Thaten sind kein Erzeugnis der Einbildung. Aber die Legende geht nicht in der Geschichte auf. Die Legende will und soll die rein kritische Erforschung und Darstellung des wirklichen Thatbestandes der von ihr berührten Geschehnisse einem anderen Zweig der Litteratur überlassen, nämlich der geschichtlichen Kritik. Die Legende respektiert die Ergebnisse dieser Kritik, soweit sie sich als gesichert bewähren, durchaus; sie braucht sich aber darum nicht selber aufzugeben. Sie will und soll ihren Stoff in freierer Weise ausführen, um so ihrem litterarischen Charakter wie ihrem vollkommenen Zweck gerecht zu werden. Die Verkennung dieses berechtigten Wesens der Legende hat in älteren und neueren Zeiten zu unverständigen Angriffen verleitet. Man hat in pedantischen, prosaischen Anwandlungen das böse Witzwort geprägt: Legenden sind » Lügenden«, oder Lüg-Enten, woraus unsere bekannten, modernen Zeitungs-Enten entstanden sind. Aber diese Angriffe sind nur ein Armutszeugnis für den mehr als nüchternen Geist der Zeiten, in denen sie aufkommen konnten.

Ja, die Legende als litterarische Kunstform ist ihrem Wesen nach nicht reine Geschichte, aber sie ist darum nicht weniger als die Geschichte, sondern sie steht, bescheiden ausgedrückt, der Geschichte an selbständigem Wert, an Würde und Bedeutung mindestens in ihrer Art gleich. Ja, die lehrhafte und die ästhetische Form ist nur eine andere, aber der wissenschaftlichen Form nicht entgegengesetzte Art, in das Wesen der Dinge einzudringen; und es fragt sich, ob der Prediger und der Dichter nicht noch tiefer geht als der wissenschaftliche Forscher. Aristoteles wenigstens behauptet schlankweg, daß die Poesie philosophischer sei als die Geschichte. Dies Zeugnis kann, da es nicht von einem Dichter, sondern von dem nüchternsten Forscher ausgeht, nicht gut zurückgewiesen werden.

Bei der Legende wird der geschichtliche, der wissenschaftliche Zweck vor allem weit überwogen durch den Lehrzweck. In dieser Beziehung hat die Legende Ähnlichkeit mit der Parabel, mit dem Gleichnis, wie es uns in vollendetster Weise in den Parabeln der Evangelien vorliegt. So wie in den Parabeln, Verhältnisse der Natur und Menschenwelt dazu verwendet werden, um ein ganzes Lehrsystem daran zu entwickeln, so werden bei der Legende geschichtliche Thatsachen zum Ausgangspunkt, zur Grundlage umfassendster Belehrung genommen. Es ist nicht die Willkür eines Novellisten, der hier mit dem geschichtlichen Stoff rücksichtslos schaltet, es ist vielmehr das Wesen des Guten selber, das aus der geschichtlichen Unterlage mit klarerer Deutlichkeit zum Ausdruck kommt, als die bloße Thatsächlichkeit verraten will.

Ebenso wichtig ist die poetische Seite der Legende. Die Legende will nicht nur Geschichte, nicht nur moralische Lehre, sie will vor allem auch Dichtung sein, nicht Erdichtung. Denselben Wahrheitsgehalt, den die Geschichte und die Moral auf ihre Weise lehren, will die echte Poesie auch in der ihr eigentümlichen Formensprache zum Ausdruck bringen. Sie vollendet und ordnet gleichsam nur die Vorarbeit der Natur und der Geschichte. Wie der Musiker die tönende Welt in Melodien faßt, wie der Baumeister den Wald zur Säulenhalle stilisiert, so übersetzt der Legendendichter den geschichtlichen und erbaulichen Stoff in die Sprache der Poesie. Diese Sprache ist die Bildersprache. Das poetische Gleichnis kommt so dem parabelhaften Gleichnis sehr nahe. Auch ihm ist jede romantische Willkür fern. Sein Hauptzweck ist nicht die sinnliche Ergötzung, nicht der hohle Prunk, sondern die Verdeutlichung. Darin liegt die unbedingte Berechtigung der Poesie, daß sie durch die ihr eigentümlichen Mittel den ganzen Menschen am tiefsten ergreifen kann, daß sie ihm das Wahre und Gute noch unmittelbarer und handgreiflicher vorstellt. Nur darum hat auch der göttliche Heiland es nicht verschmäht, sich der poetischen Parabelform zu bedienen. Das Gleichnisartige alles Vergänglichen zum Bewußtsein zu bringen, ist das eigentümliche Amt der Poesie. Was also in den Legenden nicht Geschichte oder moralische Lehre ist, das ist darum nicht Lüge und Erfindung, nein, es ist poetische, gleichnishafte Ausdrucksweise, es ist auch Wahrheit, aber poetische Wahrheit. So wird, um nur ein Beispiel anzuführen, in der Thomaslegende das Wirken des Apostels unter dem Bild eines architektonischen Bauens dargestellt und in reizvollster Weise ausgeführt. So wird in anderen Legenden der Kampf mit dem bösen Geist unter dem Bild und Gleichnis eines Drachenkampfes anschaulich gemacht. Das apokryphe Evangelium von der Kindheit Jesu erklärt sich ausdrücklich für Parabel (vergl. S. 27).

Die Legende ist auch nicht etwa eine Verfallserscheinung, die erst dann einsetzt, wenn der Wirklichkeitssinn und die lebendige Moral schon im Schwinden sind; nein, sie begleitet von Anfang an die Geschichte und die Lehre. Die apokryphen Evangelien mit ihren Legenden sind selbst in der Form, in der sie auf uns gekommen sind, nicht gar so viel später als die geschichtlichen Evangelien. Sie bilden ebenso eine Blüte der antiken Poesie, wie das Christentum erst die Krone der ganzen antiken Kultur bildet. Das Gleiche gilt von den meisten späteren Heiligenlegenden. Ich will hier nicht die Entwickelung des ganzen Legendenschatzes verfolgen, wie er gegen Ende des 13. Jahrhunderts in der Legenda aurea des Jacobus von Voragine und im altdeutschen Passional, wie in ähnlichen Werken, ziemlich abgeschlossen vor uns liegt. Noch weniger will ich seiner Leidensgeschichte nachgehen, die etwa von 1500 bis 1800 dauerte. Der Humanismus war es zuerst, der das Verständnis für das Wesen der Legende verloren hatte und anfing, sich ihrer zu schämen.

Als nach diesem eigentlichen »Mittelalter« der Poesie unser deutscher Klassiker Herder im Jahre 1797 es zum ersten Mal wieder wagte, vor das gebildete Publikum mit einer gesunden und gründlichen Theorie der Legende, sowie mit einer Legendensammlung zu treten, stand ihm ein so grimmiges Vorurteil und Unverständnis gegenüber, daß er, nur ganz schüchtern, sich dagegen verwahren mußte, seiner erleuchteten Zeit wieder den »schlechten Legendengeschmack« und die »thörichte Legendenascetik« aufdringen zu wollen. Er mußte schalen Spott und unwissende Verleumdung fürchten. Er appellierte aber an das menschliche Herz, dem die Legenden mit sanfter Gewalt zusprechen, indem sie Einkehr in sich selbst, Glauben, Liebe, Geduld, strengen Gehorsam gebieten. Er spricht die Ueberzeugung aus, man müsse eben das aus vorigen Zeiten herführen, woran es der gegenwärtigen entschieden und zu ihrem Nachteil fehlt. Er vergleicht die Legenden mit jenem Brot der Legende, das zu Rosen wurde, und wünscht, daß umgekehrt jede Blüte der Legende dem Armen Brot werde. »Denn,« sagt er »muß das Schöne bloß nutzlos sein? Kann es nicht auch stärkend, erquickend werden?« Mit feinem Verständnis erkennt er den symbolischen und allegorischen Charakter der allzu vielen Wunder, an denen sich der prosaische Kritiker stößt; »Andacht, d. i. ein Aufmerken aufs Göttliche ringsumher, schrieb ja diese Legenden. Andacht sollte sie lesen; Andacht sollten sie einflößen und wirken.« »Nur gehört ein Ausleger dazu, der auch das Wunderbare zum schlichten Menschensinn hinabführe.« Er verteidigt das Ideal der in den Legenden gepredigten Sittenlehre gegen die Anklage, als ob sie zu leerer Andacht, zu einem niedrigen Aberglauben, zu einer nutzlosen Anstrengung, endlich zu völliger Aushöhlung der Seele leiten wolle. »Ohne die frommen Männer und Weiber der Legende bettelten jetzt vielleicht alle Musen in Europa; oder vielmehr an Musen in Europa wäre ohne sie gar nicht zu denken.« »Die meisten Institute unserer Wissenschaften und Künste nähren sich von den Brosamen dessen, was einst die Männer der Legende mühsam erwarben, andächtig stifteten, heilig bewahrten und der Nachkommenschaft fromm vermachten.« Er beklagt, »daß wir in unserm Zeitalter so wenig können, so wenig ernstlich wollen und vermögen, weil wir von Jugend auf zerstreut und verzärtelt leben, indem uns zu anhaltenden schweren Uebungen Anlaß, Regel, Ordnung, Sitte, tägliche Gewohnheit und strenges Gebot fehlen. Gewiß vermögen wir nicht, was die Männer der Legende vermochten, sonst brächten wir Wirkungen hervor wie jene, aus deren Pflanzungen wir, über sie spottend, von ihren Früchten zehren.« »Oft, sehr oft zeigten sie mehr als Spartaner- und Römersinn.« Mit Recht weist Herder auch darauf hin, daß uns die Legende nicht fremd bleiben darf, um auch nur die Werke der neueren Kunst in ihrem schönsten Zeitalter zu verstehen. In den Gemälden eines Rafael und Domenichino, Correggio, Guido und Guercino leben noch jene geistige Anmut und Seelengröße, die transcendente Erhabenheit und Hingebung, diese reine Abgezogenheit und ehrfurchtgebietende Würde, diese jungfräuliche Andacht, dieser Mutter- und Kindessinn, diese Engelsgefühle der Legende, von denen sich sogar in den Werken der Alten kaum die Vorahnung findet. »Hier ist sie hervorgegangen, die geistige Knospe; sie hat sich aufgethan in vielen Gestalten und Formen.« – »Ein ganz eignes Gefühl ist es, dies süße Gefühl der Andacht. Es fesselt so ganz, und scheint uns mit einem Gedanken alles zu geben! Dadurch macht es so unveränderlich, so heiter und stark in Sanftmut. Der Löwe wird Lamm und das Lamm ein Löwe.« Herder verteidigt auch die Kunstform, den »Vortrag« der Legenden und schilt die erbärmliche Pedanterie, die unter dem Vorwande des einzigen klassischen Stils überall die Schreibart der Römer sucht. Uebrigens weist er auf die analoge Legendenwelt der Griechen hin und schließt mit dieser patriotischen Phantasie: »Wäre die Legende der mittleren Zeiten so genutzt, als es die griechische war! Hätte jede Stadt, jede Kirche, jede gute Stiftung ihrem Heiligen diese Muse erweckt! Wie manches Gute wäre dadurch befördert worden! Bei einigen ist's geschehen.« Untere Zeit kennt oder liest es aber nicht.

Nur 7 Jahre nach Herder stellte sein Nachahmer Kosegarten der Herderschen Legendensammlung eine neue Auswahl und poetische Bearbeitung zur Seite, die mit dem Vordringen der Romantik einen fast noch größeren Erfolg hatte. Leider aber verließen beide Dichter bei ihren Versuchen die traditionelle und angemessenste Form der altdeutschen Reimpaare, obwohl schon Göthe in seiner Legende vom Hufeisen, wohl belehrt von Meister Hans Sachs, das Richtige getroffen und gezeigt hatte. Auch in der einfachen Treuherzigkeit der Erzählung kommt er den alten Vorbildern ohne Frage am nächsten.

Kosegarten hatte seine umfangreiche, teils poetische, teils prosaische Sammlung (1804) »unserem gottseligen Kaiser und seiner gleichgestimmten Throngenossin« gewidmet in der Erwartung, »daß die Bemühungen, deren Früchte er dem Publikum preisgiebt, innerhalb jener Kirche (der katholischen) eine schonendere Aufnahme und treffendere Würdigung finden möchten als innerhalb derjenigen, welcher er selbst angehört« (der protestantischen). »Aber,« setzt er hinzu, »das Schöne ist nicht allein von jedem Zeitalter und jedem Himmelsstrich, es ist auch von jeder Kirche und jeder Konfession.«

Kosegartens Sammlung ist schon dadurch wichtig, daß sie Gottfried Keller zu seinen sieben Legenden anregte. All diese ästhetischen Versuche in größerem Stil gehen merkwürdigerweise von Protestanten aus. Daher plante Keller ein »humoristisches Vorwort, etwa des Inhalts, der Verfasser habe einmal in einer Stimmung, wo man sage, es sei zum Katholischwerden, sich wirklich mit diesem Gedanken beschäftigt und deshalb das Leben der Heiligen, die Acta sanctorum, die Kirchenväter, studiert; da er aber sich wieder anders besonnnen, so sei das Unternehmen liegen geblieben u. s. w.« (Bächtold: G. Kellers Leben III, 78). Merkwürdigerweise wurde die rein poetische Absicht Kellers von verbohrten Freidenkern noch immer als zu katholisierend verdächtigt, und er mußte sich also entschuldigen: »Ich glaubte die Freiheit der Stoffwahl damit zu behaupten gegenüber dem Terrorismus des äußerlich Zeitgemäßen« (III, 83). Man wird es gewiß auch auf Rechnung jenes Terrorismus der Zeit setzen dürfen, wenn Keller seine erhabenen Stoffe ironisierender und willkürlicher behandelt hat, als es schon allein der ästhetischen Wirkung zuträglich war. Wir sehen daraus, daß wir uns in einer neuen Christenverfolgung befinden, und daß daher die Erneuerung der Märtyrergeschichten sehr zeitgemäß ist. Der Grund der Verfolgung ist heute, wie ehemals, wesentlich derselbe: die Unwissenheit, die Unkenntnis, die Unbelehrtheit.

Während also in diesen Versuchen der ästhetische Charakter der Legende einseitig betont wird, wurde in zahlreichen und viel benutzten katholischen Legendensammlungen mehr der erbauliche Zweck verfolgt und in geschichtlichen Untersuchungen ihr Wahrheitsgehalt kritisiert. Es scheint mir nun eine nicht unwichtige Kulturaufgabe zu sein, diese Einseitigkeiten wieder auszugleichen und der Legende wieder jene Einheit zurückzugeben, die sie in ihrer klassischen Zeit anstrebte und bewahrte. Sie soll wieder werden: ein Lehrbuch der höchsten Tugenden am Leitfaden der Geschichte in stilgemäßem poetischen Ausdruck und künstlerischer Form.

Dies habe ich im vorliegenden Werk versucht. Der Lehrgehalt ist unberührt und ungestört geblieben. Der geschichtliche Gehalt ist durch die chronologische Ordnung noch mehr betont worden. Der künstlerische Charakter wurde durch die zusammenfassende epische Komposition verstärkt.

Denn ein Kunstwerk soll vor allem die Legende sein. Wenn sie auch kein Epos bildet im Sinne der Ilias, so ist sie doch gewiß eines im Sinne des Königsbuches von Firdusi oder der Metamorphosen des Ovid. Besonders diese letzte Kunstform hat mir vorgeschwebt. Wenn es dem römischen Dichter erlaubt war, die Legenden seiner Religion und seiner Zeit zu einem so kunstvoll geordneten Kranz zusammenzufassen, so giebt er uns damit das Vorbild, die Lehre und Ermahnung, das Gleiche mit jenem Legendenschatz zu thun, der unleugbar dem lebendigen Glauben unseres Volkes, unserer Zeit, unserer ganzen Kultur zu Grunde liegt. Ich habe aber nicht versucht, wie Ovid, allzu gekünstelte Verbindungen zwischen den einzelnen Geschichten herzustellen, sondern zugleich jeder ihre Selbständigkeit gewahrt.

Ohne die Kenntnis dieser Legenden bleibt fast unsere ganze abendländische Kultur- und Kunstgeschichte unverständlich. Sie sind daher ein bei weitem notwendigerer Teil unserer Bildung, als etwa die griechische Mythologie. Kein anderes Stoffgebiet kann es an Ruhm und Glanz der Namen mit diesem aufnehmen. Alexanders, Cäsars Ruhm, der Ruhm aller Dichter, Staatsmänner und Philosophen ist ein Schatten gegenüber dem Ruhm dieser Heiligen, deren Namen den Kalender jedes Bauers, deren Bilder und Statuen die Kathedralen und Dorfkirchen der ganzen christlichen Welt in beiden Hemisphären seit Jahrhunderten schmücken und nach Jahrhunderten schmücken werden.

Die Legende der Heiligen gehört zu den Grundsteinen der Kultur. Sie ist seit fast zwei Jahrtausenden mit ihr unlöslich verbunden und wird sich auch in Zukunft nicht von ihr trennen lassen. Sie ist nicht etwa bloß ein Stück Mittelalter, sie ist auch ein wesentliches Stück der Antike, sie ist die notwendige ideale Ergänzung der großen römischen Kaisergeschichte, sie ist trotz aller Gegenströmungen der wertvollste Gehalt der ganzen Renaissancekunst geblieben, ununterbrochen durch Barock und Rokoko hindurch bis auf unsere Zeit. Auch in diesem Sinn will ich sie unserer modernen Kultur, die an barbarischer Zerfahrenheit zu Grunde zu gehen droht, noch einmal näher bringen. Ich will nicht etwas Vergangenes abschließen, sondern etwas Bleibendes zu erneuter Anregung darbieten. Der Zweck dieser Bearbeitung wäre dann voll erfüllt, wenn unsere Dichter und Künstler daraus die Erkenntnis schöpfen wollten, daß hier der Nährboden für eine großartige, mannigfaltige und doch einheitliche, stilvolle und beglückende Litteratur und Kunst ist. Jedes meiner kleinen bescheidenen Kapitel gäbe Stoff zu Hymnen, Kantaten, Oratorien, Epen, Dramen. Ich mache hier besonders auf die heimischen Legenden aufmerksam, von denen ich natürlich nur den kleinsten Teil aufnehmen konnte. Wie gäbe z. B. der ganze Legendenkreis von der thebaischen Legion den schönsten Stoff zu einem wahrhaft nationalen Epos. In dieser, wie in manch anderer Beziehung muß ich hier meine oft ausgesprochene Ueberzeugung wiederholen, daß wir christlichen Dichter erst am Anfang unserer Aufgabe halten und noch lange nicht von dem uns bestimmten Paradies christlicher Poesie Besitz ergriffen haben. Der heilige Garten steht noch voll von Blüten und Früchten. Die Kränze, die Dante, Calderon, Corneille und andere sich hier geholt haben, haben noch lange nicht seinen Blumenreichtum erschöpft, der unerschöpflich sich immer wieder erneut. Dasselbe gilt aber auch von der bildenden Kunst. Wer z. B. die Legende der heiligen Ursula mit frischen Augen liest, wird sehen, daß Carpaccio und Memling in ihren breiten malerischen Schilderungen den dramatischen Gehalt noch unerschöpft glücklichen Nachfolgern zurückgelassen haben.

Die Märtyrergeschichten werden vielleicht manchen eintönig, anderen kaum verständlich, noch anderen als ein Greuel erscheinen, eine bedauerliche Abkehr vom klassischen Aesthetizismus. Man übersieht eben gar zu leicht, daß sie der Ausdruck jener mehr als weltgeschichtlichen Entdeckung der größten Schätze des Innern sind, einer Offenbarung, die alle astronomischen und geographischen Umwälzungen an Bedeutung unendlich übertrifft. Alle diese Martyrien sind eben, wie schon der Name besagt, nichts anderes als »Zeugnisse« der einwandfreiesten Zeugen für die beseligende Thatsache, daß das Heil nicht im Sinnlichen, im Weltlichen, im Aeußerlichen, sondern im Seelischen, im Uebersinnlichen, im Innerlichen beruht, eine Thatsache, die schon die griechische Philosophie vorausgeahnt hatte, die aber eben jetzt erst durch die christliche Offenbarung praktisch wurde. Als solche Zeugnisse werden die Martyrien niemals ihre Aktualität verlieren.

Getreu den konservativen Prinzipien meiner Poetik habe ich mit der Redaktion dieser Legenden kein subjektives Originalwerk bieten wollen, sondern mich in den getreuen Dienst organischer Mitarbeit gestellt. Ich habe nur das gesammelt, geordnet, ausgeglichen, gereinigt, erneuert und restauriert, was im wesentlichen meine deutschen Vorarbeiter im Mittelalter für meinen Zweck mir in die Hände gearbeitet haben. Ihre Weise und Form der Erzählung, ihren Geist, ihren Ausdruck habe ich möglichst beibehalten. Ich habe das Werk sich selber zusammendichten lassen und mich nur zum Vermittler des Geschmackes zweier Zeitalter gemacht. Ich bin nur der Kustode eines Gesamtwerkes mittelalterlichen Volksgeistes und vor allem, da ich mich unmittelbar deutschen Quellen anschloß, eines deutschen Nationaldenkmals. Ich beanspruche für mich kein anderes Verdienst und keinen Ruhm als den der größten Liebe und Treue zur Sache. Ich habe die einfache, alte, schlichte Redeweise der mittelalterlichen Quellen möglichst beibehalten, nicht aus altertümelnder Liebhaberei und Spielerei, sondern weil ich das gute Deutsch jenes vom Humanismus noch unverdorbenen Zeitalters für klassischer ansehe, als irgend ein später von gelehrten Dichtern konstruiertes. Wenn uns überhaupt unser nationales Schrifttum am Herzen gelegen ist, so wird man sich daran gewöhnen müssen, hier und nicht bei den Klassizisten unsere Stilmuster zu suchen. Dann wird auch der Eindruck des fremdartigen und Veralteten schwinden; denn wir selber sind es, die wir uns dem Lebendigsten und Heimischsten entfremdet haben und altertümlich wurden.

Es ist also nichts Geringeres, als eine Regeneration unseres ganzen Kulturlebens, was ich von einer mächtigen und würdigen Erneuerung der Legende erwarte, vorausgesetzt, daß es gelingt, die Legende wieder, wie in den großen alten Kulturzeiten, in den Mittelpunkt des Lebens zu stellen als eine praktische und ästhetische Einheit. Das kann natürlich niemals durch die schwache Kraft eines einzelnen geschehen, und wenn er auch ein Dante wäre, sondern nur durch die gemeinsame, zielbewußte Arbeit ganzer Generationen. Mein unvollkommener Versuch soll dazu nur eine Anregung mehr neben vielen anderen sein.

Anmerkungen: Als Fußnoten eingepflegt. Re. Für Gutenberg


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