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Kaiser Trajan

Traianus, der Kaiser groß,
Fand nicht den Weg zu der Kirche Schoß;
Jedoch war er tugendhaft
Und hielt das Recht mit voller Kraft.
Er ritt einmal zur Stadt hinaus
Mit seinem Heer zu Streit und Strauß;
Da warf sich mitten in dem Troß
Eine Witwe nieder vor sein Roß
Und verlangte von ihm Gericht.

Der Kaiser sprach: »Ich weigere es nicht,
Bis daß ich wieder komme zurück.«

»Nein!« rief das Weib; »wenn dir das Glück
Nicht hold ist und du fällst, was dann?«

»Dann,« sprach er, »wird ein anderer Mann
An meiner Stelle Kaiser sein.«

Doch wieder rief die Witwe: »Nein!
Ich harre eines anderen nicht.
Jetzt ist bei dir des Rechtes Pflicht!«

Da sprach der Kaiser: »Du sagst wahr!«
Von seinem Rosse stieg er gar
Und hörte an der Witwe Klage.

Sie sprach: »Es hat an einem Tage
Dein eigener Sohn mein einzig Kind
Niedergeritten; das räche geschwind!«

Da sprach der Kaiser: »Er that es nicht
Mit Fleiß; so hab' ich auch nicht die Pflicht,
Ihn wieder zu töten. Auch nützte dir
Sein Tod gar wenig; doch nimm von mir
Den Sohn an deines Sohnes Statt,
So wirst du deiner Rache satt.«
Dazu gab er ihr großes Gut
Und sänftigte also ihren Mut.

Darnach über fünfhundert Jahr',
Als Sankt Gregorius Bischof war
Von Rom und über den Markt hintrat,
Der von Traianus den Namen hat,
Erbaut mit großer Kunst und Pracht,
Da ward des edlen Kaisers gedacht.
Dem Papste ward es bitter leid,
Daß dieser Kaiser bei seiner Zeit
Nicht nach dem rechten Glauben warb
Und im Heidentum erstarb.
Weinend ging der Gute dort
Zu Sankt Peters Münster fort
Und bat zu Gott; und er vernahm,
Wie eine Stimme vom Himmel kam
Und also sprach: »Du bist erhört!«

Etliche sagen, Gott habe gewährt,
Daß Kaiser Traianus wieder ins Leben
Käme. So ward ihm Zeit gegeben
Nach dem Himmel zu streben.
Etliche sagen, die Stimme habe
Dem heiligen Gregor die Gnadengabe
Nur dafür gegeben, wenn er zwei Tage
Im Fegfeuer selber dulde die Plage
Oder sein ganzes Leben am Leibe
Selber siech und leidend bleibe.
Sankt Gregor habe das letzte gewählt;
Drum war er allzeit von Krankheit gequält.
Doch murrte er nicht, denn er gewann
Dadurch den Himmel für Kaiser Traian.

Kaiser Trajan. Passional II. S. 206.


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