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Pastor Eschels von Morsum nahm seine Entlassung an unter Voraussetzung sofortigen Dispenses von allen Amtsgeschäften. Lehrer Abrumeit mußte Lesegottesdienste halten und zwischenein auf den Chor steigen, um die Orgel zu bedienen. Da der Keitumer Pastor sich den Fuß verletzt hatte und nicht nach Morsum kommen konnte, mußte Geik Claasen mit seinem Taufkind zu ihm dorthin fahren. Den Konfirmandenunterricht übernahm der Westerländer Pastor, nachdem ihm das Konsistorium von der Reichsbahn die Erlaubnis erwirkt hatte, die Arbeiterzüge benutzen zu dürfen, die zwischen Westerland und Morsum hin und her gingen. Pastor Eschels schenkte sich auch alle Abschiedsbesuche in der Gemeinde, die ihm den Stuhl vor die Tür setzte.

Der Tag der Abreise kam. Am Abend vorher war der erste Vollbahnzug vom Festland her über den Damm gekommen und von Morsum dann nach Westerland weitergefahren. Baumeister Bremer hatte die Reichsbahnstelle Flensburg vermocht, für den abreisenden Pastor einen Personen- und für seine Möbel einen Güterwagen in diesen Zug einzustellen. Diese Wagen waren am vorhergehenden Abend in Morsum stehengeblieben. Jetzt am frühen Vormittage kam die Lokomotive von Westerland zurück, bekränzt noch von ihrer ersten Fahrt über das nun zur Halbinsel gewordene Sylt. Pastor Eschels sah sie vom Westfenster seiner leeren Arbeitsstube aus –

Da polterte es im Hausflur. Da erschien Meinert Claasen in der Tür des Arbeitszimmers – da erschien einer der Gemeindevertreter – einer der Kirchenvertreter nach dem andern – unter ihnen Ludwig Bossen – Jens Simonsen – Andreas Bleiken –

»Wir wollten dir noch Lebewohl sagen, Pastor, da du nicht mehr zu uns gekommen bist«, begann Meinert Claasen, »wir wollen dir noch sagen, daß wir das alles nicht so gemeint haben. Wir haben dich persönlich immer gern gehabt. Wir wollten wieder Ruhe im Dorf –« seine Stimme wurde unsicher, er biß sich auf die Lippen.

»Nein«, fiel ihm Jens Simonsen ins Wort, »gleich so entlassen, das ist doch rein zu doll, und ohne uns zu fragen, ob wir das denn so gemeint hatten – wo wir mit Steuern und Kirchensteuern doch alles ordentliche Leute sind!«

»Aber«, sagte Ludwig Bossen, »Wenn wahr ist, das die Leute reden? Daß du nun immer noch Geld vom Kirchenrat bekommst, rein fürs Nichtstun? Dann ist dir am Ende ganz recht, daß alles so gekommen ist?«

Ein nervöses Lachen stieg in Pastor Eschels Kehle auf. Sie sahen ihn alle erwartungsvoll an. Teils hofften sie, daß ihm der Abschied doch schwer fallen würde. Teils wünschten sie, daß er das goldene Nichtstun der Morsumer Pfarre vorzöge, damit sie ihre Gewissen entlastet fühlen könnten. Aber der gellende Pfiff der Lokomotive überhob Peter Boy Eschels einer Abschiedsrede, und ihm war nicht leid darum.

Draußen stand Frau Lene Volquart Claasen mit beiden Schwiegertöchtern bei Gondelina. Nun wandte sie sich ihrem Bruder zu: »Rasmus und Geik sind auf Arbeit und die Kinder in der Schule, so konnten sie nicht zum Abschied kommen. Aber ich will dir doch sagen: wenn du einmal auf Besuch zu uns kommen wolltest, da stände nichts im Wege. Eine Kammer werden wir immer noch für dich freimachen können. Wir haben das nicht so gemeint, Peter – so nicht –, wir wollten, du solltest dich bessern –«

Da kamen die Herren vom Bau aus allen Himmelsrichtungen herbei: Bremer mit seinem Stabe von Süden herauf, von Westen her die Firma Hurtig mit sämtlichen Vertretern. Es kamen zwei Deputationen der Arbeiterschaft; es kam Max Milian Meiners im Namen der Sylter Arbeiter.

Die festlich bekränzte Lokomotive fuhr eifrig hin und her, rangierte kunstvoll – welches Teufelswerk den anwesenden Morsumern unbändiges Vergnügen bereitete – bis sie endlich den kleinen Extrazug genau hinterm Pastorsgarten bereitgestellt hatte, hinter dem schönen neuen mit Zement ausgegossenen Steinwall, den die Gemeinde Pastor Eschels geschickten Verhandlungen mit dem Landrat verdankte –

»Rein als ob der Kaiser abführe!« sagte neidvoll Erasmine Broder Thiessen, die soeben mit der Ziege zum Mittagmelken heimkam – Herrin und Tier zärtlich unterm Regenschirm vereint, denn der Südwest trug Regenwolken übers Watt.

Der Damm wurde vollendet – der Damm steht! An seiner Sohle erhöht sich der braune Boden des Wattenmeeres allmählich durch die Eigentätigkeit von Flut und Ebbe. Die gefährlichen Strömungen aus Süden haben sich beruhigt, so sehr, daß bei normalen Fluten kaum noch das Osterley den Damm selbst mehr erreicht. Schon sind die großen Baggerlöcher, die der »Loki« riß, wieder zugeschlickt. Wo Grassoden gestochen wurden, hat sich eine neue Rasendecke gebildet. Die Lagerplätze der Reichsbahn, des Wasserneubauamtes, der Firma Hurtig Söhne sind leergeräumt, der Heide überlassen, die sie schnell wieder überwucherte.

Der Damm steht! Seit Jahren fahren nun täglich die Festlandzüge hinüber nach Sylt, herüber von Sylt, das keine Insel mehr ist. Wer vom D-Zuge aus über Morsum hinblickt, wird wenig Veränderungen im Dorf und dörflichen Leben entdecken können. Langsamer wandelt sich ein Volk als der einzelne Mensch. Rasmus Claasen hat sein Handwerk aufgegeben und ist nun ganz zum Bauer geworden – zum »studierten Bauer«, wie die Morsumer spöttisch sagen, wenn sie ihn im Winter über seinen Büchern antreffen. Zusammen mit seinem Bruder Geik, mit Meinert Claasen und – Hinrich Peters vom Holm hat er sich eine Dreschmaschine vom Festland kommen lassen, die ihre vier Besitzer auch an andere verleihen, wenn sie selbst das Korn gedroschen haben. Jetzt beginnt er, ein Stück Heideland zu bearbeiten.

Holm-Peters sieht von den Wandlungen des einzelnen Menschen nicht mehr als der Reisende vom D-Zuge aus. Fehlt ihm der Blick dafür? Oder will er nicht sehen?

Aber der Damm steht, Holm-Peters – und auch der unsichtbare Damm, den Peter Boy Eschels baute!

 

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