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2

Der Baumeister Heinrich Bremer entstammte jenem klar umgrenzten bestbürgerlichen Mittelstande, dem das alte Vorkriegsdeutschland so viel verdankte. Seine weitverzweigte Verwandtschaft setzte sich zusammen aus Regierungs- und Oberregierungsräten, zumeist Juristen; aus Geistlichen, Ärzten, Universitätsprofessoren und Verlagsbuchhändlern. Es gab nur einen wenig tüchtigen Landwirt unter ihnen, keinen begeisterten Militär, keinen einzigen modernen Großindustriellen. Seit dem neuen Jahrhundert erst einige Techniker und ein paar Künstler, die ein gut angelegtes Vermögen davor geschützt hatte, aus der Kunst zugleich auch einen Broterwerb machen zu müssen. Sie alle gehörten jener glücklichen Schicht der guten deutschen Gesellschaft an, die, ohne je reich zu werden, dennoch nie wirkliche Not und Armut kennengelernt hatte. Ihnen allen war die Arbeit, die sie übernahmen, wichtiger als das Gehalt, das sie dafür bezogen.

Bis zum Kriege. Da trat die Not an viele von ihnen persönlich heran. Bis zur Nachkriegszeit mit ihrer Geldentwertung. Da lernten manche auch die Bitterkeit der Armut schmecken.

Der junge Bauführer Heinrich Bremer war in den Krieg gezogen, wie die meisten seiner Altersgenossen: ohne klare Vorstellung dessen, was ihn draußen erwartete. Begeisterung für die Sache des Vaterlandes und Abenteuerlust hielten sich in ihm die Waage. Bis ihm der Krieg selbst beides wieder nahm. Die Abenteuerlust blieb unbefriedigt; während sein älterer Bruder Rußland, Rumänien und die österreichisch-italienischen Grenzländer kennenlernte, ehe er dort fiel, hockte er selbst immer nur im gleichen Dreckloch an der Westfront, bald ein wenig südlicher, bald ein wenig nördlicher eingesetzt, wo die Pioniere eben gebraucht wurden. Wohl, er arbeitete ehrlich daran, die Schützengräben hier nach Möglichkeit zu sichern – dies war das tägliche nächste Ziel, deutlich genug und klar erkennbar. Darüber hinaus aber – wozu nur gab es überhaupt Schützengräben? Zu welchem Zweck diese ganze wahnsinnige Schießerei? War dieser Krieg denn eine Notwendigkeit? Wirklich ein Unvermeidbares im Leben der Völker Europas? Und daran, daß Heinrich Bremer den Sinn dieses grauenvollen Geschehens nicht ergründen, nicht ergrübeln konnte, war auch seine Begeisterung allmählich rostig geworden. Nur sein ehrliches Pflichtgefühl, sein nüchterner Arbeitswille waren ihm geblieben, und nur mit Anstrengung hatte er beides bis zuletzt festhalten können. Wenn er aber auf Urlaub heimfuhr zu seiner Mutter, suchte er immer noch die altgewohnte Begeisterung wieder hervor und putzte sie für seine Angehörigen von neuem auf.

Doch, daß er nach dem Kriege ein anderer wurde, als er vor dem Kriege gewesen, das hatte nicht eigentlich der Krieg an sich in ihm bewirkt. Sondern im Kriegsende erst starb ihm sein altes Wesen, in der Stunde, da jedes Geschützfeuer an der Front schwieg, weil Deutschland den Waffenstillstand unterzeichnet hatte – in dieser Stunde und in den Ereignissen der nächsten Wochen, die für ihn daraus folgten.

Der Befehl zum Abbruch der Front war gegeben. Am frühen Morgen, noch vor erstem Tagesgrauen, stand Heinrich Bremer hier zum erstenmal aufrecht auf freiem Felde, ohne ein feindliches Geschoß fürchten zu müssen. Starrte in die nächtliche Landschaft, die unter ihm sich breitete, und empfand die Gestalten, die sich schattenhaft um ihn bewegten, nicht anders als eine düstere Vision der apokalyptischen Reiter – sein eigenes Leben nicht anders mehr denn ein sinnloses Geschehen –

Bis ihn eine lebendige Hand am Arm rüttelte:

»Nicht denken und grübeln jetzt. Nur handeln!«

Er schrak auf und blickte in das Gesicht eines Menschen, den diese letzten Tage zum alten Mann gemacht hatten – riß sich zusammen.

»'Befehl, Exzellenz!«

– riß auch seine Kompanie zusammen, führte sie nach Deutschland hinein und in die alte Garnison, wo der größere Teil des Bataillons schon eingetroffen war.

Heinrich Bremer hatte um Urlaub gebeten, um sofortige Entlassung womöglich, war er doch nur Reserveoffizier. Aber der Bataillonsführer war zum Generalkommando befohlen und übergab ihm für einige Tage noch die Vertretung.

Am zweiten Abend dieser Vertretung saß Bremer noch spät allein im Büro, rechnend und schreibend, nur um nicht wieder ins fruchtlose Grübeln hineinzugleiten, als draußen eine ungewohnte Bewegung entstand und gleich darauf etliche seiner Leute mit mehreren Matrosen bei ihm eintraten. Im Namen des Soldatenrates forderten diese Leute von ihm die Bataillonskasse.

»Ich bin nicht befugt, sie auszuliefern«, entgegnete Bremer.

»Aber Sie haben den Schlüssel.«

»Ich habe ihn. Doch wurde er mir von Herrn Major persönlich anvertraut, ihn bis zu seiner Rückkehr zu bewahren.«

»So werden wir Sie verhaften.«

»Ich habe keine Macht, mich dem zu widersetzen.«

Er wurde in das alte Arrestlokal geführt und ging dort die halbe Nacht auf und ab, warf sich zwischendurch ein und das andere Mal auf die hölzerne Pritsche, um in dumpfem Schlaf auf kurze Zeit Vergessen zu finden – bis ein wacher Gedanke ihn wieder aufschreckte. Von draußen tönten unklare Geräusche. Den Leuten selbst schien bei dieser Angelegenheit nicht recht wohl zu sein; sie tranken sich Mut an. Gegen Morgen ballte sich ein Haufen Aufgeregter unter seinem vergitterten Fensterchen.

»Schlagt den Kerl doch einfach tot!« stotterte eine betrunkene Stimme.

Andere widersprachen, nicht wesentlich nüchterner und augenscheinlich nur aus Furcht vor den Folgen – dazwischen stotterte wieder die trunkene Stimme:

»Schlagt den Kerl doch einfach tot!«

Heinrich Bremer krampfte die Fäuste zusammen, daß die Fingernägel ihm hart ins eigene Fleisch drangen, nur um das Zittern zu bezwingen, das seinen Leib schüttelte. Vergebens. Er hatte sich nie für einen Feigling gehalten, war gesund, hatte draußen im Felde auch im ärgsten Trommelfeuer immer noch seine Nerven leidlich zu zwingen gewußt. Hier aber im eigenen Land, mitten unter den eigenen Leuten – ja, wohl gar von ihnen selbst – totgeschlagen zu werden wie ein toller Hund – der Gedanke ließ Todesangst und Grauen wie körperliche Mächte seiner Herr werden. Es war eisig kalt in dem alten Arrestlokal, er vermochte das Zittern nicht zu überwinden. Und sein durch Übermüdung gereiztes Gehirn zeichnete ihm mit entsetzlicher Klarheit die Bilder, die vielleicht in wenigen Augenblicken schon Wirklichkeit werden konnten –

– wie man ihm die Hände binden würde – und er auf den Hof hinausträte – wie dann im ersten Gegenüberstehen die Leute, die ihn zum Teil durch Monate und Jahre schon gut kannten, doch vor der Tatsache eines leidenschaftslosen Mordes zurückschrecken – wie er selbst eine trügerische Hoffnung gierig ergreifen würde – bis irgendein unvorsichtiges Wort, eine an sich belanglose Bewegung plötzlich den Anstoß geben konnte, daß alle dennoch über ihn herfielen – sie alle, die ihn nicht haßten, ihm nicht einmal übelwollten –

Ein kalter Regen, der unerwartet scharf herniederschlug, trieb endlich die Gruppe unter Bremers Fenster auseinander.

Doch die nächste Nacht war noch schlimmer. Die Stimmen, die seinen Tod forderten, hatten sich vermehrt –

»Kann doch sein, daß morgen schon der Major zurückkommt –« Morgen – welche Ewigkeit lag zwischen diesem Heute und jenem Morgen, an dem der Major wirklich zurückkam und sofort ein Kriegsgericht einberief, in dem der Soldatenrat selbst Bremer freisprechen mußte. Danach wurde er entlassen. –

Heinrich Bremer zog die Uniform aus, die er vier Jahre lang getragen, und legte wieder die bürgerliche Kleidung an, die er vor vier Jahren seinem Schneider zur Aufbewahrung übergeben, und die dieser während der langen vier Kriegsjahre sorglich vor Staub und Motten geschützt hatte. Heinrich Bremer packte seinen kleinen Handkoffer, den ihm der Schneider ebenfalls wieder aus irgendeinem Winkel hervorzauberte – ging zum Bahnhof, löste sich eine Fahrkarte nach der nächsten Großstadt und reiste ab.

Die Reise war nicht lang. Bald saß er in dieser Großstadt im Wartesaal des Bahnhofs, bestellte sich ein Mittagessen und kaufte von einem vorüberstreichenden Jungen eine Zeitung. Doch als er darin auf der ersten Seite schon seinen eigenen Namen las, fettgedruckt, unter der Überschrift »Gegenrevolution in X.«, da verging ihm die körperliche Eßlust und statt dessen überkam ihn ein großer Hunger nach einem vertrauten Menschen. Doch wohin sollte er sich wenden? Seine Mutter, seine verheirateten Schwestern lebten hier und dort verstreut in Süddeutschland, und keine von ihnen konnte er noch am gleichen Abend erreichen, wagte auch noch nicht, sich ihnen nun ohne die Lohengrinsrüstung seiner alten, so oft aufgeputzten Begeisterung zu zeigen.

Da fielen ihm gute Freunde ein, nicht gar weit von hier: der Vater ein Jugendfreund seines eigenen, früh verstorbenen Vaters; die Tochter – ja, er löste eine Fahrkarte nach jener Stadt und setzte sich wieder auf die Bahn.

Als er dort ankam, war der Abend schon hereingebrochen; die kleine Stadt sparte an Straßenbeleuchtung; ein nieselnder Nebel vermehrte die Dunkelheit. Indem Bremer den Bahnhofsplatz überquerte, stolperte dicht vor ihm ein etwa vierjähriges Bengelchen und fiel ihm gerade vor die Füße. Er setzte seinen Koffer hin und hob den kleinen Gesellen auf, klopfte und putzte ihn ein wenig und stellte ihn sicher wieder auf seine festen Beinchen. Der Bub schluckte ein paarmal, dann aber machte er eine höfliche kleine Verbeugung, sagte: »Danke auch schön!« und rannte um die nächste Ecke davon.

Heinrich Bremer lachte – lachte herzlich und unbefangen, und dabei fühlte er, wie etwas Furchtbares und Schweres von ihm abfiel. Er richtete sich auf, reckte sich noch höher und wollte gerade weitergehen, als ein alter Mann ihm zuwinkte:

»Herr, vergessen Sie Ihren Koffer nicht!«

Verwundert nahm Heinrich Bremer den Koffer auf, der neben ihm stand. Gehörte der ihm? Woher kam er? Wo war er überhaupt? Er sah einen dunklen Platz im Nebel, hörte über sich raschelnd herbstliche Bäume rauschen – wo war er? Wie kam er hierher? Aber sein Gehirn mochte nicht denken. Eine wundervolle lichte Ruhe herrschte da oben, und gedankenlos lächelnd ging er langsam weiter. Er wandte sich zur Rechten, wo eine etwas hellere Straße winkte, und als er im Verlauf dieser Straße ein erleuchtetes Hotel bemerkte, trat er dort ein.

»Zimmer gefällig?« fragte der Kellner, der am Eingang herumlungerte, schien aber kaum ernstlich zu hoffen, daß der Ankömmling einen derartigen Wunsch hegen könnte. Jedoch – ja, er wollte ein Zimmer haben, und der Kellner führte ihn hinauf.

Der Ankömmling stand mitten in dem banal eingerichteten Raum und schaute sich fröhlich um. Wie war das doch nett hier! Er hatte wohl schon lange nicht mehr so hübsch gewohnt, schien ihm – und so ruhig. Wo er zuletzt geschlafen, waren viele Geräusche gewesen, die ganzen Nächte hindurch – häßliche Geräusche –; sein Gesicht verzog sich. Ah, nein, lieber nicht daran denken, das tat weh. Lieber genießen, was sich eben bot.

Mitten auf dem Tisch lag ein Block, der den Ankömmling aufforderte, ihm seinen Namen, Wohnort, Reiseziel und noch manches andere mitzuteilen. Der Ankömmling las diese Aufforderung, und wieder verzog sich sein Gesicht. Was sollte er da schreiben? Sein Name hing irgendwie mit den häßlichen Geräuschen zusammen, die er doch vergessen wollte. Immerhin – wie lautete er doch gleich? Er glaubte sich zu entsinnen, daß er ihn heute noch irgendwo gedruckt gesehen hatte. Wo war das doch gewesen? Richtig, er hatte in einem großen Saal gesessen, in dem viele Menschen kamen und gingen. Ihm gegenüber hatte ein Schild gehangen, er sah es noch ganz deutlich vor sich: »Trinkt das gute Riebeck-Bier!« Hieß er vielleicht Riebeck? Hm, es mochte wohl sein; der Name an sich klang ihm nicht falsch. Er setzte ihn auf den Frageblock, in den Raum, der dafür bestimmt war, und betrachtete ihn lächelnd. Ja, er nahm sich gut da aus! Nun der Vorname – unwillkürlich fing er mit einem H an, wußte dann aber nicht weiter und machte nur einen dicken Punkt hinter den Buchstaben. Vortrefflich, das ging ja alles ganz einfach. Der Beruf? Riebeck – Riebeckbier? – vielleicht Bierbrauer? Doch das lag ihm nicht recht; so schrieb er einfach nur Kaufmann. Wohnort? Berlin natürlich! Wenn man sonst nichts von sich wußte, stammte man sicherlich aus Berlin. Und die weiteren Fragen – ah, bah, da machte man nur ein paar Striche. Damit war die Sache erledigt, doch war sie anstrengend gewesen. Er öffnete ein Fenster und spürte dann Lust, noch ein wenig unter diesen raschelnden Herbstbäumen sich zu ergehen. Am Fuß der Treppe jedoch fing ihn der Kellner wieder ein und nötigte ihn ins Restaurant, um ihm ein angenehmes Abendbrot vorzusetzen.

H. Riebeck jedoch spürte nur geringen Appetit, nahm nur wenig zu sich und griff dann doch wieder nach seinem Hut.

»Ich gehe noch ein paar Schritte durch die Straßen. Wenn man so den ganzen Tag in der Bahn gesessen hat –«

Der Kellner beeilte sich, das sehr verständig zu finden, und ließ seinen einzigen Gast ins Freie. Der schlenderte gemächlich die Straße hinab, die sich im weiteren Verlauf schnell wieder verdunkelte, und tastete sich weiter durch andere nächtliche Straßen, von deren Häusern er wenig mehr als undeutliche Silhouetten gegen den finsteren Himmel zu erkennen vermochte. Nach einiger Zeit kam er an eine breite Brücke, die über einen stark rauschenden Fluß führte. Dies gleichmäßige Brausen erfreute ihn. Er lehnte sich auf die steinerne Brüstung und schaute in das dunkle Wirbeln dort unten hinab – so dunkel und doch mit einem glanzlosen Aufschimmern hier und da, das geheimnisvoll von unzerstörtem Leben zeugte.

Lange schaute er hier hinab, bis endlich Müdigkeit ihm den Gedanken an das freundliche Hotelbett lockend machte. Da raffte er sich auf und ging in nachtwandlerischer Sicherheit den gleichen Weg zurück, den er gekommen, fand sein Hotel, fand auch sein Zimmer, obgleich er sich die Nummer nicht gemerkt hatte. Das Fenster stand noch offen; eine frische und nicht unangenehm feuchte Luft wehte herein. Indem er es aber doch schloß, bemerkte er, daß der Kellner den vertrackten Anmeldeblock vom Tisch entfernt hatte, und irgendwie erhöhte dieser kleine Umstand noch sein Behagen. Er kleidete sich schnell aus – schlief tief und ruhig bis weit in den nächsten Morgen hinein –

– erwachte wieder als Heinrich Bremer. Wußte wieder, woher er kam, was er in dieser Stadt gewollt. Fühlte aber auch, daß ihm alles, was er in den letzten Wochen erlebt hatte, noch als böser Dämon im Nacken saß – erkannte, daß ihm nur die Wahl blieb zwischen lächelndem Blödsinn oder männlicher Arbeit –

Konnte nicht über sich gewinnen, mit diesem Wissen um Deutschland vor Elisabeth Eickemeyer zu treten – verschloß sich auch ihr.

Die alte Exzellenz packte ihn wieder mit festem Griff:

»Nicht denken und grübeln jetzt. Nur handeln!«

Und er reiste ab, um sich eine Arbeit zu suchen.


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