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13

Inzwischen stand Heinrich Bremer im Wattenmeer zwischen Morsum und Klanxbüll und fühlte sich weder fest angestellt noch sonst in irgendeiner gesicherten Lebensposition. So dick seine Brieftasche sich auch an jedem Ersten jedes Monats mit den merkwürdigsten Geldscheinen anfüllte – acht Tage später schon begann sie abzunehmen wie der Suppenkaspar seligen Angedenkens, und nach weiteren acht Tagen konnte er seine Brieftasche schon wieder als unnötigen Gegenstand ruhig im Schreibtisch liegenlassen – bis dann endlich die Reichsbahn auch die vierzehntägige – wöchentliche – dreitägige Gehaltszahlung an ihre Beamten einführte, da die Kaufkraft des deutschen Geldes gar zu schnell sank. Diese mangelnde Kaufkraft des Geldes spürte Heinrich Bremer in Wahrheit deutlich genug am eigenen Leibe. In seiner linken Schulter muckte ein heftiges Reißen. Da war sein Gummimantel undicht geworden, und wie es ein nasser und windiger Winter gewesen, so wurde es nun ein windiger und nasser Frühling – sofern man das graue Nebelgebräu in diesem Lande mit einem so poetischen Namen überhaupt bezeichnen konnte. Und Heinrich Bremer bekam den Schnupfen, denn seine Wasserstiefel hielten ebenfalls nicht mehr dicht, und Rasmus Claasen, der mit einem funkelnagelneuen Paar auf dem Schlachtfeld zwischen steigender Flut und sinkenden Wolken erschien, erzählte ihm auf die Frage, daß er dreihunderttausend Mark dafür bezahlt hätte.

»Das kann ich nicht ausgeben«, sagte Heinrich Bremer, »ich bekomme weder 20 Prozent Wassergeld wie Sie, noch auch Prämien für Überstunden.«

Es hatte die sinkende Kaufkraft des Geldes aber diesen Grund: im Versailler Friedensvertrag waren endlich die ersten Anzahlungen auf die Reparationen festgesetzt, die Deutschland leisten sollte. Doch nicht in deutscher Mark durften diese Zahlungen getätigt werden, sondern in Gold oder Devisen, das beides Deutschland aus dem Auslande erst dazu aufkaufen mußte. Und also jagte das schlechte Geld das gute aus dem Lande: das Ausland forderte gutes an, und Deutschland mußte deshalb seine Mark zu jedem nur irgend erreichbaren Preise verschleudern; das Inland mußte sich mit dem schlechten Gelde begnügen, das eben durch die Zahlungen an das Ausland von einem Monat zum andern, von einer Woche zur andern und endlich von einem Tag zum andern an Kaufkraft einbüßte.

Nachdem aber Deutschland wieder eine große Zahlung geleistet und somit für zwei Monate mehr Ruhe hatte, gewann die deutsche Mark wieder etwas Lebenskraft, und daraufhin entschloß sich die Reichsbahn, den Sylter Damm nun mit erneutem Eifer in Angriff zu nehmen. Das freute Heinrich Bremer, trotz Reißens in der linken Schulter, trotz Schnupfen und trotz undichter Wasserstiefel, mit denen er bald im Watt nicht mehr anders mehr herumwatete, als wäre er barfuß. Aber da die Tage länger wurden und sogar hier die Sonne anfing, nicht nur zu scheinen, sondern auch zu wärmen, liefen gar manche Arbeiter barbeinig auf den wässerigen Arbeitsstätten umher – weshalb also nicht auch der Herr Baumeister?

Es lag dieses Arbeitsfeld des Baumeisters Heinrich Bremer auf der Wasserscheide zwischen dem nördlichen und dem südlichen Sylter Watt, zwischen der Lister und der Hörnumer Bucht. Hier trafen sich die Flutwellen, die von Norden her durchs Lister, von Süden her durchs Hörnumer Tief das Sylter Watt füllen; von hier liefen in Ebbezeiten die Wasser wieder nach Norden und Süden ab. Hier lag, da die hier schon langsamer strömende Flut manche Senkstoffe ablagerte, das Watt höher als in den weiteren Buchten. Bei Ebbe fielen hier weitere Strecken trocken, als bei List und Hörnum. Diese von der Natur selbst geschaffenen günstigen Vorbedingungen hatten Geheimrat Eickemeyer veranlaßt, den Plan zum Sylter Damm ganz auf die Gegebenheiten dieser Strecke zu gründen.

Die Flut aus dem Lister Becken reichte bei normalem Hochwasserstand kaum bis an diese Wasserscheide zwischen Morsum und Klanxbüll heran. Von Süden her aber, wo die Gezeitenerhebung, der »Tidehub«, bei Hörnum um zehn bis fünfzehn Zentimeter höher auflief als bei List, überschnitten noch vier letzte Ausläufer des Hörnumer Tiefs die projektierte Bahnlinie: am nächsten dem Festlande, am östlichsten also, das Osterley; das Holländer Loch kaum zweihundert Meter weiter; dann folgte das alte Sylter Ley; und am nächsten zur Insel das Westerley mit dem Landtief. Die große Sandbank zwischen Osterley und Holländer Loch nannten die Sylter »Barthels Kuhfenne«; die zwischen Holländer Loch und dem alten Sylter Ley heißt die Dracht. Da die Arbeit vom Festland aus in Angriff genommen wurde, galt dem Osterley Bremers erste Aufmerksamkeit. Der Dammbau auf dem täglich zweimal trockenlaufenden und verhältnismäßig festen Wattenboden schien ihm nicht allzuviel Schwierigkeiten zu bieten. Er hatte im Winter gründlich die Berichte über den Zuiderseedamm studiert und meinte, mit ähnlichen Methoden hier auch arbeiten zu können.

Er plante also – und sein nächster Vorgesetzter, der Baurat Pflüger vom Wasserbauamt Husum, billigte diesen Plan durchaus –, im Osterley selbst einen großen Bagger anzusetzen, auf dem Festlandsvorland nach Osten, und nach Westen hin auf Barthels Kuhfenne Buschwände in der beabsichtigten Breite der Dammsohle zu bauen und diese dann mit dem gewonnenen Baggergut einzuspülen. Freilich hatte die Geschichte in der Praxis dann von Anfang an einen bösen Haken: Das Sylter Watt hatte bei weitem nicht die Tiefe der holländischen Zuidersee, und mit dem großen Bagger kam Bremer nicht bis in die Spitze des Osterley. Er mußte also erst einen kleinen Eimerbagger anfordern, um für das große Baggergerät eine Liegestelle zu schaffen. Das war langweilig, und inzwischen beschäftigte er die Arbeiter damit, vom festen Lande aus einen kleinen Kleidamm ins Watt vorzutreiben, darauf er dann mit einer Schmalspurbahn die Verbindung zu der Sandbank östlich des Osterley herzustellen plante.

Im Mai endlich konnte er mit dem großen Bagger ins Osterley vordringen. Der Bau der Faschinen und Buschdämme war gut vorbereitet, das Einspülen des Baggerguts in die Dammsohle konnte beginnen. Nun aber zeigte sich eine zweite Verschiedenheit des Sylter Watts von der holländischen Zuidersee: in der Zuidersee stand den Dammarbeiten ein mergeliger Ton zur Verfügung, der, wo er hingespült wurde, festlag; der Sylter Wattenboden hingegen bestand zur Hälfte aus äußerst feinem Sande, zum andern Teil aus einem fetten Klei, der sich überhaupt nicht setzen wollte, sondern mit dem Spülstrom wieder davontrieb. Wo der Klei trocken verwendet werden konnte, wie bei dem Damm, den Bremer vom Festlande her vortreiben ließ, da bewährte er sich gut – gespült aber hielt er nicht stand. Und der Sand war so fein, daß er auch nur bei stillem Wetter und stehendem Wasser sank und zwischen den Buschwänden festgehalten werden konnte.

Es folgte aber dem windigen und nassen Frühjahr ein überaus gewitterreicher Sommer. Im März schon brannte die Sonne ungewöhnlich heiß, sie »stach« und sog viel Feuchtigkeit vom Erdboden auf. Weißlicher Wasserdampf zog sich über den ganzen Himmel; schwer wurde die Luft – unerträglich schwül. Um Himmelfahrt war der Himmel dunkel wie im November; mit einer grandiosen Explosion setzte das erste Gewitter ein. Danach gab es helle Luft – für drei Tage! Dann ballten sich wieder die Dünste, im Norden, im Süden, im Osten, im Westen, und wälzten sich aus allen Himmelsrichtungen auf die Insel zu, wie angezogen von unsichtbaren Gewalten. »Wo das erste Gewitter vom Jahr seinen Weg findet, da folgen ihm alle andern nach«, sagten die Sylter. Blitze zuckten hernieder, töteten manch Stück Vieh, schlugen hier in die elektrischen Leitungen, zündeten dort ein Haus an. Zog das Krachen der Donner nach Stunden endlich ab, meldete dumpfes Grummeln aus anderer Richtung schon wieder das nächste Gewitter an. Bremer zählte bis zu sechs Wettern in einer Nacht – und sie alle kamen mit Regen, kamen mit schwerem Wind, der See und Watt aufwühlte und in die Strömungen, die Tiefs, Leye und Prielen, eine gefährliche Fahrt brachte.

Dann lief der feine Sand durch die Buschdämme wie klares Wasser, lief ins Osterley, setzte sich in den Baggergeräten fest, versandete die Liegestelle – nach zwei, äußerstens drei Wochen mußte Bremer immer wieder die ganzen Geräte abbauen und die Liegestelle neu ausbaggern lassen.

Dazu folgte ein Kurssturz dem andern – eine Aufsässigkeit der Arbeiter der andern – als wäre die Menschheit nicht weniger stark elektrisch geladen, denn die Atmosphäre. Denn wenn die Leute ihren Lohn der vergangenen Woche erhielten, war, was sie verdient hatten, schon wieder entwertet. Heinrich Bremer, der die Arbeit am Sylter Damm angenommen hatte, um viel in freier Luft zu sein, saß jetzt jeden Abend über Berechnungen der Wattenströme, über den Lohnlisten der Arbeiter. Tagsüber stand er im Watt, von Regen und Wind gepeitscht und gezerrt; abends saß er im Büro mit Kunje Boysen und einem Buchhalter aus Husum, den er vom Wasserbauamt angefordert hatte, und nachts fiel er auf seinen Strohsack und wußte nichts mehr vom Tage. Weder tagsüber noch nachts aber kam er dazu, an Elisabeth Eickemeyer zu denken – noch an sich selbst, an seine Nerven oder sein Gehirn –

Und endlich kam auch von Hannes-Hannes aus Morsum eine Botschaft, daß dort die Berechnungen nicht ganz stimmen wollten, und Bremer mußte hinüber. Und ging ins Pfarrhaus:

»Hören Sie, Herr Pastor, ich muß durchaus noch diesen nördlichen Zipfel Ihres Pfarrackers haben, wir bekommen sonst einen Knick in die Bahnlinie.«

In Peter Boy Eschels regte sich der rechnende Morsumer.

»Land verkaufen, heute, da Geld überhaupt keinen Wert hat – mit solcher Zumutung darf ich meiner Gemeinde wohl nicht kommen.«

»Ich brauche es aber, Sie müssen mir helfen, Sie müssen sich mit dem Landrat verständigen. Der Kauf geht durch seine Hände vom preußischen Landwirtschaftsministerium aus.«

Pastor Eschels sann nach. »Der Damm kommt doch!« dachte er, »zu hindern ist er nicht mehr. Will ich das Kommende, muß ich sehen, die Sylter selbst daran zu interessieren –«

»Mag der Landrat sich an mich wenden«, sagte er mit Zurückhaltung.

Bremer fuhr zum Landrat, und der Landrat tat, wie Bremer wünschte. Schon acht Tage später sah Bremer vom Spülfeld aus, daß der Pastor in Simonsens Kutter zum Festland hinüberfuhr, doch nicht allein. Bremer sah mit Erstaunen die schwarzen Gestalten, die das Schiff füllten, und konnte sich aus der Fracht nicht gleich einen Vers machen. Ein paar Tage darauf aber traf er den Landrat in Niebüll.

»Den Pfarracker haben wir«, rief der ihm zu; »wenn Sie mir nicht versicherten, daß Sie ihn dringend brauchten –«

»Dringend ist gar kein Wort dafür. Ich brauche ihn, ich muß ihn haben.«

»So komme auf Ihr Haupt, wenn die Morsumer Preußen den Hals abschneiden«, sagte der Landrat und blieb vor ihm stehen. »Wissen Sie, ich schätze es nicht sonderlich, wenn der Bauer im schwarzen Rock zu mir kommt. Dann will er mich übers Ohr hauen. Und dieser Morsumer Pastor kam mit der ganzen heiligen Gemeindevertretung an – sechzehn Mann in schwarzen Röcken!«

»Was sagten sie denn?« fragte Bremer mit einer gewissen Neugier.

»Nichts!« antwortete der Landrat verärgert, »und das ist das Allerschlimmste. Sie saßen mir schweigend gegenüber wie beim Abendmahl in der Kirche. Der Pastor allein sprach, und die sechzehn nickten mit ihren sechzehn Köpfen dazu. Wenn ich meine Genehmigung zur Geltung bringen wollte, dann kniffen sie ihre Münder zusammen und schauten alle auf ihren Pastor. Und dann wiederholte er, was er schon einmal gesagt hatte, und wieder nickten sie alle – als ob, was ich sagte, in die leere Luft geredet war –«

»Und was forderten sie denn?«

»Roggenwährung.«

Der in Geldfragen immer noch harmlose und unbelehrbare Bremer zuckte die Achseln.

»Sagt mir nichts. Was aber ist dieser Pastor Eschels eigentlich für ein Mensch? Er muß doch studiert haben? Aber er scheint mir ein so unverfälschter Insulaner, als hätte er nie die Insel verlassen.«

»Sein Vorleben kenne ich nicht, auch der Propst nicht, noch der Bischof. Wir sind alle jüngeren Datums hier als er, und seinetwegen die alten Personalakten der Vorkriegszeit zu wälzen, dazu haben wir noch allesamt nicht die Zeit gefunden.«

Danach lief Bremer, nicht ganz ohne Absicht, bei seinem nächsten Aufenthalt auf Sylt dem Pastor Eschels über den Weg.

»Dank für den schönen Pfarracker, den ich nun bekommen werde!« rief Eschels ihm lachend entgegen. Bremer tat harmloser noch, als er in Wirklichkeit war.

»So? Gratuliere! Das Geld reicht also für ein neues Stück Land?«

»Und wird auch noch zu einem neuen Steinwall für die Nordseite des Gartens reichen und dazu, die neue Fenne einzuzäunen gegen den Verkehr am späteren Bahnhof!«

»Wie in aller Welt haben Sie das gemacht, Herr Pastor?«

»Ganz einfach: ich sagte, Roggenwährung! und meine sechzehn Gemeindevertreter nickten. Wenn sechzehn alte Morsumer schweigend auf ihren Stühlen sitzen und nicken, da kommt kein frisch gebackener Landrat dagegen an. Tja, und nun warten wir, wie der Roggen im Preise steigen wird. Es wird eine schlechte Ernte, mein Herr Baumeister, eine verdammt schlechte Ernte werden«, sagte Eschels vergnügt; »und vom Ausland kann Deutschland bei diesen Geldverhältnissen ja doch keinen Ersatzroggen kaufen. Also werden die Preise recht niedlich klettern. Kommen Sie mit, ich lade Sie zu einem Schoppen auf der hohen Heide; wir wollen den zukünftigen Pfarracker schon auf Vorrat etwas begießen! Uns Morsumern bekommt der Dammbau überhaupt gut, durch das aufgehöhte Gelände werden unsere sumpfigen Wiesen verbessert.«


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