Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

17

All seine Sorgen trug Heinrich Bremer, wenn er gerade auf Sylt war, gern ins Morsumer Pfarrhaus. Er konnte hier der größten Teilnahme sicher sein, denn Pastor Eschels verfolgte die Fortschritte am Dammbau nicht weniger eifrig wie Bremer selbst und fand immer ein ermunterndes Wort für ihn; seine Bedenken sprach er nur seiner Tochter gegenüber aus.

»Ich fuhr gestern übers Osterley«, sagte er und raufte mit allen zehn Fingern seinen struppigen weißen Haarschopf, »das Wasser kochte unter mir – wie wollen sie es nur bändigen? Je näher sie von beiden Seiten heranrücken, je enger der Durchgang wird, desto stärker natürlich die Strömung. Bremer hat ganz verständig Dämme angelegt, um die Spüler vorm Versanden zu bewahren – zwei Kilometer lange Dämme in Summa, die allein einer starken Kolonne bedürfen, um sie zu bewachen. Trotzdem kommen täglich fast Dammbrüche vor – und dabei Tag für Tag diese hohen Wasserstände – jetzt im Sommer – es ist rein wie verhext –«

»Cäcilie Hansen!« sagte seine Tochter lachend, und als Heinrich Bremer am Abend kam, neckte sie auch ihn damit: »Können Sie wissen, was Cäcilie alles vermag? Lebt sie doch ganz noch nach den alten Hexenregeln: Sei hier und da und überall – bring' jeden, nur nicht dich zu Fall!« Dann aber reichte sie ihrem Gast die Käseschüssel und lenkte das Gespräch in andere Bahnen: »Auch das Rezept zu diesem Käse mag so alt sein wie die Hexenbeliebungen, vielleicht tausend und etliche Hunderte von Jahren. Es ist ein gebackener Käse, wie Sie ihn wohl nirgend sonst mehr finden als gerade hier in Morsum; schon die Archsumerinnen wissen nicht mehr das rechte Maß zu treffen. Ja, mein Herr Baumeister, Ihr Damm wird manch jahrtausendalten Brauch vernichten und diesen Käse auch. Keine Hausfrau wird sich mehr die Mühe seiner Bereitung machen, wenn sie »etwas Ähnliches« bequemer und billiger aus der Westerländer Molkerei beziehen kann. Etwas Ähnliches aber ist nicht so gut, und es gibt Augenblicke, wo ich die Abneigung der Morsumer gegen Ihr Werk durchaus mitempfinde –«, und sie schaute ihn vorwurfsvoll an.

»Für mich aber gibt es Augenblicke, wo ich an der Vollendung des Dammes selbst zweifle«, rief Bremer aus. »Verraten Sie mich nicht, ich spreche hier ganz im Vertrauen« – und er begann und erzählte ihnen von seinen Nöten, von dem eingespülten Baggergut, das nicht zwischen den Buschdämmen sich halten lassen wollte; von seiner Sorge um die Verwandlung der Staatsbahnen; von den Schwierigkeiten, die ihm die fortschreitende Entwertung der deutschen Mark in jeder Woche neu bereitete: »1913 wurden im Reichstag 12 Millionen für den Dammbau bewilligt, das schien eine ungeheure Summe. Gestern zahlte ich mehr als das Hundertfache an meine Arbeiter als Wochenlohn. Wie lange soll dies so weitergehen?«

»So lange«, entgegnete Eschels ohne große Erregung, »bis wir das Niveau der Weltmarktpreise erreicht haben, denn vorläufig hat die Mark im Inland immer noch mehr Wert als im Auslande; so lange, bis Arbeiter und Beamte begriffen haben, daß sie bei immer weiter steigenden Zahlen dadurch doch nicht mehr Werte in die Hand bekommen, und sie endlich selbst keine Zulagen mehr fordern werden; so lange, bis die Reichsbank dem Reich seinen Kredit beschränken und die Notenpresse stillegen wird; so lange, bis – nun, bis sich der Frosch so weit aufgebläht haben wird, daß er schließlich platzt. Fragt sich nur, ob er dann noch am Leben bleiben wird.«

Bremer seufzte. »Ihnen scheint dies alles genau so klar und selbstverständlich zu sein, wie es Rasmus Claasen auch ist. Immer weiß er noch etwas aus dem schwindenden Gelde herauszuholen, gestern ein Paar neue Stiefel, heute neues Handwerkszeug, morgen ein neues Rohrdach, wie er mir schon ankündigte.«

»Er ist auch nicht umsonst mein Neffe«, schmunzelte Eschels selbstzufrieden, »und meine Schwester Lene ist eine gescheite Frau, wenn sie auch die Stalltür verriegelt, sobald Cäcilie Hansen vorübergeht. Wenn ich ihnen als Pastor predigen muß: ›Wo Geld ist, da ist der Teufel!‹, dann antworten sie als echte Morsumer: ›Und wo nichts ist, da ist er zweimal!‹ Und die Papierlappen sind schlimmer als nichts. Da haben Sie recht, Bremer, aber weshalb wollen Sie sich über den Damm unnötige Sorgen machen? Vielleicht kommen wir ohne Stürme durch, bis Sie die Verbindung vom Osterley zum Festland geschafft haben, und dann können Sie von dort mit soliderem Material nachschieben.«

Aber der Trost verfing nicht recht.

»Ohne Stürme«, wiederholte Heinrich Bremer jämmerlich, »haben wir nicht tagtäglich einen Sturm nach dem andern?«

Peter Boy Eschels lachte lauthals, und auch Gondelina konnte ein lustiges Zucken der Mundwinkel nicht verbergen.

»Sie lachen«, fuhr Heinrich Bremer fort, »aber mir ist's ernst genug. Ihre Neffen haben mich unterrichtet, daß es bei Windstärke 8 erst anfinge stürmisch zu werden. Daraufhin schlug ich ›Windstärke 8‹ nach und fand, daß die Luft dann eine Bewegung von 17,3 Meter in der Sekunde vollziehe. Ich bin überzeugt, das tut sie hier dauernd.«

»Diese neuen Nachschlagewerke taugen nichts«, meinte Peter Bleik Bun verächtlich. »In meiner Kindheit lernten wir, daß man bei Windstärke 8 das Schiff wohl noch führen kann, aber nur mit dreifach gerefftem Marssegel. Ja, da weiß man, was das ist! Freilich bin ich selbst nicht mehr zur See gefahren, aber das Gefühl davon habe ich doch noch von meinem Vater geerbt. Was Sie als Durchschnitt hier erlebten, mag etwa Windstärke 4 gewesen sein, wo ein Vollschiff mit allen Segeln 5 bis 6 Knoten macht. Das äußerste, Mitte Juni vielleicht, Windstärke 6, wo Sie mit einfach gerefften Mars- und Bramsegeln immer noch gut durchkommen. Bei Windstärke 8 möchte ich nicht für Ihren Damm verantwortlich sein, wenn Sie die Verbindung mit dem Festlande noch nicht sicher haben. Bei Windstärke 10 laufen Ihnen Barthels sämtliche Seekühe über seine Fenne.«

»Aber Sie haben die Verbindung mit dem Festlande bald sicher, nicht wahr?« schob Gondelina Eschels gutmütig ein, da sie sah, wie sehr ihres Vaters Aufklärung ihren Gast bedrückte.

»In zehn bis vierzehn Tagen treffen der Kleiwall vom Festlande und der gespülte Damm östlich des Osterley zusammen«, antwortete Heinrich Bremer, aber er wagte nicht, die Eschels zu fragen, was denn aus dem Dammteil westlich des Osterley, eben auf »Barthels Kuhfenne« werden sollte; ihm klang immer noch des Alten Wort im Ohr: »der nimmt sich da aus, wie die Flagge auf der Mistkarre« – Kinderspielzeug, Narrenkram!

Aber er wollte sich doch einen Windmesser anschaffen. –


 << zurück weiter >>