Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

31

Sechs Wochen später stand Heinrich Bremer wieder im Watt zwischen Klanxbüll und Morsum. Über ihm blaute ein klarer kalter Himmel, hell und hoch. Ein bissiger Wind nahm ihm die Nase aus dem Gesicht, aber an den Füßen trug er wieder feste Wasserstiefel und auf dem Rücken eine Lederjoppe, die dauerhafter war als sein alter Gummimantel; dies waren die Freuden der festen Währung. Daneben freilich war er die Angst um seine Entlassung immer noch nicht los, obgleich ihm das Gehalt an jedem Monatsersten in erfreulicher Weise bestätigte, daß die Reichsbahn seiner gedachte. Der Winter war kalt gewesen, und auch jetzt war das Watt nur obenauf ein wenig glitschig, darunter saß noch der harte Frost. Aber in diesen ersten Wochen machte Bremer hier auch nur wieder Vermessungsarbeiten, denn zu allen andern Kosten des neugezeichneten Dammes hatte das »Neubauamt Dammbau Sylt« noch eine stärkere Ausbiegung nach Norden zu, abweichend von der ersten Linie, fordern müssen, um dem Osterley und dem Holländer Loch, die beide durch die Augustflut noch gewonnen hatten, nach Möglichkeit auszuweichen – und es war alles bewilligt worden, was das »Neubauamt Dammbau Sylt« gefordert hatte.

War das nun Teufels Blendwerk oder sollte der Damm wirklich entstehen?

Eine Woche, zwei, lief Heinrich Bremer hier im Watt nur erst mit Hannes-Hannes und wenigen Gehilfen umher. Dann aber bekam er den Auftrag, 500-600 Arbeiter einzustellen, um die Materialmassen, die von allen Gegenden Deutschlands angefahren werden sollten, sogleich in Ordnung zu verstauen und die Arbeit zu beginnen. Die Rodenäser kamen auf den ersten Wink, und was sonst noch aus der Wiedingharde arbeitshungrig war. Die Husumer ließen sich auch nicht lange bitten, und von Kiel schickten sie ihm gleich fünfzig Mann auf einmal. Daneben rollten die Materialzüge an, die Pfähle, Balken, Bretter zur Spundwand brachten; Kohlenberge für die Schmalspurzüge, die wieder ins Watt hinauslaufen sollten; Maschinen, Loren und Hunde; das im Herbst noch aufgesammelte Material wurde von neuem durchgeprüft, und so still, so klar war diese herbe strahlende Vorfrühlingsluft, daß man das lustige Hämmern auf klingendem Eisen bis weit ins Watt hinaus hören konnte.

Fünf- bis sechshundert Arbeiter sollte Bremer bis zum 1. April aufgesammelt und eingestellt haben. Wenn ihm diese Aufgabe Schwierigkeiten bereitete, so lagen diese nicht in einem Zuwenig, sondern in einem Zuviel des Angebots. Hunderte standen an jedem Morgen vor dem großen Tor des Materialfeldes, dahinter auch Bremers Baracke und sein Büro lagen. So groß war jetzt die Arbeitsnot in Deutschland! Die Inflation hatte eine künstliche Wirtschaftsblüte getrieben; da die deutsche Mark im Auslande weniger gegolten hatte als im Inland, hatte das Ausland den deutschen Markt leergekauft und dadurch einen fieberhaft beschleunigten Umsatz erregt, der den deutschen Arbeitnehmern gesteigerte Arbeitsgelegenheit geboten hatte – freilich gegen schlechtes Geld. Den Zusammenhang aber erkannten nicht viele; die meisten dachten, daß der starke Umsatz nur ein Wettlauf um deutsche Arbeit wäre, von der das Ausland so lange abgeschnitten war. Nun zeigte die wertbeständige Mark erst den wahren Sachverhalt – Hunderttausende wurden arbeitslos! Bis nach Süddeutschland, bis nach Österreich hinein verbreitete sich die Kunde, daß der Dammbau wiederaufgenommen würde, und obgleich immer wieder und überall öffentlich bekanntgegeben wurde, daß nur der Aussicht auf Einstellung hätte, der aus der Provinz selbst stammte oder von einem Arbeitsamt der Provinz besonders empfohlen würde, strömten doch von Süden herauf Unzählige hier zusammen, auf den blauen Dunst, auf die sinnlose Hoffnung hin, es könnte doch vielleicht noch eine Ausnahme gemacht werden. Sie kamen zu Fuß nach langer Wanderung, sie kamen mit Frau und Kind, zerlumpt und zerrissen, halb verhungert, ohne einen Pfennig Geld in der Tasche; sie hatten sich ihren Weg erbetteln müssen, hatten gestohlen, wo sie nur stehlen konnten. Nun waren sie am Ziel – und Bremer mußte sie abweisen, denn das Provinzialarbeitsamt prüfte seine Listen aufs genaueste. Am 25. März hatte er 600 Arbeiter beisammen, doch obgleich er die Tatsache in allen Wanderherbergen, in allen Arbeitsämtern der Provinz und von Hamburg bekanntgeben ließ, hielt der Zustrom an. Am 30. stieg die Zahl derer, die er abweisen mußte, auf 800. Er war froh, als er sich am 31. vom Motorboot nach Sylt bringen lassen und Bahrenfeld das Weitere überlassen konnte.

Heinrich Bremer ging nach Sylt, denn nun wurde, was auch die Erfahrungen des vorigen Sommers gelehrt hatten, vorgesehen, daß die Arbeit mit möglichster Beschleunigung auch von Morsum aus aufgenommen werden sollte. Da Morsum aber kein Hinterland hatte, das nur das mindeste Material liefern konnte, so bestand Bremers erste Aufgabe darin, hier eine Ladebrücke zu bauen, daran das nötige Material, von Husum ausgesandt, gelöscht werden könnte. Seine eigene Unterkunft und das Unterbringen der fünfzig Arbeiter, die er zuerst nur mitbrachte, bereiteten ihm unerwartete Schwierigkeiten. Cäcilie Hansen ging es schlecht. Sie hatte ihren Fünfzigdollarschein vom Pastor nicht wieder geholt, aber sie war ein wenig hintersinnig geworden über den Streich, den das Schicksal in Gestalt der deutschen Rentenmark ihr gespielt hatte. Da fand Bremer es nicht verlockend, sich wieder bei ihr einzumieten. Er ließ sich die kleine Baracke wohnlicher ausbauen, nahm einen Jungen an, der Kaffee kochen konnte, und wollte versuchen, nun hier draußen zu hausen mit Hannes-Hannes und Magge Sörensen, den er sich als Buchhalter aufgegriffen hatte.

Die Arbeiter aber wollte ebenfalls niemand im Dorf aufnehmen. Bremer ging schließlich zu Pastor Eschels, und der suchte Meinert Claasen auf.

»Unklug seid ihr mit eurer Widerborstigkeit!« rief Eschels aus, als Claasen zunächst sich auch ihm gegenüber ablehnend verhielt. »Wie soll das neue Pfropfreis am Baum anwachsen, wenn nicht die Kräfte hin und wider schießen? Wie soll Sylt mit Deutschland zusammenwachsen, wenn ihr jetzt die Gelegenheit nicht nutzt?«

»Du meinst, wir wollten jetzt Geld verdienen, so viel wie möglich und gleich auf welche Art, um hernach unsere Wirtschaften auf intensiveren Betrieb einstellen zu können?« Meinert Claasen rechnete eine Weile schweigend. »Gut, so will ich es tun«, sagte er dann entschlossen. »Ich werde den alten Schuppen hergeben, darin können wohl dreißig Mann Platz finden. Aber das sage ich dir gleich: pünktlich zahlen müssen sie, und der Baumeister muß dir versprechen, daß er mir nur ordentliche Leute schickt und danach, wenn die größere Masse der Arbeiter anrückt, aber eine Wohnschute ans Vorland legt, und alles, was sich hier im Dorf nicht sinnig beträgt, dort unterbringt.« –

Eschels war seines leichten Sieges froh, wollte auch mit seinen Neffen sprechen und machte den Umweg über den alten Hof Volquart Claasens, traf aber nur seine Schwester daheim. Die saß in ihrem weißen Kopftuch im Lehnstuhl und strickte. Sie war jetzt oft müde, und oft auch hatte Eschels das Gefühl, als wollte sie nur deshalb nichts Neues hören, weil Kairene Holm-Peters ihr allerlei vorgetühnt hatte. Auch heute war sie wieder abweisend. »Wir wollen all das Neue nicht. Wir wollen unsere Ruhe wieder haben. Weil Deutschland nun arm geworden ist, müssen wir alle uns nun in einem ärmeren Leben einrichten; das muß sich helfen. Darüber hinaus aber wollen wir unsere Arbeit tun wie in alter Zeit und wollen es so haben, wie es vor dem Kriege war.«

»So, wie es vor dem Kriege war, kann es doch nie wieder werden«, antwortete Pastor Eschels geduldig. »Überlege dir doch selbst, wie die Welt sich dadurch verändert hat!«

»Ai wohl«, entgegnete sie müde; »wenn aber der Damm nicht gebaut würde, brauchte ich die neue Zeit doch nicht mehr zu schmecken.«

Entmutigt ging Pastor Eschels von ihr. Wie sie, so fühlten alle alten Leute im Dorf – so empfand er selbst, soweit er alt und ein Morsumer war. Nur der Universitätsprofessor Dr. Peter Boy Eschels dachte anders, aber es war ein kaltes Denken, rein aus dem Verstande geboren. Der sah eine neue Zeit kommen, und ihn gelüstete, sie noch kennenzulernen. Und da er sie zögern sah, tat er selbst ihr die Tür auf und rief sie. Wohl hatte er schon erkannt, daß sie seinem Denken mehr zu sagen hatte als seinem Fühlen, seiner Empfindung; aber wer einmal Universitätsprofessor gewesen, kann nie wieder ganz Bauer werden. Für Sylt würde der Damm erst der neuen Zeit den Weg bereiten – Lene hatte recht. Er wollte den Damm, weil er sich sagte: »Aufschieben taugt nur vom Zorn!« Aber sein Denken lag darum doch stündlich noch mit seinem Fühlen im Streit.

Wie aber fühlten und dachten, wie sprachen die Jungen?

»Jee, Oheim«, sagte Rasmus Claasen, dem er auf der Nösse über den Weg lief, »ich bin froh, daß ich wieder ein tüchtiges Stück Geld verdiene. Was wir im vorigen Jahr bekamen, mußten wir gleich in den Hof stecken, damit es nicht entwertete. Wir haben das neue Dach bekommen und den alten Brunnen gereinigt, haben im Stall neue Ständer ziehen und den Steinwall flicken lassen. Aber wir hatten nicht genug bar Geld auf der Sparkasse, unsere vierte Kuh zu halten, als es ans Steuerzahlen ging. Nun gibt es wieder gutes Geld, und wir verdienen wie Petrus beim Fischfang.« Und er lachte vergnügt, was er selten tat.

»Aber der Damm, Erasmus, der Damm selbst? Die Zukunft, die sich dadurch auftut?«

Da wurde Rasmus Claasen gleich wieder kalt wie seine Mutter.

»Die müssen wir uns doch erst einmal in der Nähe besehen, Pastor! Nehme an, daß uns diese goldene Zukunft fürs erste mehr kosten als bringen wird. Die Frauen werden nach Westerland fahren wollen – kostet ›ja nur ein paar Groschen, Vater!‹ Die Kinder sollen dann weiterlernen, sollen in Niebüll die Realschule besuchen, weil die Mittelschule dann bald nicht mehr gut genug sein wird. Ja, ob der Hof, selbst bei günstigeren Frachtsätzen durch die Bahn, das alles wird tragen können, das weiß ich auch nicht vorher. Was uns reich machte, Oheim, das war unsere Anspruchslosigkeit. Im Kriege bin ich doch weit herumgekommen und habe gesehen, wie es in der Welt zugeht. Aber daß ich die Welt da draußen nun besser fände als unser altes Morsum, wie es vor dem Kriege war, das kann ich wahrhaftig nicht sagen.«

»Ohne den Krieg aber wärest du nie hinausgekommen – möchtest du das missen?« rief Pastor Eschels aus. »Der Verstand, den du hast, wäre nie geweckt worden; in deinem Kopf wäre nichts von all den bunten Bildern, die der Krieg dir gezeigt hat; leer wärest du geblieben und stumpf! Und solltest du jetzt in Wahrheit in das Vorkriegsmorsum zurückversetzt werden, so würde es dir eng und grau und öde, und die Menschen darin beschränkt und kleinlich erscheinen. Du kämest in die Gefahr, in der auch Max Milian Meiners steht, und er mehr noch als du: daß ihr über euer tägliches Leben hinaus ins Grübeln gerietet, ins Sinnieren und Spintisieren, einfach weil euch der Alltag nicht genug geistige Nahrung mehr böte für euern aufgeweckten Verstand. Ihr wißt ja selbst nicht mehr, wie viel euch der tägliche Umgang mit Bremer und Scholz jetzt wert ist und wie viel die neue Arbeit – viel mehr als nur das, was ihr davon auf die Sparkasse bringen könnt!«

Doch das wollte der Neffe nicht wahrhaben. »Wer gern Brei mag, spricht viel von Grütze – Ihr wollt eben den Damm, Pastor-Ohm. Ich aber will ihn noch heute nicht, obgleich ich daran mitarbeite. Ich nutze ihn nur als Geldverdienst und sehe, was sich aus dem gegenwärtigen Augenblick herausschlagen läßt. Weiter denke ich nicht. Und einen Arbeiter nehme ich nicht ins Haus. Meine Frauen haben nicht nötig, auf Verdienst zu sehen wie Meinert Claasens Frau.«

Er sprach so bestimmt, daß Eschels keinen Versuch machte, ihn zu überreden.

»Ob Geik –?« Doch da lachte Rasmus Eschels nur:

»Geik sagt: Meinert-Ohm ist zwischen dir und Holm-Peter wie ein Frosch zwischen zwei Enten. Der eine zieht ihn hierhin, der andere dorthin, mag sein, daß sie ihn schließlich klein kriegen, ohne daß einer Gewinn daran hat. – Wenn Geik Arbeiter ins Haus nehmen will, tut er das auch ohne dein Zureden; und wenn er nicht will, nützt dir all dein Priestern auch nichts.«


 << zurück weiter >>