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Peter Boy Eschels aber konnte nicht leugnen, daß diese von alt ehrwürdiger Sitte getragene Art der Morsumesen einen Mann wie den Lehrer Abrumeit anziehen mußte; dachte Abrumeit doch nicht weit und frei genug, den Wert einer Sitte, deren Sinn und Ursprung niemand mehr kannte, darum etwa anzuzweifeln! Leider aber mußte Eschels daneben auch allen denen recht geben, die ihm sagten, daß sich das neue Deutschland vorläufig in wenig erfreulicher Gestalt den Blicken darstellte. Er mußte sich selbst eingestehen, daß auch in Morsum sich das Streben nach dem Neuen weit öfter aus Unzufriedenheit mit dem Alten erklären ließ, als daß es von vorwärtsdrängendem Lebensmut Zeugnis abgelegt hätte. Es waren vor allem die Frauen, bei denen er diesen Zug bemerkte. Da war Lene Volquart Claasens eigene Schwägerin, Engeline, die Frau des Meinert, die nicht gleich Volquarts Frauen über dem Kleinkram des Alltages stand, sondern gewissermaßen darin ertrank.
»Wenn ich statt meiner vier Jungen auch drei Töchter hätte wie Lene – oder wenigstens zwei – oder auch nur eine – so würde es bei mir auch anders aussehen!« sagte sie oft, und wenn ihr Mann sie zu trösten suchte:
»Schließlich bekommst du auch einmal eine Schwiegertochter ins Haus«, so stellte sie nicht ohne Bitterkeit fest:
»Das kann noch zehn Jahre dauern und auch noch länger.«
Mit den dreißig Arbeitern, die Meinert in seinem alten Schuppen aufgenommen hatte, kam nicht neue Last für sie ins Haus; die sorgten für sich selbst. Da sich aber Gelegenheit bot, auch noch drei Maschinenmeister zu beherbergen, die im Hause selbst eine größere Kammer forderten und am Sonntag daheim essen wollten, nahm Meinert auch diese auf. Seine Frau hatte noch nie fremde Menschen im Hause gehabt und übersah nicht recht, wieviel neue Arbeit zu der alten dadurch hinzukommen würde. Sie wünschte nur Geld zu verdienen, wie ihr Mann auch. Sie waren bei weitem nicht so wohlhabend wie Volquart Claasens. Meinert war Bauer, nichts weiter, während Volquart Claasens sich durch das Wissen, das er in seiner Jugend als Bürovorstand eines Kieler Rechtsanwalts aufgesammelt, manchen guten Nebenverdienst zu schaffen gewußt hatte. Auch hatten beide Söhne wohlhabend geheiratet. Als Gemeindevorsteher bekam Meinert wohl einen Zuschuß in die Wirtschaft, aber das bare Geld war immer knapp bei ihnen, und die Steuertermine neuerdings Tage der Angst.
So nahmen Meinert Claasens auch die drei Maschinenmeister noch ins Haus, und Engeline versorgte sie, als wären sie nicht ihre Mieter, sondern ihre Gäste. Das ließen sich die Männer gern gefallen, ließen sich auch von ihr zurechtflicken, wenn sie zerrissen von der Arbeitsstätte kamen, und während sie selbst als feine Herren in Westerland auf der Strandterrasse einherstolzierten, saß Engeline am Sonntagnachmittag daheim und nähte an den alten Sachen. Pastor Eschels fand sie bei dieser Beschäftigung, da er sie aufsuchte, weil er sie seit längerem schon in der Kirche vermißte.
»Zum Kirchgang habe ich einfach keine Zeit nicht mehr«, erklärte sie, eifrig stichelnd und es ihrem Mann überlassend, für das Behagen des Gastes zu sorgen. »Sie essen ja nun sonntags auch mit uns zusammen, sie bezahlen es gut, so muß ich doch immer etwas Besonderes auf den Tisch bringen. Und der Sonntagnachmittag ist die einzige Zeit, wo ich zum Nähen komme. Ja, so ist das nun.«
Meinert Claasen zündete sich eine Pfeife an und sagte nichts dazu.
»Lene sollte dir doch eine von ihren Töchtern zur Aushilfe schicken«, schlug Eschels vor. Sie sah auf, ließ ihren Nähkram sinken, so erstaunt war sie.
»Dann würden sie dort ja nicht rumkommen mit der Arbeit, so ordentlich wie Lene es haben muß«, sagte Engeline und dann: »ja und dann – das hatten wir doch noch nie so –!«
»Nun, dann fangt doch einmal damit an«, meinte Peter Boy Eschels in leiser Ungeduld. »Muß denn immer alles bleiben, wie es seit je gewesen? Kann denn nie etwas Neues kommen?«
»Sieh, das sagt der Kieler auch immer! Und recht hat er!« Engeline klopfte im Eifer mit ihrem Fingerhut auf den Tisch. »Er sagt, wir wären dumm, daß wir uns so plagten, man müßte nur die ganze Welt anders einrichten. Wenn wir nur wüßten, wie das zu machen ist, dann könnte jeder es so gut haben, wie er wollte.«
»Nur leider wissen wir's nicht«, bemerkte Meinert trocken, »oder willst du es machen wie Paula Borre?«
Sie lachten alle drei, denn es war nun so, daß Paula Borres zweite Ehe an einem Hosenknopf gescheitert war. Kamp, der Schmied, hatte in erster Ehe die Berta Hansen zur Frau gehabt, die eine geschickte Schneiderin gewesen, und alles, was sie für den Hausstand gebraucht, sich selbst verdiente, während ihr Mann seinen Verdienst vertrank. Paula Borre aber dachte nicht im geringsten daran, außer der Wirtschaft noch irgendeine Arbeit zu suchen, und da er von ihr verlangte, daß sie ihm einen Knopf annähen sollte, forderte sie erst mal einen Groschen, um besagten Knopf zu kaufen. Dadurch war er in solche Wut geraten, daß er mit einer Eisenstange nach ihr geschlagen hatte – worauf Paula heulend aus dem Haus lief, um nicht zu ihm zurückzukehren. Nun hatte sie den Pastor gebeten, die Scheidung für sie einzuleiten, und da Kamp, der Schmied, mit dem gleichen Ansinnen an ihn herangetreten war, so meinte Eschels bei sich, daß es ihm wohl nicht fehlen könnte, die Sache zum glücklichen Ende, d. h. einer glatten Scheidung, zu führen.
Engeline Claasen nahm ihre Näherei wieder auf.
»Du weißt, daß ich von Paula Borre nicht mehr halte als du, Meinert«, sagte sie dabei, noch immer halblachend. »Aber wenn du Niggels Kamp wärst, weiß ich doch nicht, was ich täte.«
Die Männer rauchten schweigend.
»Früher habe ich nie für möglich gehalten, daß eine Frau sich überhaupt je freiwillig wieder von ihrem Mann trennen könnte«, fuhr sie fort. »Aber der Kieler sagt auch: weshalb denn noch zusammenbleiben, wenn man sich nicht mehr leiden kann? Weshalb auch so viel Kinder in die Welt bringen, wenn sie einem nicht mehr zupaß kommen? Weshalb sich Gedanken machen, weil man's nicht so ordentlich haben kann wie andere? Wenn der Damm erst steht, wird uns auch das leichtere Leben vom Festland kommen. Unsere Kinder sollen es einmal nicht so schwer haben wie wir. Und Erkel Simonsen habe ich auch geraten, daß sie doch lieber als Zimmermädchen nach Westerland gehen soll, als zu Hause all die schwere Arbeit zu tun, die ihr so sauer wird.«
Sie legte ihr Nähzeug zusammen, da sie draußen die Buben hörte, und ging hinaus. Eine Weile rauchten die Männer noch schweigend weiter, dann sagte Meinert Claasen langsam:
»Wo liegt die Grenze zwischen deiner Schwester Lene und Paula Borre? Wohl so etwa bei Engeline, nicht wahr, Pastor? Worin aber liegt die Gewähr, daß diese Grenze nicht überschritten werden darf, sollen wir hier nicht auch solche Verhältnisse bekommen, wie sie in Rußland jetzt sind, so wie ich aus meiner Zeitung sehe?«
Peter Boy Eschels aber dachte an sein eigenes Wort, das er einst dem Generalsuperintendenten gegenüber ausgesprochen hatte: »Wenn die Bahn erst läuft, wird hier keine Gemeinde mehr zu versorgen sein« – mußte sich nicht alles auflösen, wenn nicht einmal eine Frau wie Engeline eine feste Grenze mehr anerkennen mochte?
»Ich muß –«, sagte er sorgenvoll, denn auch ihm war nicht wohl dabei zumute – »ich muß sehen, die Arbeiter selbst mehr in die Hand zu bekommen, damit sie solche Ideen nicht hier im Dorf verbreiten. Man muß ihnen zu denken geben über den Alltag hinaus, denn es ist immer ein Zeichen von einer äußeren oder inneren Not, wenn der Mensch anfängt, nach dem Weshalb? und Warum? zu fragen.« –
Und hiernach war es geschehen, daß Pastor Eschels die Arbeiter in den Gesangverein zog.