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Den alten Gesangverein hatte Eschels schon hier vorgefunden, als er vor zehn Jahren nach Morsum kam. Abrumeits Vorgänger leitete ihn, und auch Abrumeit selbst übernahm später die musikalische Leitung. Eschels war nur oft allein oder mit seiner ebenfalls unmusikalischen Tochter als zuhörender Gast erschienen. Aber in jedem Jahr hatte er dem Verein im Pfarrhause ein kleines Fest gegeben und hatte auch mehrmals wertvolle Noten gestiftet, wenn es sich darum handelte, daß er besondere Lieder zu besonderen kirchlichen Feiern einstudiert wünschte. So hatte immer das beste Einvernehmen zwischen dem Gesangverein und dem Pfarrhause bestanden, bis endlich Eschels drei stimmbegabte Arbeiter aus Bremers Wohnschute hier eingeführt hatte. Zunächst nur drei – danach aber hatten sich noch mehr gemeldet, und Eschels hatte auch diese nicht ablehnen können.

Heute gestand er sich selbst ehrlich ein, daß er damit eine Dummheit begangen hatte. Die ersten drei waren ganz ordentliche Leute gewesen und gute Sänger. Aber die sie nach sich zogen, weitere Bewohner der Wohnschute, benahmen sich zum Teil nicht so, wie es dem guten Ton im Dorf angemessen war. Sie lernten hier die jungen Morsumerinnen kennen, und niemand konnte ihnen wehren, auch zum Tanz ins Wirtshaus zu kommen. Dabei tranken sie dann mehr, als sonst an Tanzabenden üblich war, randalierten und belästigten schließlich auch Frauen und Mädchen, wenn sie hinterher grölend durchs Dorf streiften.

Da war zuerst Erkel Simonsen aus dem alten Gesangverein weggeblieben, und zwar, wie sie offen erzählte, auf den ausdrücklichen Befehl ihres Vaters hin. Dann hatte Lehrer Abrumeit des Pastors Wünsche immer mehr unberücksichtigt gelassen unter dem Vorwand, daß er den Arbeitern nicht mit kirchlichen Gesängen kommen dürfte. Und nun hatte er den neuen Gesangverein gegründet, dem sofort alle Morsumer Mitglieder des alten beitraten. Damit aber hatte Eschels nun jede Verbindung mit dem Morsumer Gesangverein überhaupt eingebüßt und mußte den Arbeitern mitteilen, daß ein Konkurrenzunternehmen den alten Verein tot gemacht hätte.

»Schade«, sagten die Männer, »es war doch etwas. Nun haben wir wieder nichts mehr. Besuchen Sie uns doch mal auf der Schute, Herr Pastor, wenn Sie vor den andern keine Angst haben.«

»Wenn Sie mich einladen, werden Sie auch wohl für meine persönliche Sicherheit einstehen können«, antwortete Eschels; »ich komme gern einmal hinaus, wollte lange schon sehen, wie Sie dort hausen.« Er war entschlossen, diese Einladung zu nutzen, und eines Tages ging er nach Feierabend wirklich unterm Kliff zum Vorland hinaus. Die Wohnschute der Arbeiter lag so nah wie möglich der Abbruchkante, aber ein schwankender Steg hoch überm Schlick mußte doch noch die Verbindung vom festen Rasen zum Bord vermitteln. Als Eschels darüber hinbalancierte, tönten ihm schon Gelächter und rohe Zurufe entgegen, aber er ließ sich nicht beirren und fragte nach seinen Bekannten.

Die erschienen eilig, noch naß aus der Waschschüssel, und führten ihn artig in den größeren Eßraum.

»Der Herr Pastor ist unser Gast, und wer sich nicht anständig benimmt, fliegt 'raus!«

»Oho, anpriestern lassen wir uns nicht, das haben wir hier nicht nötig.«

Eschels sah den Sprecher an. Es war ein großer Kerl mit finsterem, aber keineswegs rohem Gesicht.

»Dazu kam ich nicht. Wer den Pfarrer in mir sucht, muß ins Pfarrhaus kommen. Hier will ich nichts als einmal sehen, wie es Ihnen geht.«

»Schweinisch genug ist's«, brummte der Mann unwirsch, »was ist daran zu sehen?«

Einer der Sänger bot Eschels zögernd ein Glas wässerigen Bieres; der nahm es mit unbefangenem Dank. »Schweinisch?« sagte er dann, »ja, man bringt viel Klei an den Stiefeln mit herein, wenn man übers nasse Vorland kommt. Aber das kennen wir Morsumer nicht anders. Wie steht es denn mit der neuen Baracke, die neben dem Büro gebaut werden soll?«

»Damit hat's noch gute Weile«, mischte sich ein weiterer in das Gespräch, »mir ist ganz wohl hier, das kann ich nur sagen. Nachdem ich den ganzen Winter über arbeitslos war –«

»Aber im nächsten Winter werden Sie in der neuen Baracke wohnen«, sagte Eschels zuversichtlich. »Dann, wenn die langen Abende kommen, werden Sie sich da einen Leseraum einrichten, geheizt, mit Büchern – ein paar Bildern an den Wänden –«

»Na, man nicht zu christlich«, meinte der erste Sprecher wieder, und alle lachten. »Sonst aber bin ich wohl für Bücher, so von Karl May und Jack London« – die andern rückten näher – »und ein paar Zeitungen –«

In der schlechten Luft des niedrigen Raumes überkam Eschels eine leichte Benommenheit. Er atmete vorsichtig durch die Nase. »Weshalb«, so dachte er unwillkürlich – »weshalb nur muß der größere Teil der sogenannten zivilisierten Menschheit dauernd in diesem Gestank leben? Billiger Tabak, Transtiefel, unsaubere Körper, ungelüftete Stuben – sie können dies alles ja gar nicht vermeiden, und doch verachten wir sie ein wenig darum –«

Als er eine halbe Stunde später aufbrach, machte der scharfe Westwind ihm den Weg über die schwanke Latte recht unangenehm. Aber er überwand ihn und rief vom festen Lande her zurück:

»Auf Wiedersehen!« – und wenn auch ein paar Stimmen antworteten: »Nicht nötig!« und andere darüber lachten, tönte ihm doch ein allgemeines Gemurmel nach, das er mit viel gutem Willen für eine Aufforderung zum Wiederkommen nehmen konnte. Und er war entschlossen, sie zu nutzen, um den Arbeitern Gedanken zu bringen »über den Alltag hinaus«.


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