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Als Heinrich Bremer hiernach wieder in Morsum landete, fand er im Gasthaus »Zur Hohen Heide« den Baurat Pflüger aus Husum.
»Seit acht Tagen sitze ich hier – wie man so hübsch sagt: zur Erholung«, klagte der Baurat. »Ich hoffte natürlich, Sie hier zu treffen; statt dessen fördert der gute Scholz allein hier die Spundwand mit seinem bekannten Phlegma. Und es gehen die beunruhigendsten Gerüchte über das Osterley um. Wäre ich doch auf dem Festland geblieben!«
Bremer berichtete in Kürze, was sich mit dem Osterley begeben und der Baurat hörte gierig zu.
»Sie stopften das Loch mit Schotter – Sie hätten es geradeso gut mit purem Golde füllen können!« rief der Baurat aus.
»Herr Baurat«, entgegnete Bremer empfindlich; »mir ist auch leid, daß Sie nicht dabei waren. Ich ließ Husum anrufen. Man sagte mir, daß Sie nach Helgoland gefahren wären. Und der Strudel hatte sich binnen zwanzig Minuten ein schätzungsweise vier bis fünf Meter tiefes Loch ausgekolkt. Durfte ich zögern?«
»Nein, Sie haben durchaus richtig gehandelt«, sagte Baurat Pflüger ernstlich. »Ich bin ungerecht, aber ich kann nicht mehr schlafen. Mich verfolgen die Zahlen, diese Summen, für die wir verantwortlich sind, wie Gespenster. Dieser ganze Bau ist ein wahnsinniges Unternehmen!«
»Wer sich von Gespenstern schrecken lassen will –« dachte Heinrich Bremer halb verächtlich; laut sagte er kühl: »Das Land schlickt jetzt schon an, drüben mehr als wir vorher annahmen und besonders im Süden. Geht das so weiter, wird das Osterley nach drei Jahren schon ungefährlich sein, und der Landgewinn bald noch schnellere Fortschritte machen.«
»Mag sein, daß der Damm sich in hundert Jahren vorzüglich verzinst, nach fünfzig Jahren vielleicht schon« – der Baurat stützte den Kopf in die Hand. »Bremer«, sagte er halblaut, »wir dürften ihn doch nicht wagen! Verfolgen Sie die Entwicklung der deutschen Finanzlage? Sie haben keine Zeit dazu? Glücklicher Mann! Ich aber muß es, und mir ist die Lage schauderhaft klar. Wovon bauen wir? Wovon lebt die Bahn? Wovon lebt ganz Deutschland? Von Anleihen! und wird, um die Anleihen zu verzinsen, neue Anleihen aufnehmen müssen. Sie freuen sich der festen Reichsmark – die Rentenmark war mir lieber, trug sie doch nicht den Ausfertigungs-Kontrollstempel. Doch das ist schließlich Geschmackssache. Die eine wie die andere kann nicht sicher bleiben, wenn Deutschland nicht Maß hält in seinen Ausgaben. Wenn es ›um des Prestiges willen‹ solchen Bau heute unternimmt. Als ehrlicher Mann hätte es sagen müssen: ich bin zu arm geworden, mein Versprechen zu halten. Denn nicht dürfen wir heute berechnen, welche Zinsen uns dieser Damm in späteren Jahrhunderten tragen kann, sondern wie wir durch die nächsten Jahrzehnte kommen!«
In diesem Augenblick kam eine Gesellschaft von mehreren Herren in das Gastzimmer, darin Bremer und der Baurat beim Abendbrot saßen. Eschels war dabei und grüßte mit unverhohlener Neugier zu Bremer hinüber.
»Wer war das?« fragte der Baurat.
»Der Morsumer Pastor.«
»Eschels? So, der ist das? Den möchte ich gern kennenlernen.«
»Das kann leicht geschehen, wenn wir nur lange genug hier ausharren –« lachte Bremer; er hatte Eschels Blick ganz richtig gedeutet. Der brannte ja nur darauf, einen Bericht übers Osterley zu erwischen. Bremer überlegte, was er ihm sagen wollte. Seit er Eschels im Verdacht hatte, den deutschen Blätterwald zum Rauschen veranlaßt zu haben, war er in seinen Mitteilungen außerordentlich vorsichtig geworden. Ihm war die Erinnerung daran unangenehm. »Wenn ich mich von Gespenstern schrecken lassen wollte –« dachte er – »aber es geschah nicht um meinetwillen und nicht aus meiner Initiative heraus, was Eschels tat.«
Und dann versank er in seine eigenen Gedanken, wie der Baurat ihm gegenüber auch längst wieder in seinen Grübeleien versunken war, denn ihm fiel plötzlich ein, wie sehr er selbst sich doch auch von Gespenstern der Sorge und des Kleinmuts hatte schrecken lassen – wie kam es, daß er heute an Elisabeth Eickemeyer denken mußte? Er hatte weder Zeit für sie noch für Gespenster irgendwelcher Art gehabt in diesen Wochen überm Osterley. Die Arbeit hatte ihn geschluckt mit Haut und Haaren, der Damm – nein, er baute ihn nicht für Sylt wie Eschels, nicht für Deutschland wie der Baurat – »aber wenn wir so oder so die feste Währung nicht gehabt hätten, wäre mir nicht möglich gewesen, auch nur so weit mit der Spundwand zu kommen, wie sie jetzt doch immerhin gediehen ist«, sagte er aus seinen Gedanken heraus.
Der Baurat schrak auf. »Wir haben noch das Holländer Loch vor uns und das Westerley.«
»Ich lasse Bohrproben machen die ganze Baustrecke entlang, um den günstigsten Grund zu finden. Meinert Lorenzen macht sie, der Wirt hier auf der hohen Heide, oder vielmehr der Mann der Frau Wirtin. Er fuhr vor dem Kriege als zweiter Offizier für die Hapag, er ist zuverlässig. Er soll mir auch noch die Heide hier anbohren. Der Pastor meint, da könne nur Lehm sein, und auf Lehm rutschen die Bagger, das ist ein schlechtes Arbeiten.«
Sie versanken wieder in ihre Gedanken. Bremer dachte wieder ans Osterley. An dem Steinwall, den er da geschüttet hatte, würde das Osterley sich schon die Zähne ausbeißen. Aber es war klar, daß er dies Gewaltmittel bei den andern Strömungen nicht auch anwenden durfte, ohne den ausgesetzten Etat gar zu weit zu überschreiten. An den nächsten Worten des Baurats merkte er, daß der seine Gedanken die gleichen Wege hatte wandern lassen.
»Wenn wir die Strömungen offen ließen? Wenn wir ein Wehr einbauten?«
»Der Boden östlich und westlich der Strömungen wird zu weich sein.«
»Wir müßten die entsprechenden Enden der Spundwände stärker einschütten natürlich – das wäre immer noch nicht so teuer –«
»Und wenn wieder eine Sturmflut käme und das noch ungefestigte Stück der Spundwand wegnähme –«
»Wir können ja auch Glück haben«, sagte der Baurat plötzlich wieder voller Hoffnung; »wie weit werden Sie in diesem Herbst noch kommen?«
Nicht lange danach fuhr der Nössewagen vor, die andere Gesellschaft abzuholen. Wie Bremer erwartet hatte, ließ Eschels seine Gäste allein abfahren.
»Wenn wir Glück haben, hoffe ich die Ladebrücke hier doch fertigstellen zu können.«
»Soll ich Herrn Pastor später auch noch holen?« fragte der Kutscher, und Eschels antwortete zerstreut:
»Später – ja, ja.«
Dann kam er zu Bremer und begrüßte den Baurat.
»Ich hörte schon von Ihrer Anwesenheit hier«, sagte er unbefangen, doch der Baurat ging seinerseits schnell zum Angriff über:
»Wir haben auf Sie gewartet, Herr Pastor, damit Sie uns gutes Wetter prophezeien!«
Im Augenblick wurde aus Pastor Eschels wieder Peter Bleik Bun, der Morsumer Bauer, der sich von Fremden nicht ausholen läßt.
»Das kann so kommen, Herr Baurat, kann aber auch anders kommen; da weiß ich nichts von. Aber Sie können sicher sein: das kommt, wie das muß.«