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Wem die Erde, wem die Insel gehört, das mag dahingestellt bleiben. Das Watt jedenfalls gehörte in diesen Jahren Heinrich Bremer und seinen Arbeitern. Er kannte es nun zu jeder Tageszeit, bei gutem und bei schlechtem Wetter; hatte es um seiner Arbeit willen lieben, und seit der Sturmflut vom 30. August 1923 fürchten gelernt. Aber dieser Sommer des Jahres 1924 war ihm günstig. Wohl waren im Mai und Juni noch häßliche Tage gekommen, die auch hohe Wasserstände brachten. Danach aber wurde es ein richtig festländischer Sommer mit einer Sonne, die weder stach noch Wasserdämpfe an sich zog, sondern die still und freundlich ihre Bahn wandelte, was man hier in dem vielen Wasser immer brauchen konnte, und sonst nicht weiter mehr von sich reden machte. Und so auch der Wind. Er kam von Osten, vom Festland herüber, wo er den reifenden Roggen bestäubt hatte, und fächelte nun auf Sylt den Leuten, die bei der Heuernte beschäftigt waren, sanfte Kühle zu – und das konnte man auf den Feldern, auf dem trockenen Boden, den die Sonne durchwärmte, auch wiederum gut brauchen. Der Ostwind drückte auch das Wasser aus dem Watt, so daß manche Priele, die Bremer sonst viel Not gemacht hatten, nun trockenliefen, und die Arbeit von der täglichen Flut kaum gestört wurde.

So ging die Arbeit ihren Gang, und in dem Augenblick, da Heinrich Bremer sich von den dringendsten Sorgen befreit sah, fing er auch schon an, sich zu langweilen. Nicht, daß sein Tag nicht ausgefüllt gewesen wäre – bewahre! Nur fehlte ihm das kleine Überher, das ihm der Kampf mit dem Wasser sonst so reichlich geliefert hatte. Er aß jetzt mittags in der hohen Heide, aus keinem andern Grunde, als weil dort der Westerländer Kremser vorfuhr, und er mit den Herren der Firma Hurtig, die hier das Gelände inspizierten, seine Glossen über die Inselfremden machen konnte. Doch kam ihnen allen der Spott nicht aus ehrlichem Herzen. Heimlich sahen sie doch mit hungrigen Augen auf die hellen Kleider und bunten Schirme, die da wie große Blumen plötzlich in der dunklen Heide auftauchten. Und Heinrich Bremer fuhr auch den einen und andern Sonntag ganz nach Westerland hinüber, mitten aus aller Arbeit heraus, und wenn eine Frau ihn jetzt an sich gelockt hätte, dann hätte sie ihn wohl auch fangen können. Da sein äußerer Mensch aber in diesen Dammbaujahren beträchtlich an Eleganz eingebüßt hatte, fiel er den Frauen nicht als lohnender Fang in die Augen. Er selbst aber fand nicht die Zeit, eine kleine Anknüpfung, die der Sonntag etwa ergeben, am Montag dann weiterzuspinnen. Dann stand er schon wieder im Watt, war froh, daß er sich mit keiner bestimmten Verabredung festgelegt hatte und empfand daneben doch wieder ein leichtes Hungergefühl – bis endlich das Osterley für das nötige Überher an Sorgen und Arbeit aufkam. Denn das Osterley war nach wie vor das Schmerzenskind dieser ersten Baustrecke westlich Klanxbüll. Es wehrte sich durchaus gegen den Damm. Es wollte sich nicht einfangen lassen. Als die Spundwand ihm näher rückte, nahm es nicht einen ehrlichen Kampf dagegen auf, sondern wich ihr einfach weiter nach Westen hin aus; kolkte sich dort ein neues Bett aus und nahm bei jeder fallenden Flut die Pfähle wieder mit, die der Baumeister Bahrenfeld ihm während der vorigen Hohlebbe eingerammt hatte. Bahrenfeld hatte während des Krieges mitgeholfen, die Wybelsumer Bucht bei Emden dem Dollart abzugewinnen. Er kannte die Arbeit im Watt, nur die hiesigen Ströme waren ihm fremd, und da er an dem Osterley fast verzagte, rief er nach Bremer.

Der kam in seinem ratternden und stinkenden kleinen Motorboot übers Watt, und da er sah, wie sich das Osterley nun schon verbreitert und vertieft hatte, meinte er, es durch Schnelligkeit überrumpeln zu müssen, ließ auf Barthels Kuhfenne ein Stück Spundwand setzen, was in dem augenblicklich so stillen Wetter keine Schwierigkeit bot, und rückte dann auch von dort her dem Osterley zu Leibe. Vierzehn Tage blieb Heinrich Bremer in Klanxbüll, drei Wochen. Dann glückte es, das Osterley zu überschlagen! Es war die Strömung im Ley so träge und der Wasserstand so ungewöhnlich niedrig, daß endlich die Spundwand in ihm von beiden Seiten her zusammengeschlossen werden konnte. Dann schlief der Wind ganz ein, schlief etliche Tage völlig, so daß kein Wasser ins Watt kam und Heinrich Bremer – wie er meinte: höchst überflüssigerweise! – hier festsaß. Bis endlich eines Tages, als er am Morgen herauskam, ihm die Luft anders roch. Er schnupperte.

»Mag sein, daß wir wieder mehr Wasser bekommen. Das wäre mir lieb, endlich nach Morsum zurückzukönnen.«

Gegen Abend war er bis spät in die Dämmerung hinein noch draußen auf der Spundwand überm Osterley. Sah wie die Flut sich an dem noch ungewohnten Hindernis stieß – wie sie sich brach – zum Stehen kam – wie dann die Ebbe merklich spürbar wieder einsetzte. Gewonnen!

Am folgenden Morgen fuhr Bremer noch einmal mit Bahrenfeld hinaus. Er wollte die Flut noch nützen, nach Sylt hinüberzufahren, so waren sie früh aufgestanden und nahmen die erste Maschine, die nur eben angeheizt war. Der Dampf der kleinen Lokomotive flog nach Nordost, im Kessel pfiff und heulte es.

»Es gibt wieder Wind«, sagte der Heizer.

»Der tut uns nichts mehr«, lachte Bahrenfeld, aber in einem plötzlichen Mißtrauen hätte Bremer ihn gern gebeten: »Verreden Sie's nicht!«

Sie hielten kurz vorm Osterley, stiegen aus und ließen die Maschine zurückgehen, kletterten ins Spülfeld hinunter, wieder zur Spundwand hinauf – vom Festland her pfiff der erste Arbeiterzug, der hier herauskam. Der Loki, der große Bagger, machte Dampf auf und heulte seinen Morgengruß ihm entgegen.

Was veranlaßte Bremer und Bahrenfeld, die Spundwand direkt überm Osterley nicht zu betreten? Der Wind war nicht stark. Trotzdem blieben sie östlich der Strömung, beugten sich vor und beobachteten, wie die kommende Flut zuerst im Bett des Osterley sich hob.

Die Flut kam. Kam ohne viel Wellenbewegung, aber schneller und höher als in den Tagen vorher – kam und nahm fast ohne Geräusch vier Meter der neuerbauten Wand auf ihren Rücken –

Heinrich Bremer fühlte seine Hände zittern. Er sah, daß Bahrenfeld weiß im Gesicht wurde. Der Arbeiterzug kam näher.

»Was« – sagte er mit Anstrengung – »taten Sie doch am Wybelsumer Deich mit dem letzten Loch?«

»Wir schütteten es ganz mit Steinschotter ein.«

Der Arbeiterzug war angelangt. Unter den Männern, die ihm entstiegen, war auch der lange Husumer Zimmermann mit seinen Leuten, der vor drei Tagen die Spundwand geschlossen hatte, kam und war sehr bereit, sein eigenes Werk aufrichtig zu bewundern. Bremer winkte ihm.

»Wie schnell können Sie diese Lücke hier so überschlagen, daß wir das Gleis sicher vortreiben können?«

Der Mann starrte mit offnem Munde hinunter.

»Gottverdammich, das sieht böse aus!« brummte er – dann schlug er sich mit der Faust vor die Stirn und gleichzeitig ballte auch Bremer seine Hand in der Tasche zur Faust und drückte die Nägel tief in den Handballen, nur um nicht einen Schrei des Schreckens auszustoßen: eine mächtige graue Woge war gekommen, stand nun unter der neuen Wand, hob geruhig neben der vier Meter breiten Lücke noch weitere sechs Meter Spundwand aus, hob und trug sie einen Augenblick waagerecht auf ihrem breiten Rücken – darauf ein Strudel, ein Wirbel in die Tiefe – was gewesen, war nicht mehr; die Arbeit von drei harten Wochen durch einen einzigen tieferen Atemzug des Meergottes vernichtet. An der Farbe des Wassers aber sah Heinrich Bremer, daß hier das Osterley sich ein neues, tieferes Bett strudelnd auskolkte.

»Nun?« sagte Heinrich Bremer, »was meinen Sie? Können Sie hier überhaupt noch eine Brücke schlagen?«

»Wenn's sein muß?« antwortete der Zimmermann, angesteckt von des Baumeisters scheinbar unbewegter Ruhe, gab seinen Leuten Anweisung und begann das Werk, noch während er sprach.

»So müssen wir also auch dies Loch mit Steinschotter füllen«, sagte Bremer zu Bahrenfeld. »Wenn Sie binnen das Laden beaufsichtigen wollen? Zunächst was der Zimmermann braucht. Ich werde hier bleiben.« Blieb und wartete, bis der erste Zug mit allem kam, was der Zimmermann und seine Leute hier brauchten. Wies die Leute im Spülfeld an, zu bergen, was irgend mit der Strömung noch an Balken und Brettern vorübertrieb. Wartete diese Ewigkeit hindurch, bis das Gleis ganz zum Osterley vorgetrieben war – bis die ersten Brückenbalken sicher lagen – das Gleis weitergezogen werden konnte – bis der erste Zug mit Steinschotter ihm gemeldet wurde. Als der Zug kam und er, im immer schärfer aufgehenden Winde stehend, das Ausladen beaufsichtigte, fühlte er, daß sein ganzer Körper feucht war von der inneren Erregung, die er seine Leute doch nicht merken lassen wollte.

Drei Tage und drei Nächte hindurch blieb Heinrich Bremer hier am Osterley, einen Zug Schotter nach dem andern in das saugende Loch kippend. Ließ sich Essen hier herausbringen. Schlief nachts, während um ihn herum bei Fackellicht weitergearbeitet wurde, im Windschutz hinter einem entgleisten und halb über die Spundwand hinabgerutschten Wagen, und hörte auch im Schlaf immer noch, ob die Schotter richtig rollten und die Wagenzüge im rechten Zeitmaß sich folgten; daß keiner den andern behinderte und doch keine Pause in der Arbeit entstände.


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