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Der Westerländer Pastor, der lange schon kränkelte, erbat und erhielt nun seinen Abschied. Als der Propst seinen Nachfolger auf der Insel einführte, benutzte er die Gelegenheit, sich für den nächsten Tag bei Pastor Eschels in Morsum anzusagen.
Die der Gemeinde so ärgerlichen Pfarrhaustöchter hatten ein treffliches Mahl bereitet, saßen mit bei Tisch, warteten aber auch auf, indem sie sich unauffällig in ihren kleinen Ämtern abwechselten, und machten, obgleich sie heiter, ja sogar lustig blickten und sprachen, doch alles in allem einen so tadelfreien Eindruck auf den kirchlichen Herrn, daß ihm die Hälfte seiner Sorgen schon abgenommen schien, ehe er mit dem Angeklagten auch nur ein Wort über seine Stellung zur Gemeinde hatte wechseln können.
Nach dem Essen saß er mit Pastor Eschels und Gondelina allein in Eschels Arbeitszimmer – bei einer recht guten Zigarre und einem Glas trefflichen Rotweines. Er hob das Glas gegen das Licht und meinte wie beiläufig:
»Mehr noch würde ich mich hieran freuen können, wüßte ich nicht, daß Ihre Gemeinde Ihnen diesen Genuß leider verdenkt.«
»Tut sie das?« gab Eschels unbekümmert zurück, »danach frage ich sie nichts.«
»Oh, ich meine, es handelt sich doch alles darum, mit seiner Gemeinde zu verkehren wie ein Vater mit seinen lieben Kindern. Würden Sie jemals tun können, was Ihren eigenen Kindern Ärgernis bereitet?«
Der Propst fühlte Gondelinas aufmerksamen Blick, doch Eschels selbst antwortete so sorglos wie vorher:
»Ich bereite meiner Tochter viel Ärgernis, aber ich bereue dann auch, tue Buße und wir vertragen uns wieder, hm, Gondel?«
Sie legte ihre Hand auf die seine, ließ aber ihren Blick nicht von dem Gast.
»Liegt etwas Besonderes vor, Herr Propst?«
»Nur die alten Nöte«, sagte der Propst bekümmert. »Ich bitte Sie, diese Mitteilung als vertraulich aufzufassen; tatsächlich ist aus Ihrer Gemeinde heraus schon der Wunsch geäußert worden, daß Sie sich um eine andere Pfarrstelle bewerben möchten.«
»Ich bin ihnen unbequem«, stimmte Eschels ohne jede Empfindlichkeit zu. »Ist es des Pastors erste Pflicht, ein möglichst bequemes Inventarstück seiner Gemeinde zu sein?«
»Gewiß nicht, aber doch sollte vom Pfarrhause aus Frieden in das Gemeindeleben strömen, nicht Unruhe und ärgerlicher Zwiespalt. Soweit an uns liegt, sollten wir doch vermeiden, durch kleine oder gar belanglose Äußerlichkeiten die Gemeinde zu verstören.«
»Zum Beispiel dies hier« – und der Propst ließ wie in einer Bitte um Entschuldigung sein Glas leise an das Eschels klingen. »Vielleicht könnten Sie Ihrer Gemeinde näher kommen, wenn Sie dem Blauen Kreuz beiträten?«
Peter Boy Eschels lachte ärgerlich.
»Am Blauen Kreuz ist mein Vorgänger gescheitert, da er die Morsumer durch Hinweise auf ihre Sündhaftigkeit und des Himmels Gnade in ihrer Würde kränkte. Wer durch und durch tugendhaft ist, der braucht keine Gnade.«
»Ich bitte, so kommen wir nicht weiter«, sagte der Propst unruhig, und nun war es Gondelina, die sich wieder gleichmütig mit ihrer Handarbeit beschäftigte, während ihres Vaters Blick an aufmerkender Schärfe gewann.
»Damit Sie sehen, daß ich nicht eigensinnig bin, und um meinen guten Willen auch in dieser Hinsicht zu erweisen, werde ich hier einen Guttemplerorden gründen«, sagte Eschels ruhig, hob sein Glas, atmete bedachtsam den Duft des Weines ein, nahm einen langen Zug und fügte mit mehr Wärme hinzu: »Ich gestehe offen, Herr Propst, daß es mir leid darum ist. Ich glaube auch nicht, daß ich viel dadurch erreichen werde, doch sei's drum – und weiter?«
»Mein werter Herr Amtsbruder«, sagte der Propst geniert, »ich stehe doch hier nicht als Richter, sondern lediglich als Vermittler zwischen Ihnen und den Ihren, wenn ich so sagen darf. Ich komme ja nicht in amtlicher Eigenschaft heute. Nur gelegentlich dieses rein persönlichen Besuches, den ich doch Ihrer Tochter längst schuldete, möchte ich Ihnen einige kleine Winke geben –«
Eschels nickte:
»Geben Sie nur!« Aber angesichts dieser heiteren Bereitwilligkeit des andern fand der Propst es schwieriger als er vorher gedacht, die Rede auf Eschels kleine Sünden zu bringen. So fuhr er mit etwas übertriebener Gemütlichkeit fort:
»Winke geben – ja, mein Herr Pastor, das ist auch leichter gesagt als getan. Doch – hm – weshalb z. B. passen Sie Ihre Predigten nicht etwas mehr dem Fassungsvermögen Ihrer Gemeinde an?«
»Sie unterschätzen dies Fassungsvermögen, Herr Propst«, entgegnete Eschels scharf, nun ganz bei der Sache. »Man irrt, wenn man uns Inselfriesen für dumm hält, da wir nur schweigsam sind. Nach mir freilich dürfen Sie unsere Schweigsamkeit nicht mehr messen; ich bin durch meinen Beruf schon entartet. Der echte Morsumer aber ist schnell zum Denken, langsam zum Reden; bereit zum Hören, unbereit sich selbst zu äußern. So wirkt er beschränkt, wo er in Wahrheit nur ungewandt ist. Er schläft; ich will ihn wecken. Er ist sich selbst genug; ich zeige ihm, daß es draußen überm Watt auch noch Menschen gibt ähnlich ihm selbst. Ich zeige ihm durch mein Benehmen handgreiflich, daß mir auch die Festländer Brüder sind, die Herren vom Bau, die Arbeiter –«
Der Wagen des Propstes fuhr vor.
»Ich weiß nicht, ob wir uns hier ganz verstehen«, sagte der Propst unschlüssig, »vom kirchenpolitischen Standpunkt aus scheint mir hier in Schleswig-Holstein doch wichtiger, die alteingesessenen Dorfgemeinden bei der Kirche zu halten, als auf Eroberungen in Arbeiterkreisen auszugehen.« Und er legte, mit einem Blick auf den Wagen vorm Fenster, seine erst halb gerauchte Zigarre in den Aschbecher.
»Ich bitte –« und in seinem ernstlichen Eifer, daß der andere ihn noch anhören möchte, legte Eschels seine Hand auf den Arm des Propstes und bannte ihn so an seinen Platz. »Was ich an den Arbeitern tue, geschieht lediglich um der Morsumer willen, aus keinem andern Grunde. Die Erschütterung der jahrhundertealten Sylter Eigenkultur ist durch die Verbindung mit dem Festland unvermeidlich. Die einzige Möglichkeit ihres Fortbestehens liegt darin, daß die Insulaner vorher sich selbst ihrer bewußt werden. Daß sie selbst ihren Eigenwert erkennen. Sie sollen lernen, sie sollen wissen, was sie selbst wert sind!« rief Eschels zornig, und sein weißer Haarschopf sträubte sich, so daß der Propst einen Augenblick lang an einen alten Kakadu erinnert wurde. »Das aber ist rein durch Selbstbetrachtung und Selbstgenügsamkeit niemals möglich. ›Willst du dich selber erkennen, sieh, wie die andern es treiben!‹ Die andern: die Festländer, die Herren vom Bau, die Arbeiter. An ihnen soll der Sylter sich selbst messen lernen. Das Neue ist nicht mehr aufzuhalten. Der Damm kommt, ob der Morsumer ihn will oder nicht. So will ich, daß er sich selbsttätig dazu stelle, nicht fatalistisch nur mit sich geschehen lasse –«
Nun stand der Propst aber doch auf.
»Mir scheint, daß Sie manches wollen, das eigentlich außerhalb Ihrer amtlichen Pflichten und Befugnisse liegt«, meinte er kühl. »Wie mir gestern in Westerland angedeutet wurde, sollen sich Ihre Morsumer neuerdings vielfach mit den mittleren Baubeamten verbrüdern –«
»Und dies ist das Allerschlimmste, denn die mittleren Beamten sind nicht nur einfach unkirchlich, wie die Arbeiter und die Herren, sondern zumeist kirchenfeindlich eingestellt«, antwortete Eschels mit Nachdruck. »Die Verbrüderung ist natürlich, da die Bildungsstufe auch der Frauen hier der dörflichen am nächsten steht; der unterste Zustand der Roheit ist überwunden, ein freieres und klareres Weltbild aber doch nicht gefunden. Bei den Schachtmeistern, Werkführern, den mittleren Baubeamten eben mag das in der Natur der Sache selbst liegen; sie stehen zwischen Herren und Hörigen, haben nach der einen Seite sich zu fügen, nach der andern zu treiben, ohne doch in einer oder der andern Hinsicht selbständig handeln zu können. Der Bauer aber ist sein eigener Herr, und der Morsumer, der Sylter, ist fähig, auch eigen zu denken, eigen zu prüfen, eigen zu urteilen. So sollte er's tun. Und wenn er sich mit den Fremden verbrüdert – was ich durchaus wünsche! –, soll er sich nicht von ihnen beeinflussen lassen, wie er's häufig tut. Er sollte seinen eigenen Verstand gebrauchen und selbst erkennen, daß die Kirche die stärkste Hüterin bäuerlicher Kultur ist, ihre treueste Dienerin –«
»Dienerin – na!« sagte der Propst.
»– Dienerin ist oder doch sein sollte«, vollendete Eschels ruhig, und nun ging der Propst doch. –
Peter Boy Eschels sah dem Wagen noch eine Weile nach. Dann kam er ins Haus zurück und fand in seinem Zimmer Gondelina beschäftigt, Gläser und Flaschen wegzuräumen.
»Nun, was sagst du zu einem Vater Guttempler?« spottete er gutmütig. »Laß mir die halbe Flasche hier, die trinke ich heute abend zum Abschied noch aus.«
»Ach, lache nicht«, erwiderte sie unwirsch, »mir ist's ärgerlich. Wie viel Freude hast du immer an deinem Wein gehabt. Nun läßt du ihn auch noch fahren um der Morsumer willen. Aber das Leben ist nicht so reich, daß man eine gute Freude ohne Grund daraus streichen dürfte.«
Gedankenlos nahm Eschels ein Glas von dem Brett, das Gondelina schon hinausbringen wollte, und ließ es noch einmal an den andern Gläsern klingen. Dabei seufzte er leise, denn ihm fiel der Abschied wirklich schwer.
»Ohne Grund?« sagte er fragend, halb nur zu ihr gewandt, halb zu sich selbst sprechend. »Weshalb ging seit 1870 so viel Eigenkultur deutscher Stämme im Deutschen Reich unter? Weil das Land, darein die Kultur wurzelt, sich von der oberflächlicher denkenden, aber schneller redenden Großstadt überrennen ließ. Man kann den Dammbau nicht mehr hindern –«
»Und wenn du es könntest, würdest du es doch nicht tun, Vater.«
Der Alte hob den Kopf.
»Ich habe den Damm gewollt!« sagte er mit starker Betonung. »Ich will ihn – will ihn deshalb, weil ich die neue Zeit für Sylt herbeizurufen wünsche, solange ich noch lebe und Einfluß üben kann.«
»Und wirst dennoch nichts erreichen.«
»Weshalb nicht?«
»Weil man nur dem helfen kann, der Hilfe wünscht. Die Morsumer aber fragen nicht nach dir, wünschen nur, sich selbst zu helfen. Gib's auf, Vater, der Damm selbst wird sie lehren, was zu lehren noch möglich ist. Laß sie laufen.«
»Das eben kann ich nicht. Das will ich nicht«, sagte Peter Bleik Bun störrisch. »Denn ich bin auch Morsumer.«