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»Was die Fremden uns Gutes bringen wollen, daran gehen wir noch einmal zugrunde« – so sprach nicht nur Volquart Claasen, so dachten alle Morsumer und die meisten Sylter. Unter »Fremden« aber verstanden sie allemann jeden Nichtsylter ohne Einschränkung. Als aber im Spätherbst dieses gleichen Jahres die Eisenbahndirektion Altona den Morsumern mitteilte, daß sie bereit wäre, das Land für den Dammbau noch einmal zur Debatte zu stellen und die vor dem Kriege erlegten Kaufsummen dafür aufzuwerten, da gab es doch nicht einen Sylter, der dagegen protestiert hätte. Volquart Claasen berief zur Beratung nicht nur die Gemeindevertreter ein, sondern setzte eine Vollversammlung sämtlicher wahlberechtigter Gemeindeglieder an, damit jedermann ohne Einschränkung seinen eigenen Standpunkt öffentlich vertreten konnte. Altona hatte zwei Linien zur Wahl gestellt, die für den Bahnbau gleichwertig waren: eine südliche, die für Klein-Morsum, und eine nördliche, die zwischen Groß-Morsum und Abort hindurchlaufen würde. Jeder der Morsumer wohl hatte ein Stück Land oder sonst ein Interesse an einer der beiden Linien. So war die Teilnahme an der Versammlung außerordentlich groß.

Am Vorstandstisch neben Volquart Claasen saßen die Herren aus Altona, kluge, scharfgeschnittene Gesichter, Brillen oder Kneifer vor den Augen, nervös, stubenblaß. Eschels freute sich, wie vorteilhaft sein Schwager dagegen wirkte, seine übers Mittelmaß hinaus hohe Gestalt, die ruhige Würde seiner Bewegungen und Worte. Er erteilte zunächst dem Altonaer Referenten das Wort, und der Herr legte noch einmal die beiden Pläne vor, gab an Hand seiner Karten genau die beiden Linien an, nannte die Zahlen und Summen von 1913 und die von heute. Tiefes Schweigen herrschte während seiner Ausführungen. Da war nicht einer unter den Anwesenden, der etwa nicht zu folgen verstanden hätte.

Kaum schloß er, erhob sich Holm-Peters, der frühere Gemeindevorsteher.

»Wenn ich als erster nach dem Herrn Regierungsrat hier sprechen möchte, so tue ich das nicht, um nun gleich über all die Zahlen, die er genannt hat, herzufallen und zu sagen: das ist zuwenig, was wir für unser Land bekommen sollen. Es ist zuwenig, das ist sicher, so viel es auch immer sein mag. Denn was heute Geld ist, weiß doch jedermann; es ist schon morgen nichts mehr wert! Aber darüber können wir ja noch später sprechen. Ich will nur vorerst noch das eine fragen: wollen wir den Dammbau überhaupt?« Er sprach langsam und schwerfällig, suchte manchmal nach einem Ausdruck für das, was er innerlich wohl in der Sylter Mundart sich zurechtgelegt hatte. Nun atmete er tief auf und fuhr dann belebter fort:

»Wer gut sitzt, lasse das Rücken! Das ist alte Sylter Weisheit. Wir saßen aber immer gut hier in Morsum, ohne den Damm. Wenn man sich verändert – man weiß, was man hat; weiß nicht, was man dafür wiederbekommt. Solange wir für uns bleiben, haben wir vor allem – Ruhe! Wir können uns untereinander einigen. Wir können uns selbst unsere Preise setzen, die wir für Westerland und die anderen Badeorte machen wollen. Wir Sylter selbst sind die einzigen, die den Badegästen frische Produkte liefern können. Ein Hof mit zwei Kühen kann fast nur auf diese Art überhaupt bestehen. Wird der Damm gebaut, kommt die Milch von Klanxbüll morgen schneller nach Westerland, als heute unsere Milch von Morsum, sind die Eier, die auf dem Festland in der Morgenfrühe gelegt wurden, zum Frühstück bei den Badegästen. Das Schlachtvieh kauft Ratzlaff dann auch drüben hinterm Deich. Aber das alles ist das Schlimmste nicht. Es kommen Händler und Hausierer über den Damm. Es kommen allerlei Leute, die mit Geld besser umzugehen verstehen als wir. Ehe man weiß, wie es zugeht, hat man eine Hypothek auf dem Dach. Dann kommen Kleinsiedler hierher, womöglich aus der Stadt. Unnützes Volk, das nichts von der Wirtschaft versteht und nur als Spielkram solchen Hof übernimmt, weil der Mann drüben auf dem Festland ja ohnehin sein Auskommen hat und hier nichts braucht als einen Sommerbetrieb für seine Kinder. Solche Leute ruinieren das Land. Mit denen will ich nichts zu tun haben. Das alles aber kommt uns über den Damm, ob wir danach fragen oder nicht. Und deshalb sage ich noch einmal: wer gut sitzt, lasse das Rücken. Wir hier in Morsum haben immer noch gegessen ohne den Damm. Ich stimme dagegen.«

Die Altonaer Herren hatten schon mehrfach Zeichen von Unruhe und Ungeduld merken lassen, doch Volquart Claasen schien das nicht zu beachten. Jetzt aber, da Holm-Peters sich geräuschvoll wieder auf seinen Sitz niedersinken ließ, sagte er kurz:

»Ich ließ Herrn Cornelius Peters vom Holm ausreden, obgleich das, was er vorbrachte, heute nicht mehr zur Debatte steht. Deutschland hat den Dammbau beschlossen, und wenn wir nicht verkaufen, wird das Land enteignet –«

»Wir werden überrannt!« schrie Holm-Peters zornrot.

»– wird uns unser Land enteignet«, wiederholte Volquart Claasen ruhig, »die Bahnlinie wird ohne unsere Meinung festgelegt und das Land nach Wert abgeschätzt. Herr Pastor Eschels?«

»Ja«, sagte Eschels, »auch ich möchte bitten, zu dem, was heute nicht mehr zur Debatte steht, ein Wort sagen zu dürfen. Holm-Peters hat recht in allem, was er hier aussprach. Der Dammbau aber ist unvermeidlich, und das Unvermeidliche soll man auch wollen können. Wir dürfen uns nicht schieben lassen. Wir müssen selbsttätig mitarbeiten an der neuen Zeit. Wissen wir ihn zu nützen, kann uns der Damm auch Gutes bringen. Die Pachten werden geringer werden, fast auf ein Viertel der bisherigen Sätze. So können wir künstlichen Dünger, können Maschinen dann billig herüber bekommen. Ruhe ist nicht da, wo das Leben überhaupt stillsteht, sondern wo der Mensch sein Leben beherrscht. Ein gutes Schiff mit neuen Segeln wird nicht von Sturm und Wellen überrannt, sondern nur ein untüchtiges Schiff.«

»Mag ja auch sein«, entgegnete besänftigend Meinert Claasen, Volquarts jüngerer Bruder – »mag ja auch sein, daß der Damm im Wattenmeer nicht gelingen kann. Hat doch noch nie ein Damm hier gestanden. Und daß wir nach ein paar Jahren unser gutes Land unbeschädigt wieder bekommen und alles bleibt, wie es gewesen. Soll aber nun über die Bahnlinie abgestimmt werden, so stimme ich für die südliche Linie, obgleich die mir meine Westerkoppel mitten durchschneidet. Aber Opfer müssen wir alle bringen. Deutschland bringt Geldopfer, und wir geben unser Land weg. Und die südliche Linie liegt eben den meisten Höfen bequemer für den Frachtverkehr, und ja« – da aus einer Ecke halb unterdrücktes Lachen scholl –, »ja, Geik Claasen, meinem Hof läge sie am allerbequemsten, das sage ich ehrlich.«

»In dieser Hinsicht geht wohl dein Interesse mit dem des ganzen Dorfes zusammen«, nahm nun Volquart Claasen das Wort. »Wir müssen aber auch bedenken, daß wir im Süden das bessere Land haben, davon uns durch den Bahnbau im ganzen viel verlorengehen wird. Während das Land im Norden minderwertiger ist, ja, die Mieren durch Aufschütten des Geländes wohl gar noch gewinnen könnten.«

Eine allgemeine Bewegung entstand, denn über den Mieren, der sumpfigen Mulde, lagen nur die ärmlichen Höfe am Abort noch, und es geschah zum erstenmal im Morsumer Dorfleben, daß die Ärmsten auch berücksichtigt wurden.

»Ich stimme für die südliche Linie wie Meinert Claasen«, rief Holm-Peters, und die mit ihm während des Krieges in der Gemeindevertretung gesessen, schlossen sich ihm an. Da sprang Geik Claasen auf, Volquarts zweiter Sohn, der ein loses Mundwerk hatte.

»Die Herren verkaufen, was ihnen nicht gehört«, sagte er mit scheinbarem Ernst. »Wenn wir das Gemeinwohl bedenken, müssen wir uns wohl freuen, daß ihre Höfe vor allem vom Bau unberührt bleiben, hat doch niemand von ihnen ein Stück Land an der südlichen Linie –«

Die Unruhe wuchs, doch Volquart Claasen stand auf und bändigte seinen unbotmäßigen Sohn mit einem Blick.

»Meldet sich noch jemand zum Worte? Hat noch irgendein Gemeindeglied hier eine Frage zu stellen oder sachliche Mitteilung zu machen? Nun, so können wir wohl zur Abstimmung schreiten.« –

Die Abstimmung ergab eine große Mehrheit für die Bahnlinie im Norden. Danach löste sich die Versammlung auf. Holm-Peters machte sich auf dem Heimweg an Volquart Claasen.

»Was hatte der Priester da dreinzureden? Stand doch nicht ein Krumen vom Pfarracker in Frage. Dieser Papst! Dieser Pastor Eschels!«

»War es doch Meinert, der den Ausschlag gab«, antwortete Volquart unbewegt.

Und gleichzeitig sagte hundert Schritte weiter Gondelina Eschels zu ihrem Vater:

»Du hast dir Holm-Peters zum Feinde gemacht. Gib acht! Er hat Einfluß.«

»Gott Dank, daß Volquart jetzt Gemeindevorsteher ist«, antwortete ihr Vater mit halbem Seufzer.


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