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Inzwischen schob sich vom Festlande aus die neue Spundwand ins Wattenmeer hinaus. Sie hatten im »Neubauamt Dammbau Sylt« den neuen Nordstrander Wattendamm gründlich studiert; während der Kriegszeit hatte er nicht im nötigen Maße beaufsichtigt werden können, danach fanden sich viel Schäden zu bessern, und auch er war nun um das Rückgrat einer sicheren Spundwand zum Teil neu aufgebaut worden. Die dabei gemachten Erfahrungen kamen nun dem Sylter Damm zugute. Hoch und fest wurde diese Wand gebaut, einen halben Meter noch über normalen Hochwasserstand hinaus, und dann sogleich mit bestem Steinschotter eingeschüttet, den die kleinen Loren auf dem mit der Spundwand wandernden Gleis übers Watt hinausführten. Hinter der hohen Wand lag das Spülfeld bald völlig gesichert. Das Wasser stieg, doch fast ohne Wellenbewegung, so daß der eingespülte Boden sich bei wieder abziehendem Wasser in gewünschter Weise zwischen den Buschwänden lagerte. Und von der Insel aus wuchs eine ähnliche Wand ins Watt hinaus, langsamer freilich, da die Zufuhr der Materialien oft stockte.
Es ärgerte die Morsumer, daß Heinrich Bremer – denn er war für sie der alleinige Bauherr – trotz der großen Augustflut die Arbeit in diesem Frühjahr wiederaufgenommen hatte. Es ärgerte sie noch mehr, daß er sie nun mit ganz neuen und besseren Methoden durchführte, was sie als praktische Menschen auch gegen ihren Willen anerkennen mußten. Es ärgerte sie am allermeisten, daß bei alledem das Geld überhaupt keine Rolle zu spielen schien. Diese Spundwand, an der nun die Sylter und die Arbeiter aus der Wohnschute beschäftigt waren, die sollte nur erst den Anschluß an eine Ladebrücke vermitteln, an der später die großen Materialmengen gelöscht werden würden; danach erst begann der eigentliche Dammbau! Das alles war so weitläufig und kostspielig gedacht, daß den Morsumern der Atem wegblieb, wenn sie untereinander davon sprachen. Dann sollten auch hier die kleinen Lorenzüge über die Spundwand rollen, und der kostbarste Granitschotter sollte mir nichts dir nichts ins Watt geschüttet werden, rein um gar nichts, denn daß der »blanke Hans« schließlich doch wieder das letzte Wort sprechen und die ganze Herrlichkeit hinwegfegen würde, da blieb doch kein Zweifel! Daß er das konnte und auch tun würde, hatte er doch im August bewiesen – der Baumeister war wohl ganz von Gott verlassen in seiner sinnlosen Verschwendungssucht, nun es doch Deutschland so schlecht ging und die kleine Landwirtschaft kaum die Steuern aufbringen konnte – »wenn der Bauer leidet Not, hat das ganze Volk kein Brot –«
So sprachen die Morsumer untereinander, bis Peter Boy Eschels Geduldsfaden einmal wieder riß. Das geschah, als er bei einem Abendessen, das Meinert Claasen gab, mit der Familie des Holm-Peters zusammentraf und Hinrich Peters, des Cornelius Sohn, sich weitschweifig über all die Dämme und Deiche ausließ, die ehemals auf Sylt gebaut und wieder zugrunde gegangen waren.
»Sie bauen nicht selbst am Damm mit, Herr Peters«, warf Eschels zunächst noch vorsichtig ein. »Meine Neffen Geik und Rasmus sehen das Ding doch anders an.«
Hinrich Peters sah hochmütig an seiner Nase entlang.
»So oder so, der blanke Hans bleibt sich gleich.«
»Gewiß. Die Entfernungen auf der Erde und auf dem Wasser sind sich auch gleich geblieben, und doch erreichen wir heute in Stunden, wozu die Menschen ehemals Tage brauchten.«
»Ich verstehe nicht, was du damit meinst, Peter«, sagte Engeline Claasen von der Frauenseite her mit erstaunten Augen, aber ihr Mann antwortete etwas ungeduldig:
»Das ist doch klar genug. Pastor meint, daß der Mensch die Erde immer mehr beherrschen lernt, und also auch wohl einen Damm quer durchs Wattenmeer bauen kann –«
»So meine ich's«, bestätigte Eschels schnell. »Früher wurde ein Damm oder Deich von einer einzelnen Insel oder einer kleinen Festlandsgemeinde gebaut. Heute steht hinter diesem Bau das ganze große Deutschland! Es soll nun täglich ein Materialzug von 70 Waggons in Klanxbüll ankommen. Stellt euch doch vor, was solch ein langer Zug alles heranschaffen kann: Pfähle, Balken und Bohlen aus fernen Wäldern; Granitschotter aus mitteldeutschen Steinbrüchen; Kohle aus den westdeutschen Bergwerken – welche Deichgemeinde hatte früher solche Hilfsquellen? Und hatte solche Ingenieure, die das ganze Werk auf dem Plan bis in alle Einzelheiten auszuarbeiten verstanden, so daß nun tausend und mehr Arbeiter zu gleicher Zeit daran beschäftigt werden können?«
Nach Peter Eschels Worten ging ein Schweigen durch die Gesellschaft. Sie wußten alle nichts darauf zu erwidern, mußten sie die Tatsachen doch anerkennen.
»Du darfst das eine nicht vergessen, Pastor«, begann endlich Meinert Claasen von neuem und schob seinen Teller zur Seite, als wäre ihm die Eßlust vergangen. »Dies eine: wenn nun die Spundwand fertiggebaut ist, mit all den ungeheuren Kosten, die Baumeister Bremer da hineinsteckt – und es kommt dann noch eine Flut wie die große Augustflut: ja, meinst du dann, daß die Spundwand allein die ertragen könnte?«
»Das glaube ich nicht«, antwortete Eschels widerstrebend.
»Und ob Deutschland dann noch genug Geld haben wird, den Bau zum drittenmal anzufangen? Ja, da schweigst du auch, denn das wissen wir doch alle: wenn Deutschland sich nicht durch sein Versprechen damals gebunden gefühlt hätte, so würde es schon zum zweitenmal nicht von neuem angefangen haben. Nimmt aber nun wieder eine hohe Flut die ganze Spundwand weg, so hat es dann wohl das Recht zu sagen: ›Jetzt kann doch jedermann sehen, daß wir den Damm nicht bauen können!‹ Und damit ist es sein Versprechen quitt. Wenn der ganze Damm richtig fertig ist, dann kann er wohl auch große Fluten aushalten, das glaube ich selbst, wenn ich mir so überschlage, was der Baumeister da alles hineinstecken will. Solange der Damm erst nur im Bau ist und noch nicht fest, solange –«
Er schwieg, und Holm-Peters fügte hinzu:
»– solange dürfen wir noch hoffen, Herr Pastor, und tun's auch!« Er sah Eschels mit trüben Augen an. »Sie haben leicht reden: der Damm kommt! Sie verlieren nichts darum. Sie gewinnen vielleicht noch. Sie können dann leicht mal zum Propst hinüberfahren und hören dann mehr von der Welt als jetzt. Wir aber?«
»Ich meine, auch Sie könnten dabei gewinnen. Wenn Ihnen selbst nichts daran liegt, mehr von der Welt zu hören, so doch vielleicht Ihren Söhnen. Die waren im Kriege, die haben mehr von der Welt kennengelernt als Sie und auch als ich. Glauben Sie nicht, daß sie gern die Beziehung zu der größeren Welt festhalten möchten?«
»Das ist so, Herr Pastor«, entgegnete Hinrich Peters rasch, ehe noch sein Vater sich auf eine Antwort besinnen konnte. »Wir brachten alle die Unruhe mit heim, die die Städter in den Knochen haben und die Leute vom Festland jetzt meist alle, auch wenn sie auf dem platten Lande wohnen. Aber ich meine, man gewöhnt sich wohl wieder, und wer die Unruhe in sich hat, der ist kein rechter Bauer. Unruhe ist nur da, wo die Leute sich nicht wohlfühlen in ihrem Leben. Das hat wohl in den Städten so angefangen, als die Städte so groß wurden, daß niemand mehr ein Stück Land haben konnte. Alle Reichen, ja die schafften sich dann bald wieder einen Garten an, damit sie doch etwas hätten. Aber die Ärmeren? Und es kann einer in der Stadt Geld verdienen, so viel, daß wir uns das gar nicht ausdenken können, und kommt doch noch lange nicht zu einem Stück Garten. Und so ein Garten ist doch noch kein rechtes Land! Ja, dann kommt die Unruhe in die Menschen, und das kann ich auch wohl verstehen. Ich kenne die Unruhe doch auch. Als ich im Kriege in Serbien war und dann nachher ganz durch Österreich kam und Wien gesehen habe und all die schönen Städte dort. Da dachte ich auch: wenn wir hernach nur den Damm bekommen, daß uns das Reisen bequemer wird, dann möchte ich mal im Frieden das alles hier sehen. Dann will ich nicht immer still in Morsum sitzen. Wenn die Welt so schön ist, weshalb soll ich dann nicht auch mein Teil daran haben? Aber nun ich hier wieder bin und alles Geld, das wir noch auf der Sparkasse hatten, ist weg, und wenn ich auch nur einen Pfennig zuviel ausgebe, dann muß ich hernach Vieh verkaufen, um nur die Steuern bezahlen zu können. Dann bezwinge ich mich lieber, daß ich all die bunten Bilder wieder vergesse. Denn wenn man auch nur etwas will, das man nicht kann, dann findet man aus der Unruhe nicht wieder heraus. Und ein Bauer mit Unruhe in sich, so wie sie jetzt drüben auf dem Festland alle sitzen, und im Winter noch nicht mal zur Ruhe kommen – nein, das ist kein rechter Bauer mehr!«
Hinrich Peters schwieg, ganz erschöpft von der langen Rede, die er gehalten hatte. Aber es hatten ihm alle andern auch zugehört, und Meinert Claasen hatte mit dem Kopf genickt, und auch Lene Volquart Claasen hatte ihr Strickzeug, das sie schon vornehmen wollte, nicht auseinandergerollt und hatte ihren Bruder angesehen: »So meine ich's auch!« Holm-Peters aber sagte nun mit Würde:
»Es hat doch wohl keine Art, Hinrich, wenn der Sohn dem Vater das Wort aus dem Munde nimmt. Aber du hast es richtig gesagt, was ich auch meine. Und solange der Damm nur erst im Bau ist und noch nicht fertig, und noch eine Sturmflut kommen kann, die ihn wieder wegnimmt, so lange dürfen wir wohl noch hoffen – dürfen auch wohl –« und er sah Pastor Eschels finster in die Augen – »dürfen auch wohl – darum beten!«
Etwas hastig reichte Meinert Claasen dem Pastor seinen Tabakskasten, und Eschels bediente sich umständlich, aber er fühlte, daß er sich dieser Anmahnung nicht entziehen dürfte und antwortete nach einer Weile langsam:
»Ich kann nicht gegen meinen eigenen Glauben beten. Ich glaube aber, daß der Damm kommen wird. Als ich vor elf Jahren zum erstenmal davon in der Zeitung las, sah ich schon, wie er durchs Watt wanderte und wie die großen Eisenbahnzüge darauf entlangfahren werden. Ich meine nun, ihr müßtet euch bereiten, der neuen Zukunft zu begegnen –«
»Intensiver wirtschaften, meinst du«, warf Meinert Claasen ein und drehte dann geschickt das Gespräch vom Damm hinweg. »Da werden wir wohl bald amerikanisch werden müssen, nur daß wir nicht so viel Land haben wie die da drüben –« und brachte die Unterhaltung nun auf Verwandte, die drüben lebten, und machte seinen Spaß dazu, daß auch in Deutschland nun schon die Kühe elektrisch gemolken würden. Worauf dann die Frauen alle auf einmal anfingen zu schnattern und ihre Handarbeiten herauszogen – und jedermann sich bemühte, des Pastors Antwort zu vergessen. – –
Als Gondelina mit ihrem Vater spät am Abend heimging, war er schweigsam, bis sie endlich seinen Arm nahm und ihre Finger leise in die seinen schob.
»Laß uns lieber freiwillig von hinnen gehen, Vater, ehe wir hinausgeworfen werden.«
Sie glaubte, daß er ihres Mitfühlens tröstlich bedürfe, er aber antwortete wohlgemut:
»Davon ist keine Rede, Gondelina, Kind. Laß mich sie nur noch ein wenig rütteln, dann werden sie doch endlich aufwachen. Der Damm kommt. Ich sehe ihn.«
Gondelina verzog das Gesicht, als hätte sie Zahnschmerzen.
»So werde ich für mein Teil einige Wochen nach List gehen, um dort zu malen, Herr Don Quichotte von der Mancha!«