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57

Den ganzen Sommer über hatte das Arbeitsfieber drunten am Dammbau nicht einmal abgenommen. Ja, es schien fast, als ob die ersten Herbstnebel, die unerwartet früh einfielen, den Eifer noch höher trieben bei allen ohne Ausnahme: bei den Herren, den mittleren Beamten, den Arbeitern und Peter Eschels, dem »Dammbaupastor«. Die ehedem in Süddeutschland verlebten Jahrzehnte hatten den unverfälschten Morsumer in Eschels doch ein wenig abgewandelt: er liebte seitdem den kleinen Rausch. Wie er einst sich nicht nüchtern und vernunftgemäß verheiratet, sondern durch sein junges Blut verführt, verliebt hatte; wie er dann später einen edlen Wein zu pflegen und zu genießen verstand; wie er auch heute noch das Lachen der Mimi und der Mitzi hervorzulocken liebte – so gab er sich nun, da alles andere ihm irgendwie verdorben war, dem Rausch dieser fieberhaften Arbeitswochen hin, ließ sich davon mitbegeistern, ließ ihn in sich mitschwingen und wollte vor sich selbst nicht wahrhaben, daß er sich nur als Zuschauer und still beobachtend beiseite halten müsse –

Er war auch wieder draußen am Arbeitsplatz an diesem Tage, da ein Wort durch die Reihen und Gruppen lief; ein Wort, das überall freudigste Teilnahme erregte; das die Arbeiter veranlaßte, ihre Schaufeln und Hacken, ihre Sägen, Hämmer und sonstigen Werkzeuge einen Augenblick ruhen zu lassen; eine Botschaft, die Hannes Scholz dazu trieb, im Galopp zum Büro zu laufen, um sie auch dort ins Fenster hineinzurufen – nun tönte das Wort auch an Eschels Ohr:

»Die Spundwand ist geschlossen!«

Nun begriff er die Botschaft ganz:

»Die Spundwand ist geschlossen!«

Die Spundwand geschlossen! Die Verbindung hergestellt zwischen Insel und Festland! Wahrhaftig, nicht wie vorm Jahr war die Pfahlwand ins Watt hinausgewandert – gelaufen war sie, gehüpft, gesprungen, mit einer Geschwindigkeit von fünfzig Metern an jedem Tage und vielleicht sogar noch etwas mehr, so schnell konnte Peter Boy Eschels das gar nicht ausrechnen. Die Spundwand geschlossen!

»So will ich der erste sein, der nach dem Festland hinübergeht!« rief Eschels aus, und empfand in seinem Eifer nicht das Schweigen, das seinen Worten folgte. Doch als er nun ans Watt hinunterging, lief sein eigen Wort neben ihm her durch die Gruppen der Arbeiter, und als er den Fuß auf den untersten Balken setzte, stand da die Sylter Kolonne, und eine Stimme sagte hinter ihm drein – spöttisch salbungsvoll:

»So geh mit Gott!«

Er wandte sich nicht. Er tat, als hätte er's nicht gehört. Er wußte, daß die Spundwand nicht geworden wäre, wenn er selbst nicht den Damm gewollt hätte, und er war sich seines guten Willens zu ehrlich bewußt, als daß er seinen ersten Impuls nun hätte verleugnen mögen. Aber die unbefangene Freude war ihm verdorben, und danach erwies sich sein Unternehmen doch weit beschwerlicher, als er sich vorgestellt hatte.

Es waren freilich zwischen den Gleisen der kleinen Transportbahn Bretter für Fußgänger gelegt, doch nur als Notbehelf, denn selten ging hier ein Mensch. Wer hier draußen arbeiten mußte, wurde mit dem kleinen Zug hinausgenommen, und andere Leute hatten hier nichts zu suchen. So waren die Bretter vorläufig nur flüchtig befestigt, manche lagen ganz lose und wackelten sogar unter Eschels vorsichtigen Schritten. Als er die erste Weiche erreichte, traf er einen Arbeiterzug. Wenn es auf der eingleisigen Strecke geschehen wäre, hätte der Zug halten müssen, um ihn nicht zu überfahren, und Eschels hätte aufsteigen und mit zurückfahren müssen. Nun aber fuhr der kleine Zug eifrig pustend an ihm vorbei, und die Männer darin lachten und winkten ihm mit lustigen, aber auch spottenden Zurufen.

Es war hoher Vormittag gewesen, als er die Spundwand betrat. Mochte sein, daß diese Leute hier zur Mittagsschicht wechselten. Er mußte sich sputen, die zweite Weiche zu erreichen, ehe der ausfahrende Zug ihn von rückwärts überholte. Doch der Vorsatz, sich zu eilen, war leichter gefaßt, als seine Ausführung sich im folgenden erwies. Es war nicht ungefährlich, hier oben entlangzuturnen. Ein falscher Tritt, ein Stolpern und Fallen, und er lag unten auf Steinschotter oder auf weichem Schlick, je nachdem. Viel Wasser gab's nicht bei diesem Ostwind. Noch fiel die Ebbe und doch lag das Watt weit hinaus trocken, nur die Ströme führten noch Wasser.

Eschels kam nach dem fast leeren Landtief bald ans Westerley, das viel weniger Not gemacht hatte, als Bremer vorher fürchten mußte. Es hatte sich doch die niedrige Lage der Dracht als außerordentlich günstig erwiesen. Der Strom, der von Süden kam, staute sich nicht an dieser Sandbank, wie er es vor Barthels Kuhfenne tat, sondern floß darüber hinweg nach Norden ab, was ein gleichmäßigeres Arbeiten ermöglichte. Bremer hatte das Westerley gleich zuschlagen können, während er dem alten Sylter Ley und dem Holländer Loch vorläufig noch durch Wehre mehr Bewegungsfreiheit gönnen mußte. Eschels wunderte sich, daß immer noch kein Arbeiterzug wieder hinter ihm dreinkam. Er stolperte so weiter von einer der weit auseinanderliegenden Weichen zur andern, konnte nicht, wie er sonst gern tat, die spielenden Färbungen von Luft und Wasser beobachten, sondern mußte nur angespannt auf die wackligen Bretter unter seinen Füßen achten.

Aus größerer Entfernung sah er dann, daß beim Wehr am alten Sylter Ley doch eine Menge Arbeiter beschäftigt waren. Ehe er aber nahe genug herangekommen, um sie zu begrüßen, rief ein Gong von der Wohnschute her sie zum Essen. Da wurde ihm klar, daß nur diese jetzt noch weiter hier draußen angesetzt wurden, und daß also kein Zug heute mehr nach der Insel zurückgehen würde. Auch hörte nun das Gleis ganz auf, nur die wackligen Bretter liefen noch über die Spundwand – liefen auch über das kleine Wehr des alten Sylter Ley, und er stieg vorsichtig darüber hinweg, obgleich ihn bei dem nun schon steigenden Wasserstrom, etwa anderthalb Meter unter seinen Füßen, ein unbehagliches Schwindelgefühl überkam. Noch einmal drängte sich ihm der Gedanke an Umkehr auf, aber wieder klang der boshafte Zuruf ihm im Ohr: »So geh mit Gott!« und er konnte sich nicht dazu überwinden. Er mochte aber nicht darüber nachdenken, wer der Rufer gewesen war – vielleicht einer seiner eigenen Neffen, vielleicht aber auch ein anderer, der nur die bequeme Sylter Sprache genutzt hatte, ihn unauffällig und spöttisch zu duzen.

Als Eschels endlich das Holländer Loch erreicht hatte, mußte er sich erst eine Weile vorsichtig auf die Spundwand niedersetzen und die Beine über das hier schon hochziehende Wasser baumeln lassen, ehe er sich entschließen konnte, das Wehr zu übersteigen, das hier doch gut und gern seine 150 Meter Breite zeigte. Er saß da, baumelte gedankenlos mit den Beinen, fühlte sich müde und hungrig, denn auch daheim im Pfarrhause war nun die Essenszeit gekommen – Gondelina würde auf ihn warten – dann ohne ihn sich mit der Mimi und der Mitzi zu Tische setzen. Eschels grub in allen Taschen seiner alten Joppe, fand auch glücklich noch ein kümmerliches Stückchen Schokolade. Merkte dabei aber auch, daß er keinen Pfennig Geld in der Tasche hatte. »Gut, daß Bremer drüben ist, der muß mich über Nacht beherbergen und mir das Geld zur Rückreise leihen«, dachte er und schaute blinzelnd übers braune Watt hin, durch das nun die bläulichen Schlangen der steigenden Flut krochen. Dann stand er ächzend auf und überstieg das Wehr. Als er drüben war, zitterten ihm die Knie und seine Stirn war feucht vor Anstrengung.

Und hier war's, wo ihm endlich einfiel, daß er Jens Simonsen gestern versprochen hatte, Erkel heute nachmittag zu besuchen! Vor etwa vier Wochen hatte Lehrer Abrumeit sich nun wirklich mit Metta Holm-Peters öffentlich verlobt; sie hatte nicht länger mehr warten wollen. Seitdem war es mit Erkel schnell schlimmer geworden, und jetzt schien nach Ansicht des Westerländer Arztes, den sie nun doch noch geholt hatten, das Ende nahe zu sein. Gondelina war öfter noch bei ihr gewesen, und gestern hatte Jens Simonsen ihn auf dem Kirchhof angesprochen: es wäre wohl an der Zeit, sich nach einer Grabstelle umzusehen, und ob der Pastor wohl noch einmal zu ihr kommen möchte?

Pastor Eschels blieb stehen und schaute zurück. Wäre ihm dies doch vor dem langen Wehr eingefallen! Er fühlte, daß er nun einfach nicht mehr die körperliche Kraft zur Umkehr hatte – das war ihm leid, das war ihm sehr leid. Und er trottete bedrückt weiter, bis er vorm Osterley noch auf die ersten Gruppen der jenseitigen Arbeiter stieß, die ihn nicht kannten, aber ihn lachend mit lustigen Zurufen als den ersten Insulaner grüßten.

Auf dem grünen Vorland traf er Heinrich Bremer, der konnte eine kleine eifersüchtige Regung im Augenblick nicht ganz unterdrücken.

»Nun, haben Sie als Erster die Blockade gebrochen? Ich stand im Begriff, es meinerseits zu tun.«

Doch als er sah, wie erschöpft Pastor Eschels war, nahm er sich seiner tatkräftig an, brachte ihn zu Bahrenfeld, richtete ihm seine eigene Kammer für die Nacht ein und lieh ihm Geld für die Rückreise über Hoyerschleuse-Munkmarsch, ehe er selbst sich auf den umgekehrten Weg über die Spundwand machte. Drüben aber nahm er sich dann Hannes Scholz vor und gab ihm den Auftrag, in Zukunft etwas mehr darauf zu achten, daß der Dammbaupastor nicht allzuviel auf den Arbeitsplätzen herumstände. Und da Hannes-Hannes sich darüber ärgerte, ließ er seinen Ärger an Magge Sörensen aus – und so kam zwischen ihm und dem Schreiber die Sache auch zur Verhandlung, und der allgemeine Tidenhub lief sich dann wieder im Dorfe aus.

Als aber Pastor Eschels am Abend des nächsten Tages glücklich heimkehrte, empfing ihn Gondelina mit der Nachricht, daß Erkel Simonsen in aller Morgenfrühe sanft gestorben wäre, nachdem sie sich die Nacht über noch sehr gequält hatte.


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