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75

Heinrich Bremer wurde ungeduldig. Freilich hatte sein Beruf ihn zu nüchterner, etwas starrer Sachlichkeit erzogen. Für romantische Überschwänglichkeiten oder gar lyrische Gefühle blieb darin wenig Raum; wer einen Damm für die Eisenbahn baut, muß jederzeit bereit sein, den Wahrheitsbeweis für etwelche Hypothesen anzutreten. Aber wenn er auch mathematisch zu denken dadurch erzogen wurde, so hatte er doch kein Fischblut in den Adern, und daß er seine Glücks- und Leidenschaften um der Arbeit willen vier Jahre in eiserner Zucht hatte halten müssen, das hatte seine Empfindungsfähigkeit nicht gerade abgekühlt. Am ersten Abend, als er Elisabeth Eickemeyer im Wohnzimmer des Pfarrhauses unerwartet gegenübergestanden hatte, da war ihm alle Unruhe in einer starken Woge der Dankbarkeit geschwunden. Doch bald war die Unruhe von neuem erwacht und nicht geringer geworden dadurch, daß er nun oft mit Elisabeth zusammen, aber selten nur und immer nur auf kurze Augenblicke mit ihr allein sein konnte. Nicht, daß ihnen irgend jemand im Pfarrhause etwa ein Alleinsein mißgönnt hätte – aber es lag eben in dem ganzen Betriebe, daß es nicht dazu kam. Und das Wetter lockte nicht zum Spazierengehen. Wenn auch der Oktobersturm der schlimmste geblieben bis ins neue Jahr hinein, so war seitdem die Luft doch unerfreulich naßkalt, und immer ging doch so viel Wind, daß man im Wandern dagegen ankämpfen und sich seine Unterhaltung mit erhobener Stimme zurufen mußte, zartere Gefühle auf diese Art mitzuteilen aber mußte unbedingt einen leisen Anflug von Lächerlichkeit gewinnen, und dagegen war Heinrich Bremer empfindlich – je heißer er empfand, um so empfindlicher.

Die großen Bagger in der Nösseschlucht wurden abgebaut und aufs Festland zurückgeschickt. Da legte Heinrich Bremer die Belegschaft der Wohnschute in die Baracke, die durch den Abschub der Baggerleute frei wurde, und ließ die Wohnschute nach Husum abschleppen. Er räumte auf; er vereinfachte den Betrieb so gut er konnte; er konzentrierte alles auf das unbedingt Notwendige. So faßte er alle Kräfte am straffsten zusammen, um den letzten Beschluß seiner Arbeit aufs äußerste zu beschleunigen.

Endlich fiel Anfang Februar doch noch ein leichter Frost ein. An diesem Sonntag kam gegen Mittag einmal wieder die Sonne heraus, schien blank und warm. Da ging Heinrich Bremer zum Pfarrhaus hinauf, und als er in die Gartentür trat, öffnete Elisabeth gerade das Fenster des Eßzimmers. Er winkte ihr.

»Komm mit, es ist schön heute.«

»Wohin?«

Welch dumme Frage! »Auf den Damm natürlich.«

»Wird nicht gearbeitet?«

»Heut nachmittag nicht.«

Sie verschwand im Innern des Hauses, kam schnell zurück und zu ihm heraus. Sie trug einen festen Mantel und ein enges Käppchen, das ihre Haare deckte. So hatte sie beinah etwas Bubenhaftes, aber das war ihm ganz lieb, wie zwei gute Kameraden liefen sie nördlich an Klein-Morsum vorbei, das noch im Mittagsschlaf lag, und durch die Heide zum Dammkopf hinunter. Elisabeth war nicht oft auf dem Baugelände gewesen, sie hätte gern dies und jenes genauer betrachtet, doch Bremer zog sie mit sich fort.

»Das kannst du an jedem andern Tage auch besehen, heut sind wir nun einmal auf dem Damm allein.«

Der Himmel strahlte in kräftigem Blau. Das Watt stand hoch, flimmerte und glitzerte, wie aus der Spielzeugschachtel entnommen standen im Süden die Kirchen von Föhr. Ein paar Gruppen müßiger Arbeiter bummelten in Festtagslaune auf dem schmalen Streifen Sandstrand am nördlichen Dammfuß. Da sie aber den Herrn Baumeister kommen sahen, verdrückten sie sich so allmählich. Sie alle empfanden nicht eben große Furcht, weder vor Gott noch dem Teufel, aber der Herr Baumeister hatte auch am Sonntag unangenehm scharfe Augen, weshalb sollte man ohne dringende Notwendigkeit sich seinen Blicken darbieten?

»Dort hinten lag die Wohnschute«, sagte Heinrich Bremer unwillkürlich, im Genuß dieses Alleinseins.

Elisabeth nickte nur. Sie war vollauf beschäftigt, von einer der Bohlen, die hier schon für die Vollbahn gelegt waren, zur andern zu springen. Die Entfernungen waren nicht groß, aber so unregelmäßig, daß sie gespannt aufpassen mußte, um sie nicht zu verfehlen.

»Nimm dich in acht!« rief er warnend.

Sie blieb stehen und lachte. Die Ermahnung war überflüssig. Wenn sie hier fehltrat, würde sie sich den Fuß brechen, das sah sie selbst – der grobe, lose Schotter zwischen den Bohlen war abscheulich – es kam eben darauf an, nicht fehlzutreten!

»Warm ist es hier draußen!« Sie zog den Mantel aus und warf ihn ihm zu: »Fang auf!« Dann band sie das Mützchen ab, und ihre Haare flogen im leichten Landwind.

Sie kam zu ihm zurück und hängte sich zutraulich an seinen Arm.

»Wenn dies hier Hochwasser ist, wie du sagst, dann finde ich nicht, daß dein berühmter Damm gar so ein großes Werk ist, Heinrich. Das ist doch alles Land ringsum. Was war's denn weiter – ein bißchen Sandschippen, das lernt man ja wohl schon am Westerländer Badestrand.«

Er sah sie mit komischem Entsetzen an.

»So werden wohl die meisten Badegäste urteilen, die später hier entlangfahren!«

»Sicherlich!« antwortete sie mutwillig, faßte gleichzeitig aber seine Hand: »Gut, daß ich meines Vaters Tochter bin und also sein Werk kenne und weiß, was hierin steckt, hm?«

»Es ist mein Werk«, antwortete Heinrich Bremer eifersüchtig.

»So sprachst du auch in Hamburg – ich glaube, so spricht jeder der tausend Männer, die daran mitarbeiteten. Sieh die Möwen!«

»Siehst du die mit den schwarzen Flügeldecken?« fragte er eifrig, »die kommen nur zu uns, wenn ruhiges Frostwetter zu erwarten ist. Das können wir noch brauchen. Es arbeitet sich leichter im Sonnenschein als immer nur in Regen und Nebelnässe –« und er blieb stehen und schaute den schönen Vögeln nach, die von Nord nach Süd in geringer Entfernung vor ihnen über den Damm strichen.

»Können wir uns hier nicht an die Rasenböschung setzen?«

»Komm noch weiter. Dort hinten erst ist mein Reich zu Ende und Bahrenfelds fängt an, einmal mußt du doch die Strecke mit mir abgehen.«

Langsam nur kamen sie voran, denn Elisabeths leichte Füße waren für den groben Schotter nicht geschaffen. Die scharfen Kanten der eckigen Steine zerschnitten ihr das Schuhleder, sie stolperte und rutschte. Als sie »dort hinten« erreicht hatten, warf Heinrich Bremer ihren Mantel auf die Rasenböschung, und Elisabeth streckte sich müde darauf, lang auf den Rücken und deckte ihr Mützchen über Stirn und Augen.

»Besonders bequem ist solch Dammspaziergang eigentlich nicht«, murmelte sie schläfrig; »du wirst mir ein Paar Schuhsohlen bezahlen müssen –«

Er antwortete nicht. Er sah auf sie hinunter, wie sie dalag, sah, wie die lockigen Haare sich unter dem Mützchen hervordrängten als ein Heiligenschein, obgleich sie dunkel waren, sah die schmalen, bräunlichen Wangen, den blassen Mund, das zart geformte Kinn – sah aber auch die schlanken Linien ihres geschmeidigen Körpers, die schöne Hand, die so unbekümmert frei ihm in Greifnähe sich bot, sah ihre gelenkigen Füße, davon sie den rechten aufgestützt hatte, um einen Halt an der glatten Böschung zu gewinnen, und den andern frei hängen ließ – es war aber ein Schweigen um sie, als ob sie schliefe. Und so saß er still in dieser hellen weiten Einsamkeit und sah sie nur an.

Nach einer Weile bewegten sich ihre Lippen, als ob sie lächelte. »Schläfst du auch?« fragte sie halblaut, und da auch hierauf keine Antwort kam, schob sie das Mützchen zur Seite und blinzelte darunter hervor – begegnete seinem Blick –

Ihre Wangen röteten sich ein wenig, und ihre grauen Augen unter den dunklen Wimpern verschleierten sich – »doch nein«, dachte sie heute, »ich will mir nicht zum zweitenmal mein Leben verderben« – und sie streckte die Hand gegen ihn aus.

»Welche Unendlichkeit um uns her«, sagte sie leise, »mir ist, als könnte man daran sterben, wäre man hier ganz allein!«

»Ich bin's«, antwortete er, faßte ihre Hand mit heftigem Griff und beugte sich über sie, »oder etwa nicht?«

Seine Augen waren so dicht über den ihren, aber sie hielt ihnen stand –

»Nicht mehr –«

– – Das Wasser fiel, und sie merkten es nicht. Es lief zum Watt hinaus, als wäre das Weltmeer leer und söge alles Leben in sich ein. Aus dem blanken Wasserspiegel hob sich wieder das braune Land, das darunter verborgen gewesen, und an den letzten Rinnsalen saßen Möwen und Tringen. Das kräftige Blau des Himmels verdämmerte leise, endlich blitzten, kaum erkennbar noch, die ersten Sterne auf. Aber die lange nordische Dämmerung hielt immer noch eine Täuschung von Tageslicht fest.

Heinrich Bremer schrak auf.

»Ist's möglich – der Hörnumer Leuchtturm funkt schon?« Er sprang auf seine Füße. »Wahrhaftig, auch Kampen, das wird ein böser Heimweg für dich werden –«

»Der Westhimmel ist noch ganz hell.«

»Nicht lange mehr – ich werde dich schieben müssen. Vorhin ärgerte ich mich über die Hunde, die Steinhofs Leute da wohl stehengelassen haben. Nun ist's vielleicht ganz gut, daß du sie benutzen kannst. Steig auf!« Und als sie auf dem flachen Wagen Platz genommen hatte, lachte er: »Wäre ich eine poetische Natur, würde ich jetzt etwas von ›süßer Last‹ reden, so aber sage ich: das wird ein schlimmes Stück Arbeit!«

Der kleine Hund setzte sich mit melancholischem Quietschen in Bewegung, und Heinrich Bremer tat, als müßte er sich rein zu Tode schinden. In Wahrheit erwies sich die Anstrengung nicht als so groß, aber er fand auch nicht nötig, die Fahrt besonders zu beschleunigen. Er hatte seine Hände rechts und links neben Elisabeth aufgestemmt, sie war ihm so nahe, daß er sie hätte küssen können, und doch sah er gegen die helle Luft nichts mehr von ihr, als den dunklen Umriß ihres Kopfes. Sie aber sah desto deutlicher jeden einzelnen Zug seinen Gesichtes, auf dem noch der Schein des Westhimmels lag.

»Du hast dich sehr verändert«, sagte sie nach einer Weile schweigender Fahrt nachdenklich.

»Ganz einfach: ich bin zehn Jahre älter geworden, seit wir im Taunus voneinander Abschied nahmen.«

»Das bin ich auch. Du aber bist nicht nur älter, du bist zeitlos geworden, wie ein Mensch wird, wenn er sein Werk geschaffen, sein Wort in diesem Leben gesprochen hat.«

»Ich hoffe, noch mehr zu schaffen als diesen Damm.«

Der letzte Schimmer des Abendlichts verging nun auch allmählich, und mit leisem Raunen kam die neue Flutwelle aus weiter Ferne. Da legte sie ihm die Hand auf die Schulter.

»Sitzt du nicht gut? Bist du müde?« fragte er besorgt.

»Das ist es nicht. Aber ich sehe dich nicht mehr. Wenn dies Quietschen nicht wäre und das Knirschen deiner Schritte, könnte ich denken, hier draußen allein zu sein.«

»Für mein Gefühl ist der Damm immer voller Arbeiter, und hier nördlich von uns liegt immer noch die Wohnschute.«

»Ich weiß von beidem nichts, und diese Einsamkeit hier im Watt ist größer als ich je eine erlebte. Gewiß, nach der einen und der andern Seite hin führt der Damm zu Menschen, aber hier mitteninne ist man ihnen doch sehr fern. Man sieht meilenweit und kann doch keinen Menschen erreichen – man könnte hier sterben –«

»Hier starb Martin an dem Tage, als ich dich in Hamburg besuchte. Am andern Vormittag ging ich über die Spundwand – hier unter uns läuft sie, unter diesen Schienen – und das Wasser stand hoch. Da habe ich mich einmal umgeschaut, um zu sehen, ob du etwa hinter mir gingest –«

»So war es auch«, antwortete sie ernsthaft. »Ich stand im Reisebüro und fragte, wie man nach Sylt hinüberkommen könnte – aber ich dachte nicht an Martin dabei –«

Und wieder schwiegen sie lange Zeit, und sie lauschte auf das melancholische Quietschen und auf das Knirschen seiner Schritte im groben Steinschotter, und langsam fühlte sie, daß der Abend kalt wurde.

»Wird es dir nicht schwer fallen, deinen Beruf aufzugeben?«

Sie schrak zusammen, so fremd klang hier eine menschliche Stimme.

»Dann wäre ich nicht nach Morsum gekommen –« und weil sie fühlte, daß ihre Antwort ihm nicht genug bedeutete, fing sie an, sich näher zu erklären und sagte ihm, was sie in hellem Tageslicht vielleicht niemals gegen ihn ausgesprochen hätte:

»Ich bin anders als du. Mein Beruf war mir nie das Leben selbst, immer nur Lebensersatz. Vielleicht war es dies Wissen um mich selbst, das mir ein Übergewicht gab über so manche andere, daß mir die Kunst wahrhaft Können wurde, weil ich mehr arbeitete als andere. Nicht aus Ehrgeiz, sondern aus Hochmut – weil ich nicht als eine von den vielen nur gewertet sein wollte. Denn ich fühlte mich immer als deine Frau, ob du auch nichts von mir wußtest. Ehrgeiz – ach nein! Als ich zum erstenmal mein Bild die erste Seite einer illustrierten Zeitschrift füllen sah, fühlte ich nichts als eine große Enttäuschung, denn ich hatte eifrig auf dies Ziel hingestrebt, es gilt für unsereins so viel etwa, wie früher der passende Orden meinem Vater galt. ›Ist dies alles?‹ dachte ich, aber ich hütete mich wohl, diese Gedanken dort draußen in der großen Welt laut werden zu lassen. So weiß ich auch nicht, wie andere Frauen dies empfinden.«

Sie waren nun am Westerley, und die Flut brandete schon wieder mit plätschernden kleinen Wellen gegen einzelne vorgetriebene Buhnenpfähle –

»Mein Beruf –« wiederholte Elisabeth langsam – »mein Beruf, das ist, deine Frau zu sein und Mutter deiner Kinder. Dann will ich nichts mit Arbeit, nichts mit Kunst mehr zu tun haben. Ich will meine Kinder in der Stille empfangen und in der Stille aufziehen, bis sie durch die Schule in eine größere Welt eintreten müssen. Mutter ist die große Stille, die allein fruchtbar ist. Ist zeitlose Zeit – Ewigkeit –«


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