Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der Tag nach dem großen Sturm war der letzte Sommertag des Jahres. Unmittelbar danach, am ersten Septembertage, rückte der Herbst ein und schlug Dauerquartier auf. Grau und tot lag die Landschaft unter stetem drisselndem Regen oder kaltem Seenebel. Nirgend ein Ausblick. Nicht einmal wieder ein klarer Sonnenstrahl.
Der September verging. Der Oktober kam. Das Wetter wurde immer schlechter. Eine durchdringend nasse Kälte füllte Bremers Baracke. Der kalte Regen lief gleichmäßig und unermüdlich vom Himmel herab. Eng war der Horizont, nur eine Schattenlinie zwischen dem Grau der Luft und dem Grau des ewig unruhigen Wassers. Darin standen die Bagger, die Dampfer und Schuten wie verwischte Tintenflecke; ihr Rauch verzerrte ihre Umrisse. Dauernd hohe Wasserstände hinderten die Aufräumungsarbeiten. Denn das war, was Heinrich Bremer noch zu tun übrigblieb: Aufräumen, Bergen, Retten, was noch aus dem allgemeinen Trümmerfeld zu retten war.
Dabei litt er an unaufhörlichen starken Kopfschmerzen und durfte seine Leute doch nicht merken lassen, wie ihm zumute war. Max Milian Meiners kam zu ihm:
»Ehrlich, Herr Baumeister, halten Sie hiernach den Dammbau überhaupt noch für möglich?«
Und Heinrich Bremer antwortete – unehrlich, gegen die eigene Überzeugung:
»Jedes Ding ist unmöglich so lange, bis es endlich möglich wird. Ich entsinne mich noch aus meiner Kinderzeit, daß von Zeppelin nicht anders als dem ›verrückten Grafen‹ gesprochen wurde.«
»Sie meinen also, wir brauchten den Spaten noch nicht im Damm stecken zu lassen?«
Bremer sah ihn fragend an, er wußte nicht recht, was der andere meinte. Meiners drehte seine Mütze rund und rund, ihm fiel immer schwer, sich erklären zu müssen.
»Früher hatte man hier das Spatenrecht«, sagte er. »Jeder war für seinen Deich verantwortlich. Wer ihn nicht mehr versorgen konnte, der ließ den Spaten darin stecken. Wer den Spaten herauszog, der übernahm den Deich. Aber dem gehörte dann auch das Land. Ohne Land kein Deich. Ohne Deich kein Land.«
»Und wer sollte hier unsere Erbschaft antreten, wenn wir den Spaten stecken ließen?«
»Wir würden weiterhin über Hoyerschleuse fahren.«
»Also Dänemark – nein, Meiners, wir wollen den Spaten noch nicht steckenlassen. Ein Mensch, der sich selbst aufgibt, ist wert, daß er zugrunde geht – ein Volk nicht minder –«
– und lange, nachdem Meiners ihn wieder verlassen hatte, saß Heinrich Bremer noch in der kalten Dunkelheit und dachte über die eigenen Worte nach – ging Deutschland zugrunde? Denn es stand nun so um das besetzte Ruhrgebiet, daß sich der passive Widerstand, den die Bevölkerung gegen die Besetzung unternommen und der von der deutschen Regierung, wenn auch nicht befohlen, so doch gutgeheißen war, nicht lange mehr würde behaupten können. Viel war dadurch vernichtet, Werte und Existenzen – nichts gewonnen. –
Die Aufräumungsarbeiten nach der großen Flut vom 30. August 1923 führten Heinrich Bremer bis nach Dänemark hinauf. Da die große Welle und mit ihr der stärkste Strom des Tages aus Südwest gekommen war, hatte sie viel Gerät, viel treibendes Gut nach Norden mitgerissen, und ohne das dankenswerte Entgegenkommen der dänischen Behörden wären die Verluste noch erheblich größer geworden, als sie ohnehin waren. Bei Emmerleff war das ganze Strandgut, das sich als deutsches Eigentum feststellen ließ, gestapelt, und Heinrich Bremer wurde hingeschickt, den Abtransport nach Süden zu leiten. Er fuhr mit der Bahn dorthin und verständigte sich leicht mit den Beamten, die zum großen Teil der deutschen Sprache mächtig waren. Als er in Tondern, auf einen Beamten des Zollamtes wartend, müßig durch die Straßen schlenderte, fiel ihm eine dänische Buchhandlung ins Auge, und er trat näher, die Auslage zu betrachten –
– ein bekanntes Gesicht schaute ihn an – ein Frauengesicht – eine Frauengestalt war da abgebildet, auf der ersten Seite einer illustrierten dänischen Zeitschrift. Sie saß, ein wenig vornübergeneigt, eine Hand auf der Armlehne des Sessels, die andere offen im Schoße liegend, als wollte sie sie heben und dem Beschauer grüßend entgegenstrecken. Das Gesicht leicht verkürzt von oben gesehen, in den Augen einen lächelnd fragenden Blick. In der unteren rechten Ecke des Bildes war der Stempel eines Kopenhagener Photographen, unter dem Bilde stand »Elisabeth Eickemeyer« – nichts weiter, als wäre eine Erklärung der Persönlichkeit hier nicht vonnöten.
»Verzeihen Sie, daß ich mich versäumte«, sagte die Stimme des Zollbeamten neben Bremer, »nun soll's aber auch flott vorangehen – wenn Sie einsteigen möchten« – und schob ihn in das kleine Auto, das rasselnd hinter ihm hielt – »ein Schweinewetter wahrhaftig – Zigarette gefällig?«